Kitabı oku: «Aufzeichnungen eines Jägers», sayfa 9
Kassjan aus Krassiwaja-Metsch
Ich kehrte in einem Wägelchen, das stark rüttelte, von der Jagd zurück, schlummerte, von der schwülen Hitze des bewölkten Sommertages erdrückt (bekanntlich ist die Hitze an solchen Tagen noch unerträglicher als an heiteren, besonders wenn es windstill ist), ein wenig ein und schaukelte hin und her, mich mit düsterer Geduld dem feinen, weißen Staub preisgebend, der sich von der ausgefahrenen Straße unter den ausgetrockneten und ratternden Rädern unaufhörlich erhob –, als meine Aufmerksamkeit plötzlich von der ungewöhnlichen Unruhe und den krampfhaften Körperbewegungen meines Kutschers erregt wurde, der bis dahin noch fester geschlummert hatte als ich. Er zupfte an den Zügeln, rückte auf seinem Sitz hin und her und fing an, die Pferde anzuschreien, jeden Augenblick nach der einen Seite blickend. Ich sah mich um. Wir fuhren durch eine weite, gepflügte Ebene; in außerordentlich flachen Wellen liefen zu ihr gleichfalls gepflügte, niedere Hügel herab; der Blick umfing höchstens fünf Werst des leeren Raumes; nur die kleinen Birkengehölze in der Ferne unterbrachen mit ihren rundgezackten Wipfeln die gerade Linie des Horizonts. Schmale Wege zogen sich über die Felder hin, verloren sich in den Hohlwegen, wanden sich die Hügel hinauf, und auf einem von ihnen, der etwa fünfhundert Schritt vor uns unsere Fahrstraße durchschneiden sollte, unterschied ich einen Zug. Diesen Zug betrachtete eben mein Kutscher.
Es war ein Leichenzug. Vorne fuhr in einem mit nur einem Pferdchen bespannten Wagen im Schritt der Geistliche; der Küster saß neben ihm und lenkte; dem Wagen folgten vier Bauern mit entblößten Köpfen, die den mit einem weißen Leinentuch bedeckten Sarg trugen; zwei Weiber gingen hinter dem Sarg. Die feine, klagende Stimme des einen von ihnen schlug plötzlich an mein Ohr; ich horchte auf: Die Frau jammerte. Traurig klang inmitten der leeren Felder diese eintönige, hoffnungslos klagende Weise. Der Kutscher trieb die Pferde an: Er wollte diesem Zug zuvorkommen. Unterwegs einer Leiche zu begegnen, gilt als schlimmes Zeichen. Es gelang ihm tatsächlich, über die Straße zu jagen, ehe der Leichenzug sie erreichte; wir waren aber noch keine hundert Schritt weit gefahren, als unser Wagen plötzlich einen heftigen Stoß bekam, sich auf die eine Seite neigte und beinahe umfiel. Der Kutscher hielt die ins Laufen gekommenen Pferde an, winkte hoffnungslos mit der Hand und spuckte aus.
»Was gibt es denn?« fragte ich ihn.
Mein Kutscher stieg schweigsam und ohne Übereilung vom Bock.
»Was ist denn los?«
»Die Achse ist gebrochen . . . ist durchgebrannt«, antwortete er düster und schob plötzlich mit solcher Wut den Rückenriemen des Seitenpferdes zurecht, daß es wankte, schließlich aber doch nicht hinfiel; es schnaubte, schüttelte sich und fing mit der größten Ruhe an, sich mit einem Zahn das Vorderbein unterhalb des Knies zu kratzen.
Ich stieg ab und stand eine Weile auf der Straße, vom dunklen Gefühl einer unangenehmen Ratlosigkeit erfüllt. Das rechte Rad war fast ganz unter den Wagen geraten und hob seine Nabe wie in stummer Verzweiflung in die Höhe.
»Was ist jetzt zu tun?« fragte ich endlich.
»Der da hat schuld!« sagte mein Kutscher, mit der Peitsche auf den Leichenzug weisend, der schon auf die Fahrstraße gekommen war und sich uns näherte. »Das habe ich immer gemerkt«, fuhr er fort, »es ist ein sicheres Zeichen, wenn man einer Leiche begegnet . . . Ja . . .«
Und er belästigte wieder das Seitenpferd, das, da es seine Mißstimmung und Strenge sah, sich entschloß, unbeweglich zu bleiben, und nur ab und zu schüchtern den Schweif bewegte. Ich ging ein wenig auf und ab und blieb wieder vor dem Rad stehen.
