Kitabı oku: «Satzfetzen»
Isabel Morf
Satzfetzen
Kriminalroman
Zum Buch
ZÜRCHER AFFÄREN Die Kantonsrätin Angela Legler, Vertreterin der Mitte-Partei CVP, ist eine umstrittene Politikerin. Bei den Linken macht sie sich beliebt, indem sie ein Fahrradwegkonzept für den Kanton ausarbeiten lässt. Doch sie lässt sich von einem bürgerlichen Gewerbevertreter bestechen. Durch eine Verwechslung von zwei Mappen landen die 7.000 Franken Bestechungsgeld aber bei Lina Kováts, die als Protokollführerin für den Kantonsrat arbeitet. Sie schließt das Geld in ihrer Pultschublade ein. Auf dem Heimweg wird ihr ihre Handtasche entrissen. Am nächsten Tag ist die Pultschublade aufgebrochen, das Geld ist weg. Lina sagt bei der Polizei aus, doch Angela Legler streitet alles ab. Am Tag darauf wird Angela Legler erstochen aufgefunden. Hat der Mord ein politisches Motiv? Oder ist es die Tat eines betrogenen Ehemannes? Schließlich hatte die verheiratete Kantonsrätin eine Affäre mit einem Mitarbeiter …
Isabel Morf wurde in Graubünden geboren und wuchs im Kanton Glarus und im Mittelland auf. Seit vielen Jahren lebt sie in Zürich, mit Ausnahme eines Jahres, das sie während ihres Studiums der Germanistik in Wien verbrachte, wo ihr Lieblingskaffeehaus das »Jelinek« war. Einige Jahre schrieb sie als freie Journalistin über Gesellschaftsthemen, unter anderem – und mit besonderem Interesse – Berichte über Gerichtsprozesse am Obergericht Zürich, was sich im Nachhinein als nützliche Weiterbildung erweist. Später arbeitete sie in Teilzeit als Parlamentsredaktorin für das eidgenössische Parlament in Bern. Das ließ ihr Zeit, sich allerhand Kriminelles auszudenken, das sie dann aber nicht in die Tat umsetzte, sondern lediglich niederschrieb. Heute lebt und schreibt sie in Zürich und an der Ostküste von Schottland. www.isabelmorf.ch
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Neuausgabe 2021
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Alfred Tschui / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3630-7
Samstag
Als Valerie Gut einen gebräunten Toast aus dem Toaster fischte, kam ihr plötzlich in den Sinn, was sie geträumt hatte. Merkwürdig, dachte sie irritiert, bestrich das Brot mit Butter und Orangenkonfitüre und hatte den Traum gleich wieder vergessen. Erst in zwei Wochen sollte sie sich wieder daran erinnern. Sie nahm einen Schluck Kaffee, schwarz und süß. Samstagmorgen und sie hatte frei. Ein seltener Luxus für sie, denn normalerweise stand sie samstags in ihrem Fahrradgeschäft FahrGut. Aber jetzt, im November, lief wenig im Laden.
»Willst du auch noch einen?« Sie hielt Beat, der ihr gegenübersaß, einen warmen Toast hin.
Auch Beat Streiff hatte heute frei. Das war ebenfalls nicht selbstverständlich für einen Polizisten, einen Kriminalbeamten im Kommissariat Ermittlung. Wenn ein Gewaltverbrechen geschah, wenn er an einem Fall arbeitete, konnte er sich am Wochenende oft nicht einfach gemütlich zurücklehnen, sondern musste am Ball bleiben.
»Klar, gern.« Er bestreute den Toast mit Zucker und Zimt, eine Vorliebe, die er von einem Besuch in Wien mit nach Hause gebracht hatte. Valeries Hund, der graue Pudelmischling Seppli, lag unter dem Tisch und schnupperte. Er wusste, dass er bei Tisch nichts abkriegte.
»Wollen wir nachher einen Bummel über den Kanzlei-Flohmarkt machen?«, schlug Beat vor.
Valerie kicherte. »Ja, unbedingt. Solange es ihn noch gibt. Falls du keine Angst hast, Diebesgut zu entdecken und amtlich tätig werden zu müssen.«
»Vielleicht stoße ich ja auf ein günstiges Fahrrad«, gab er belustigt zurück.