Der Leichenzug holte uns indessen ein. Die Trauerprozession bog vorsichtig von der Straße aufs Gras ab und ging an unserem Wagen vorbei. Der Kutscher und ich zogen die Mützen, begrüßten den Geistlichen und wechselten mit den Trägern Blicke. Sie gingen mit Mühe, und ihre breiten Brüste hoben sich schwer. Von den beiden Weibern, die dem Sarg folgten, war das eine sehr alt und blaß; ihre unbeweglichen, vom Schmerz grausam entstellten Züge hatten den Ausdruck strenger, feierlicher Würde. Sie ging schweigend einher und führte zuweilen die magere Hand an die dünnen, eingefallenen Lippen. Die andere, eine junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, hatte rote und feuchte Augen und ein vom Weinen geschwollenes Gesicht; als sie an uns vorbeikam, hörte sie zu jammern auf und bedeckte das Gesicht mit dem Ärmel . . . Die Leiche war aber schon an uns vorbei wieder auf die Landstraße gekommen; wieder erklang der jämmerliche, herzzerreißende Gesang. Mein Kutscher begleitete den gleichmäßig schwankenden Sarg mit einem stummen Blick und wandte sich an mich: »Es ist der Zimmermann Martyn, der da beerdigt wird«, sagte er, »der aus Rjabowo.«
»Woher weißt du das?«
»An den Weibern hab ich’s erkannt. Die Alte ist seine Mutter und die Junge die Frau.«
»Ist er denn krank gewesen?«
»Ja . . . Fieber hat er gehabt . . . Vorgestern hat der Verwalter nach dem Doktor geschickt, aber sie trafen ihn nicht an . . . Er war ein guter Zimmermann. Wie seine Frau jammert . . . Nun, das weiß man ja: Die Weiber haben wohlfeile Tränen, Weibertränen sind wie Wasser . . . Ja.«
Er bückte sich, kroch unter den Zügeln des Seitenpferdes durch und faßte mit beiden Händen das Krummholz.
»Aber«, bemerkte ich, »was sollen wir dennoch tun?«
Mein Kutscher stemmte erst das Knie gegen die Schulter des Mittelpferdes, schüttelte zweimal das Krummholz, schob das Rückenkissen zurecht, kroch dann wieder unter dem Zügel des Seitenpferdes durch, stieß es im Vorbeigehen in die Schnauze und ging auf das Rad zu; er ging auf das Rad zu, holte langsam, ohne es aus dem Auge zu lassen, unter dem Rockschoß seine Tabaksdose hervor, nahm ebenso langsam den Deckel am Riemen heraus, steckte langsam seine zwei dicken Finger hinein (selbst die zwei fanden in ihr kaum Platz), knetete den Tabak, zog seine Nase schon im vorhinein schief, schnupfte langsam, jede Prise mit einem gedehnten Krächzen begleitend, und versank, mit den tränenden Augen schmerzhaft blinzelnd und zwinkernd, in tiefe Nachdenklichkeit.
»Nun, was?« fragte ich endlich.
Mein Kutscher steckte die Dose behutsam in die Tasche, rückte sich den Hut, ohne eine Hand zu rühren, durch eine bloße Kopfbewegung in die Brauen und stieg nachdenklich auf den Bock.
»Wo willst du denn hin?« fragte ich erstaunt.
»Steigen Sie nur ein«, erwiderte er ruhig und nahm die Zügel in die Hand.
»Wie werden wir denn fahren?«
»Wir werden schon fahren.«
»Aber die Achse . . .«
»Nehmen Sie nur Platz.«
»Die Achse ist aber entzwei . . .«
»Sie ist freilich entzwei, aber bis zur Siedlung kommen wir schon . . . das heißt im Schritt. Hier rechts hinter dem Gehölz ist eine Siedlung, Judino heißt sie.«
»Und du glaubst, daß wir hinkommen?«
Mein Kutscher würdigte mich keiner Antwort.
»Ich geh’ lieber zu Fuß«, sagte ich.
»Wie Sie wünschen . . .«
Er schwang die Peitsche. Die Pferde zogen an.
Wir erreichten wirklich die Siedlung, obwohl das rechte Vorderrad kaum hielt und sich höchst seltsam drehte. Auf einem Hügel wäre es beinahe heruntergeflogen, aber mein Kutscher schrie mit wütender Stimme, und wir fuhren den Hügel glücklich hinunter.