Seit zwei Wochen war der Kanzlei-Flohmarkt dauernd in den Schlagzeilen der Zürcher Lokalzeitungen. Anlass dafür war ein Vorstoß der CVP-Kantonsrätin Angela Legler. Sie wollte, dass der Flohmarkt geschlossen wurde, weil es immer wieder vorkam, dass dort Diebesgut verhökert wurde. Auf den Leserbriefseiten gingen die Wogen hoch. Die einen Schreiber stimmten ihr aus tiefstem Herzen zu: Gesindel triebe sich dort herum, Randständige, ein Pack, das nicht arbeitete, sondern die fürstliche Sozialhilfe mit dem Verkauf von wertlosem Müll oder geklauten Sachen aufbesserte. Die Empörung der anderen Seite war nicht geringer: Der Flohmarkt sei ein kleiner Freiraum im kapitalistischen Getriebe, eine Notwendigkeit für Leute, die in der Wirtschaftskrise unter die Räder geraten seien, dazu ein lebendiger Multikulti-Ort. Und es werde eben gerade verhindert, dass Dinge zu Müll würden, indem sie verkauft statt weggeworfen wurden.
Valerie hatte die Diskussion amüsiert verfolgt. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit wusste sie, dass Angela Legler höchstselbst vor vier Jahren auf dem Flohmarkt ein gestohlenes Rad erstanden hatte. Geklaut worden war es in Valeries Veloladen an der Schmiede Wiedikon. Es war für Legler, damals noch nicht Politikerin, eine sehr peinliche Geschichte gewesen.
Valerie hatte sich nicht wirklich daran erfreuen können, denn jene Zeit war überschattet gewesen von einem Mord, der in ihrem Geschäft geschehen war. Valerie dachte ungern daran zurück, an jenen langen Monat, in dem ihre Welt in Stücke zu gehen schien. Im Allgemeinen war sie ein optimistischer Mensch und meist voller Elan. Mit viel Arbeit und guten Ideen hatte sie das kleine Fahrradgeschäft ihres Vaters, das sie vor 15 Jahren übernommen hatte, zu einem Laden aufgebaut, der in der ganzen Stadt einen ausgezeichneten Ruf hatte. Als sie vor vier Jahren aus heiterem Himmel Drohbriefe erhalten hatte, als ein Kunde ermordet und ihre Schaufenster mit hässlichen Parolen verschmiert worden waren, hatte sie das tief verletzt und verunsichert. Aber jetzt war wieder alles im Lot. Seit drei Jahren arbeitete Priska Betschart bei ihr, eine junge, frische, engagierte Mechanikerin. Luís Zafar hatte seine Ausbildung abgeschlossen und war von Alban Tihic abgelöst worden. Immer noch kamen die jüdischen Kinder aus dem Quartier bei ihr vorbei, um den alten Veloanhänger auszuleihen, und sogar Adele Goldfarb, die jetzt 14 war und ins Gymnasium ging, schaute ab und zu herein. Auch sie hatte bei jenen Ereignissen eine Rolle gespielt. Nie mehr kommen würde Salome Zweifel, die alte Frau, die im selben Haus gewohnt und sich bemüht hatte, Valerie zu helfen. Sie war gestorben. Es tat Valerie nicht mehr weh, wenn es ihr in den Sinn kam. Das war nun einfach Vergangenheit.
Zur Gegenwart gehörte Beat Streiff. Er hatte damals in jenem Mordfall ermittelt, und so waren Valerie und er, die früher einmal eine kurze Affäre gehabt hatten, wieder in Kontakt gekommen. Nach der Aufklärung des Falls, an der Valerie insofern beteiligt gewesen war, als sie zuerst entscheidende Informationen aus Trotz zurückgehalten und sie dann endlich doch rausgerückt hatte, hatte Streiff sie zum Essen eingeladen, sich in Schale geworfen und ihr Blumen mitgebracht. Nachdem er sie ein paar Wochen mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit, selbstironischen Kommentaren und sparsam dosierten Anzüglichkeiten umworben hatte, hatte Valerie ihm nachgegeben. Seither waren sie ein Paar.
»Im Ernst«, fragte Beat, »wie kommt die Frau dazu, einen solch hirnrissigen Vorstoß zu machen? Du kennst sie doch. Was bezweckt sie bloß damit?«
Valerie kannte Angela Legler schon seit Jahren. Sie hatte sie als unverschämte Kundin im Laden gehabt und sie nach einer lautstarken Szene hinausgeschmissen. Seit einiger Zeit saßen sie sich regelmäßig an den Sitzungen der Arbeitsgruppe Kantonales Velowegkonzept, kurz AG KVK, gegenüber. Legler, Mitglied der Verkehrs- und Umweltkommission des Kantonsrates und selbst überzeugte Radfahrerin, hatte die AG KVK initiiert, um ein Radwegnetz für den ganzen Kanton Zürich auszuarbeiten. Neben Kantonsräten und Verwaltungsvertretern waren auch externe Experten in der Kommission. Unter anderem die Fahrradhändlerin Valerie Gut. Wie sie zu dieser Ehre gekommen war, war ihr nicht ganz klar. Ganz sicher war es nicht Leglers Vorschlag gewesen. Vermutlich hatte diese widerstrebend zugestimmt, weil ihr kein guter Vorwand eingefallen war, Valeries Mitwirkung zu verhindern, und weil sie keine schlafenden Hunde wecken wollte.
»Ich vermute, sie will sich einfach profilieren, sich in die Medien bringen«, meinte Valerie. »Sie ist ehrgeizig und der Typ, der polarisiert. Da sie in einer Mitte-Partei ist, muss sie Gegensteuer geben, auffallen. Aber sie macht es so, dass niemand schlau wird aus ihr und sie es sich am Schluss mit allen verdirbt. Mit ihrem Engagement für das Velowegkonzept kann sie bei den Grünen und den Linken punkten. Mit der Kampfansage an den Flohmi will sie bei den Rechten Stimmen holen. Unabhängig politisieren, nennt sie das. Aber ich glaube, unter dem Strich macht sie sich vor allem unbeliebt. Nur merkt sie das nicht, dafür ist sie viel zu sehr von sich selbst überzeugt.«
Valerie zuckte die Schultern und schob sich den Rest ihres Toasts in den Mund. Dann spekulierte sie: »Vielleicht will Angela mit der Schließung des Flohmarkts quasi ihren Sündenfall aus der Welt schaffen. Das wäre die psychologische Erklärung.«
»Das tönt eher biblisch«, meinte Beat.
»Würde auch passen«, gab Valerie zu. »Fritz Legler, ihr Mann, ist ja Pfarrer. Bisschen hardcore.«
»Hardcore?«, fragte Beat verständnislos.
»Na ja, ein Fundi. Evangelikal. Streng moralisch, aber auch schwärmerisch. Würde man auf den ersten Blick gar nicht denken. Er versucht ja, die Jungen zu gewinnen mit seinen Velogottesdiensten in freier Natur. Kleine Radtour aufs Land, dort Predigt, Gesänge und Gebete. Nachher Picknick. Aber die Predigten haben es in sich, hab ich gehört. Aufrufe zu Reue und Buße. Keine Ahnung, was Angela an dem findet.«
»Ist mir auch egal«, brummte Beat. Er hatte eine kleine geheime Privatfehde mit der Politikerin. Er nahm es ihr übel, aber das sagte er Valerie natürlich nicht, dass sie dazu beigetragen hatte, dass der Mutterschaftsurlaub für Kantonsangestellte verlängert worden war. Das bedeutete nämlich, dass er länger auf seine Mitarbeiterin Zita Elmer verzichten musste, die vor drei Monaten ein Baby bekommen hatte. Man hatte ihm zwar einen Ersatz angeboten, aber Streiff konnte mit dem übereifrigen, ungeschickten jungen Schnösel, Melchior Zwicky hieß er, nicht viel anfangen. Er vermisste die robuste, gescheite Elmer. Ob sie wirklich so gescheit war?, zweifelte Streiff manchmal schlecht gelaunt, wenn ihm die Arbeit wieder mal über den Kopf wuchs. Warum hatte sie sich dann ein Baby zulegen müssen? War doch gar nicht der Typ dafür. Na ja, vermutlich die Hormone. Er war froh, dass sich diese Frage bei Valerie und ihm nicht stellte; sie war 48, er bald 52.
Dafür stellte sich ihm ab und zu eine andere Frage. Seit vier Jahren waren Valerie und er jetzt zusammen, beide hatten sie ihre Wohnung behalten, mal waren sie bei ihm, mal bei ihr. Valerie schien mit der Situation zufrieden zu sein, sie hatte das Thema nie angeschnitten. Er auch nicht. Aber manchmal dachte er, ob es nicht vielleicht auch ganz schön wäre zusammenzuwohnen. Er hätte gern gewusst, wie sie darüber dachte. Aber er hatte sie bis jetzt nicht fragen mögen. Vielleicht fühlte sie sich dann eingeengt und das wollte er nicht. Oder erwartete sie im Gegenteil, dass er das Thema aufs Tapet brachte? Und wie würde man das dann bewerkstelligen? Würde er bei ihr einziehen? Sicher nicht. Nicht in die Wohnung, in der sie mit Lorenz Stucki, dem Quacksalber, wie er ihn bei sich nannte, zusammengelebt hatte. Oder würde sie zu ihm ziehen? Würden sie zusammen eine neue Wohnung suchen? In Zürich eine schöne und bezahlbare Wohnung zu finden, war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Beat schob den Gedanken wieder einmal beiseite.
»Komm«, sagte er stattdessen, »trink deinen Kaffee aus, dann können wir gehen. – Ja, du kommst auch mit«, wandte er sich an Seppli, der an Beats Tonfall erkannt hatte, dass der Tag nun in Schwung kam, und eilends unter dem Tisch hervorsprang. Sollte ihm ja nicht passieren, dass man ihn etwa vergaß.
Valerie band rasch ihre braunen Locken zusammen und steckte sie unordentlich am Hinterkopf fest. Sie war soweit ganz zufrieden mit ihrem Spiegelbild. In den letzten paar Jahren hatte sie drei Kilo zugenommen, aber das stand ihr gar nicht schlecht, fand sie. Sie mochte ihre braunen Augen, ihren wachen Blick. Manchmal schienen ihr ihre Gesichtszüge etwas zu weich zu sein, aber Beat hatte erklärt, bei ihrem Temperament schade es nichts, auch etwas Sanftes an sich zu haben. Sie schlüpfte in ihre moosgrüne Lederjacke und sagte: »Weißt du, ich möchte einen schönen, hohen Kerzenständer finden. Wäre doch gemütlich für lange Winterabende.«
»Und ich brauche eine neue Kaffeemaschine«, meinte er.
»Neu ist gut. Das ist doch gefährlich. Eines Tages wird dir so ein Secondhand-Ding einen tüchtigen elektrischen Schlag versetzen. Wenn du sie wenigstens nach dem Kauf zur Überprüfung zu einem Elektriker bringen würdest.« Sie begriff seine Vorliebe für Kaffeemaschinen, CD-Player und TV-Geräte vom Flohmarkt nicht.
Valerie und Beat schlenderten die Stauffacherstraße hinauf, vorbei am Volkshaus, und überquerten die Straße. Valerie fand es umständlich, Bus oder Tram zu nehmen, während Beat nicht gern Rad fuhr. Deshalb waren sie zusammen oft zu Fuß in der Stadt unterwegs, ein Arrangement, das auch der Hund schätzte. Eine ältere Frau kam ihnen entgegen. Sie grüßte Beat mit Namen, nickte Valerie freundlich zu und machte Anstalten stehenzubleiben. Beat grüßte mit einem halben Lächeln kurz zurück und wollte weitergehen. Aber Valerie blieb stehen und wechselte mit der Frau ein paar Worte, während Beat stumm daneben stand.
»Haben Sie den Lärm letzte Nacht auch gehört?«, wandte sich die Frau jetzt Beat zu. »Ich glaube, es war Elmiger vom vierten Stock, der Besuch hatte. Um halb drei sind seine Gäste das Treppenhaus heruntergepoltert.«
Valerie schien, dass Beat aufatmete. Was hat er nur, dachte sie.
»Nein«, sagte Beat jetzt, »ich war letzte Nacht gar nicht da.«
»Na, dann haben Sie Glück gehabt«, meinte die Frau, wünschte ein schönes Wochenende und verabschiedete sich.
»Was hattest du denn?«, fragte Valerie. »Du hast zuerst so unfreundlich gewirkt. Frau Luchsinger ist doch nett.«
»Ach, manchmal ist sie so geschwätzig«, erwiderte Beat. »Ich dachte, wenn wir stehen bleiben, kommen wir nie wieder weg.«
Aber das war eine glatte Lüge. Es war Beat Streiffs bestgehütetes Geheimnis, dass er an Prosopagnosie litt. Zum Glück nur an einer sehr milden Form. Die meisten Gesichter konnte er problemlos wiedererkennen, aber bei manchen hatte er Mühe. Dummerweise konnte er sich gerade das Gesicht seiner Nachbarin, Else Luchsinger, einfach nicht merken, obwohl sie schon einige Jahre im gleichen Haus wohnten. Traf er sie im Treppenhaus oder in der Waschküche an, wusste er, dass sie es war, denn sie war die einzige ältere Frau im Haus. Allerdings gab es auch da Fallstricke. Einmal hatte er eine Frau mit ›Guten Tag, Frau Luchsinger‹ begrüßt, aber da war es die Mutter von Elmiger gewesen. Außerhalb des Hauses hatte er keine Chance, die Frau zu erkennen. Erst als sie den Nachbarn im vierten Stock erwähnt hatte, war ihm aufgegangen, wer sie war. Nicht einmal Valerie wusste von seiner Schwäche und bei der Polizei selbstverständlich auch niemand. Obwohl es ihm durch langjährige Übung gut gelang, dieses Manko zu überspielen und zu kompensieren, machte es ihn innerlich oft unsicher, wodurch er dann unfreundlich wirkte. Aber das schien ihm das kleinere Übel zu sein.
Valerie und er näherten sich dem Kanzlei-Areal.
»Guck mal, da ist doch etwas im Gange!«, sagte Valerie.
Es herrschte nicht das übliche lebhafte, laute, aber friedliche Durcheinander, das normalerweise den Flohmarkt prägte. Die Stände, die am Rand lagen, waren verlassen. Niemand schien sich im Moment für zerfledderte Comics, Handys der vorletzten Generation oder Lammfelljacken aus den 70er-Jahren zu reißen. Eine unruhige Menschenmenge drängte sich im Zentrum zusammen, es waren Buhrufe zu hören, die Stimmung schien angespannt bis aggressiv. Valerie spürte, wie Beat sich in Streiff verwandelte. Es waren nur Winzigkeiten, die sich in seinem Blick, seiner Haltung, seinem Schritt veränderten. Jetzt war er der Polizist, der eine Situation zu analysieren hatte, abzuschätzen versuchte, ob da etwas aus dem Ruder lief. Sie gingen auf die Menschenmenge zu. Streiff drängte sich hindurch.
In der Mitte, umringt von warm eingepackten Flohmarkthändlern und Kunden, es war ja schon November und morgens ordentlich kalt, stand – Angela Legler. Allein. In einer ziemlich ungemütlichen Situation und nicht einmal besonders warm angezogen.
»Lassen Sie mich durch!«, rief sie. »Sofort. Das ist ein öffentlicher Ort. Ich habe das Recht, hier zu sein.«
Buhrufe und höhnisches Gelächter antworteten ihr.
»Was fällt dir ein hierherzukommen!«, schrie eine ältere, pummelige Frau mit grauen Locken, die, so glaubte sich Valerie zu erinnern, einen Stand mit gebrauchten Kleidern und Schuhen hatte. »Das ist unser Ort und du willst ihn kaputtmachen.«
»Jetzt stehst du uns Red und Antwort!«, rief ein anderer Flohmarkthändler, ein hagerer, kahler Mann um die 40, der jeweils Geschirr und Pfannen, aber manchmal auch elektronische Geräte feilbot. »Was spielst du da für ein schmutziges Politspielchen? Wem willst du in den Arsch kriechen? Kriegst du das bezahlt?«
Legler hatte ihre Überlegenheit noch nicht verloren. Sie straffte sich. »So diskutiere ich nicht mit Ihnen!«, rief sie. »Ich bin Politikerin. Ich bin mitverantwortlich dafür, dass Gesetze eingehalten werden. Und das hier ist ein rechtsfreier Raum. Das geht einfach nicht!«
Wieder Buhrufe. Die Leute kamen ihr näher. Sie wich einen Schritt zurück. Aber auch hinter ihr war eine Wand von Menschen. Nun schien sie nervös zu werden, sie fuhr sich mit der Hand durch die dunklen, kurzen Haare. Ihr Gesicht, selbst im November noch gebräunt, wurde um eine Schattierung blasser.
Valerie, die mit dem Hund am Rand stehen geblieben war und durch die Menschenmenge spähte, schüttelte für sich den Kopf. Diese Legler war ja sträflich naiv. Die begriff nicht, was hier abging. Es war ihr überhaupt nicht klar, was sie mit ihrer Forderung, den Flohmarkt zu schließen, ausgelöst hatte, sonst wäre sie nicht hergekommen. Jedenfalls nicht ohne Begleitung. Und es kam ihr offenbar auch nicht in den Sinn, dass sie in Gefahr sein könnte. Die Stimmung war explosiv. Hoffentlich hält sie endlich den Mund, dachte Valerie nervös, nicht dass irgendein Choleriker ausrastet und sie tätlich angreift.
Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die verlassenen Marktstände. Da bemerkte sie einen jungen Mann, der die Gelegenheit nutzte, sich ein kleines Fernsehgerät von einem Tisch griff und sich damit davonmachte. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, dachte Valerie schulterzuckend. Dann wandte sie sich wieder dem Knäuel von aufgebrachten Leuten zu und suchte mit den Augen Beat in der Menge. Er war nicht besonders groß, aber an seinem roten Haarschopf zuverlässig zu erkennen. Sie sah, dass er sich zu Angela Legler durchgearbeitet hatte und sie am Arm fasste.
»Stopp«, rief er, »Polizei! Sie lassen die Frau jetzt passieren.«
Geraune erhob sich, aber es wurde ruhiger, einige Leute zogen sich zurück.
»Bullenstaat!«, rief jemand vom Rand her. Streiff drehte nicht einmal den Kopf. Er hielt seinen Blick auf die ihm gegenüberstehenden Leute gerichtet, die jetzt langsam und widerwillig den Weg freigaben. Er fühlte, dass Legler zitterte. Offenbar war ihr die Situation jetzt bewusst geworden und sie hatte ihre Sicherheit eingebüßt. Bevor er sie hinausführen konnte, riss sie sich los und rannte davon. Huhn, dachte er ärgerlich. Die Menge johlte hinter ihr her. Dann ging es sehr schnell. Aus dem Augenwinkel nahm Streiff eine Bewegung wahr, die Bewegung eines Arms in einem farbigen Pulloverärmel, der etwas schleuderte, kaum konnte er den Stein sehen, der durch die Luft flog. Dann sah er Angela Legler stürzen und hörte ihren Schrei. Er sah sich nach der Person um, die den Stein geworfen hatte, konnte aber nicht ausmachen, wer es gewesen war. Kein bunter Pullover war zu sehen. Es wurde sehr still. Die Politikerin lag am Boden, reglos. Die Flohmarkthändler und Kunden zogen sich langsam zurück. »Scheiße«, sagte einer, »na und?« ein anderer.
Bevor Streiff Legler erreicht hatte, kniete schon jemand bei ihr.
»Ich bin Arzt«, sagte er, zu Streiff aufschauend.
Streiff drehte sich zu den Umstehenden. »Wer hat den Stein geworfen?«, fragte er scharf.
Natürlich sagte niemand etwas. Er wandte sich an die ältere Frau, die die Politikerin angeschrien hatte: »Haben Sie etwas gesehen?«
»Nein, gar nichts.«
»Das war eine Straftat, eine Körperverletzung. Sie sind verpflichtet, es zu sagen, wenn Sie etwas bemerkt haben.«
Er fixierte den Mann, der den Stand mit den Elektronikgeräten hatte. Er hatte bei ihm schon einmal ein Handy gekauft. Der zuckte die Schultern, schaute weg und wandte sich seinem Stand zu. Gleich darauf hörte man ihn schimpfen: »Mir ist ein Fernsehgerät weggekommen. Verdammt, hat jemand etwas gesehen?«
Streiff hätte beinahe gelacht. »Meinen Sie mich?«, fragte er höflich. »Leider nicht.«
Der Mann warf ihm einen bösen Blick zu.
Der Arzt untersuchte Angela Legler. Sie war bei Bewusstsein.
»Ich glaube, Sie sind nicht ernsthaft verletzt«, sagte er. »Der Stein hat Sie nur gestreift. Es blutet zwar, aber das hört bald auf. Haben Sie Kopfschmerzen? Ist Ihnen übel?«
»Nein.« Angela Legler setzte sich auf. Ignorierte heroisch das Blut, das ihr von der Schläfe die Wange hinabrann. Ihr Schrecken hatte offenbar bereits in Wut umgeschlagen. »Nun erst recht«, erklärte sie. »Dieser Hort für Kriminelle muss geschlossen werden. Und Sie«, sie wandte sich anklagend an Streiff, »wenn Sie schon Polizist sind, warum sind Sie nicht imstande, eine unbescholtene Bürgerin zu schützen? Wissen Sie, wer ich bin? Angela Legler, Kantonsrätin.«
»Sehr erfreut«, konterte Streiff sarkastisch.
Der Arzt warf seiner Patientin einen zweifelnden Blick zu, murmelte etwas von »doch besser einen Krankenwagen rufen und genauer untersuchen« und hängte sich ans Handy.
»Legen Sie sich besser wieder hin«, riet er Legler mit ärztlicher Sachlichkeit, »Sie haben einen Schock erlitten.«
»Dieser Vorfall wird am Montag im Kantonsrat diskutiert werden«, erklärte Legler drohend, als ob der Arzt schuld am Ganzen wäre.
»Ja, ganz sicher«, meinte dieser beruhigend.
»Ich habe Drohbriefe erhalten«, fuhr Legler fort, wieder zu Streiff gewandt. »Man will mich fertigmachen.«
»Drohbriefe?« Beat wurde aufmerksam.
»Ja, aber ich habe sie nicht hier.«
»Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen«, versprach Streiff. Es hatte keinen Sinn, jetzt mit einer Befragung zu beginnen. Vielleicht fantasierte sie ja nur. Er bestellte per Handy eine Streife her, die die Leute zu dem Vorfall befragen sollte. Das war ja eigentlich nicht sein Gebiet und außerdem hatte er frei.
Valerie hatte der Szene aus einiger Entfernung zugesehen. Lorenz. Sie erkannte ihn sofort, seine große, schlanke, fast magere Gestalt; offensichtlich hatte er keinen Bauch angesetzt wie die meisten Männer seines Alters, aber sein früher dunkelblondes Kraushaar war ziemlich grau geworden. Sie hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr getroffen. Nach ihrer Trennung vor, sie rechnete, etwa vor acht Jahren, hatten sie sich aus den Augen verloren. Und doch waren sie sich lange Zeit nahe gewesen. Vor ein paar Jahren waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen. Das war wenige Monate nach dem Mord im FahrGut gewesen. Valerie hatte sich noch nicht wirklich von jenen Ereignissen erholt gehabt, aber sie war frisch verliebt in Beat und sie hatte sich gefreut, Lorenz anzutreffen. Aber er war kühl gewesen und hatte ganz reserviert getan. Hatte überhaupt nicht gefragt, wie es ihr ginge, dabei musste er doch aus den Medien erfahren haben, was ihr zugestoßen war. Offenbar wollte er wirklich gar nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Deshalb zögerte sie jetzt. Sollte sie hinübergehen oder hier mit Seppli warten, bis die arme Angela abtransportiert und Lorenz gegangen war? Ach was, das wäre doch blöd. Sie war mit Streiff hier und hatte keinen Grund, sich zu verstecken. Und einen freundlichen Satz zu Angela würde sie sich wohl noch abringen können. Auch wenn ihr Verhalten denkbar unvernünftig gewesen war, war es nicht in Ordnung, dass sie so drangekommen war. Sie schlenderte mit ein wenig Herzklopfen zu dem Grüppchen.
»Hallo, Lorenz.«
Streiff zuckte zusammen. Stucki. Valeries Quacksalber. Ausgerechnet. Sie waren sich noch nie begegnet und Stucki hatte auch nie von der Affäre zwischen Valerie und ihm erfahren.
»Valerie!«, rief Stucki. Stand rasch auf und strahlte sie an. »So eine Überraschung. Schön, dich zu sehen. Gehts dir gut?«
Valerie nickte, ein wenig verwirrt und verlegen. Das waren ja völlig neue Töne. »Dir auch?«
»Ja, bestens. Aber du weißt, ein Arzt hat nie richtig frei.«
Ein Polizist auch nicht, dachte Valerie. Offenbar gerate ich immer an Männer, auf deren jederzeitige Einsatzbereitschaft die Welt nicht verzichten kann.
Sie kauerte bei Angela Legler nieder. »Hi, Angela. Tut mir leid, was da passiert ist.«
Das klang hölzern, sie wusste es. Aber mehr als ein unpersönliches Mitgefühl brachte sie für die Frau nicht auf.
Die lag jetzt still da, offenbar nicht mehr in der Stimmung, groß aufzutrumpfen. Sie war blass, ihre Wange blutverschmiert, die Frisur in Unordnung. Seppli schnupperte interessiert. Valerie riss ihn weg, bevor er etwa auf die Idee kam, Angela das Blut wegzulecken. Bei diesem Hund wusste man nie.
Glücklicherweise kam jetzt der Krankenwagen hergefahren, Stucki orientierte die Pfleger, die Angela Legler behutsam einluden.
»Sie ist übrigens Kantonsrätin.« Diese Anmerkung kam von Streiff. Valerie unterdrückte ein Lachen.
Die beiden jungen Pfleger sahen ihn empört an. »Wir behandeln alle Patientinnen und Patienten gleich«, erklärte der eine dezidiert. Dann fuhren sie weg.
Stuckis Handy flötete. »Na, ich muss«, sagte er, »habe heute Notfalldienst. Valerie, stehst du im Telefonbuch? Ich ruf dich mal an, okay?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er sich das Handy ans Ohr und entfernte sich. Der Streifenwagen traf ein. Streiff informierte die beiden Beamten, die ohne Begeisterung ihre Notizbücher zückten und zu den Befragungen schritten.
Valerie und Beat sahen sich an. »Und dabei wollten wir doch nur einen gemütlichen Flohmarktbummel machen und einen Kerzenständer kaufen«, meinte Valerie.
»Und eine Kaffeemaschine«, ergänzte Beat.
Sie schauten sich um. Auf dem Flohmarkt ging es zu wie immer. Ein Gewusel von Menschen, die von Stand zu Stand flanierten, einander etwas zuriefen, feilschten, sich stritten, lachten, sich über einen gelungenen Kauf oder Verkauf freuten. Der Aufruhr schien vergessen, obwohl, da war sich Streiff sicher, er heute noch viel Gesprächsstoff abgeben würde. Aber wohl nicht, solange die Polizei vor Ort war. Streiff ließ seinen Blick nochmals über die Leute schweifen. Aber es gab keine Chance, den Steinewerfer zu entdecken. Der war sicher längst weg. Und verraten würde ihn hier keiner.
»Das ist das einzig Gute an der Sache«, stellte Valerie fest, »dass du heute kein lebensgefährliches Ding heimträgst. Wir kaufen dir nachher in einem Fachgeschäft eine Kaffeemaschine. Hier bleiben mag ich nicht. Für einen Kerzenständer schaue ich ein anderes Mal.«
»Das war jetzt also Lorenz«, sagte Beat.
»Ja. Stimmt, du kennst ihn ja gar nicht. Ist auch nicht nötig. – Ist was?«
»Nein, wieso? Hat sich enorm gefreut, dich zu treffen.«
»Sag mal, bist du eifersüchtig?«
»Nein. Das heißt, früher schon. Als du nach unseren Treffen immer zu ihm nach Hause gegangen bist.«
»Ach, das hast du aber damals gut verborgen. Komm, wir gehen ins Celia rüber und trinken eine heiße Schokolade. Ich friere. Komm, Seppli.«
Valerie hängte sich bei Beat ein und zog ihn über die Straße. Mit diesem Stucki hat sie also zusammengewohnt, dachte er. Sie fanden im Café einen Fensterplatz und bestellten Schokolade und Kaffee.
»Ein freier Samstag«, meinte Valerie, »es kommt mir vor, als ob ich Ferien hätte.«
»Wird dir im Winter nicht langweilig im Geschäft?«, fragte Beat.
»Nein. Ich bin froh, dass wir nicht mehr den Stress haben wie im Sommer. Aber ich habe trotzdem genug zu tun. Priska und ich können uns mehr um Alban kümmern. Und nächste Woche will ich mich ans Budget fürs nächste Jahr machen.« Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schaute an Beat vorbei auf die Straße.
»Ich bin am Überlegen, ob ich Miniscooters ins Angebot nehmen soll. Oder ob ich wieder einmal ein Kinderfest veranstalten soll, um die Kindervelos und -anhänger mehr zu propagieren.«
Beat hörte gespannt zu. Valerie war eine gewiefte Geschäftsfrau. Sie war nicht der Typ, der sich auf den Lorbeeren ausruhte.
»Oder ich könnte«, fuhr sie fort, laut zu denken, »Sonderanfertigungen machen, zum Beispiel Räder für besonders große Männer. Das könnte ankommen, aber ich habe es noch nicht berechnet.«
Dann wandte sie sich ihm zu. »Und du? Ist dir nicht langweilig? Du hattest doch schon länger keinen richtig verzwickten Fall mehr. Bei den letzten paar Tötungsdelikten in der Stadt Zürich war es doch ziemlich schnell klar, wer es gewesen war. Du bräuchtest mal wieder einen richtig raffinierten Mörder, an dem du deine Hirnzellen messen kannst.«