Die Judinsche Siedlung bestand aus sechs niederen, kleinen Häuschen, die sich bereits auf die Seite geneigt hatten, obwohl sie wahrscheinlich erst seit kurzem erbaut worden waren: Nicht alle Höfe waren umzäunt. Als wir in diese Siedlung einfuhren, begegneten wir keiner lebenden Seele; nicht einmal Hühner, sogar keine Hunde ließen sich auf der Straße blicken; nur ein einziger schwarzer Hund mit kurzem Schwanz sprang vor unseren Augen aus einem vollkommen trockenen Trog heraus, in den ihn offenbar der Durst getrieben hatte, und rannte sofort, ohne zu bellen, unter ein Tor. Ich ging ins erste Haus, machte die Tür zum Flur auf und rief die Bewohner – niemand antwortete mir. Ich rief noch einmal – hinter der andern Tür erklang das hungrige Miauen einer Katze. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf: Eine hungrige Katze lief, mit den grünen Augen im Dunkeln funkelnd, an mir vorbei. Ich steckte den Kopf in die Stube und sah hinein: dunkel, dunstig und leer. Ich begab mich auf den Hof, auch dort war niemand . . . Hinter einem Verschlag brüllte ein Kalb; eine lahme graue Gans wackelte ein wenig zur Seite. Ich ging ins zweite Haus, auch im zweiten Haus war keine Seele. Ich ging in den Hof . . .
Mitten im hellerleuchteten Hof in der schlimmsten Glut lag, das Gesicht zur Erde und den Kopf mit einem Kittel bedeckt; wie mir schien, ein Junge. Einige Schritt von ihm stand neben einem elenden Wägelchen unter einem Schutzdach aus Stroh ein mageres Pferdchen mit abgerissenem Geschirr. Das Sonnenlicht, das durch die schmalen Öffnungen im schadhaften Schutzdach flutete, zeichnete kleine helle Flecken auf seinem zottigen rotbraunen Fell. Gleich daneben schwatzten in einem auf einer hohen Stange angebrachten Starenhäuschen Stare und blickten mit ruhiger Neugierde aus ihrem luftigen Häuschen herab. Ich ging auf den Schlafenden zu und begann ihn zu wecken . . .
Er hob den Kopf, erblickte mich und sprang gleich auf die Beine . . . »Was ist gefällig? Was ist los?« murmelte er verschlafen.
Ich antwortete ihm nicht sogleich: Dermaßen war ich über sein Äußeres erstaunt. Stellt euch einen Zwerg vor von etwa fünfzig Jahren mit einem kleinen, dunklen, gerunzelten Gesicht, einem spitzen Näschen, braunen, kaum sichtbaren Äuglein und krausen, dichten schwarzen Haaren, die auf seinem winzigen Kopf so breit wie der Hut auf einem Pilz sitzen. Sein ganzer Körper war ungewöhnlich schmächtig und mager, und man kann mit Worten gar nicht wiedergeben, wie ungewöhnlich und seltsam sein Blick war.
»Was ist gefällig?« fragte er mich wieder.
Ich erklärte ihm, um was es sich handelte; er hörte mich an, ohne seine langsam zwinkernden Augen von mir zu wenden.
»Könnten wir nicht eine neue Achse bekommen?« fragte ich ihn schließlich. »Ich würde gerne bezahlen.«
»Wer sind Sie? Ein Jäger, nicht?« fragte er, mich mit einem Blick vom Kopf bis zu den Füßen musternd. – »Ja, Jäger.«
»Sie schießen wohl die Vöglein des Himmels . . .? Die Tiere des Waldes? Ist es keine Sünde, die Vöglein Gottes zu töten, unschuldiges Blut zu vergießen?«
Der seltsame Alte sprach sehr gedehnt. Der Ton seiner Stimme setzte mich gleichfalls in Erstaunen. Es war nicht nur nichts Greisenhaftes in seiner Stimme, sie war sogar ungewöhnlich süß, jugendlich und von einer beinahe weiblichen Zartheit.
»Ich hab’ keine Achse«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Diese da taugt nicht.« Er wies auf sein Wägelchen. »Sie haben wohl einen großen Wagen.«
»Kann man im Dorf eine finden?«
»Was ist hier für ein Dorf . . .! Hier hat niemand eine . . . Es ist auch niemand daheim: Alle sind auf der Arbeit. Gehen Sie!« sagte er plötzlich und legte sich wieder auf die Erde.
Ich hatte diesen Schluß gar nicht erwartet.
»Hör mal, Alter«, sagte ich, seine Schulter berührend, »tu mir den Gefallen und hilf mir.«
»Gehen Sie mit Gott! Ich bin müde, bin in der Stadt gewesen«, sagte er, indem er sich den Kittel über den Kopf zog.
»Tu mir doch den Gefallen«, fuhr ich fort, »ich . . . ich will bezahlen!«
»Ich brauche dein Geld nicht.«
»Ich bitte dich, Alter . . .«
Er setzte sich halb auf und kreuzte seine dünnen Beinchen.
»Ich werde dich vielleicht zur abgeholzten Stelle begleiten. Hier haben bei uns Kaufleute einen Wald gekauft – Gott sei ihr Richter, sie vernichten den Wald, haben ein Kontor erbaut, Gott sei ihr Richter . . .! Dort könntest du dir eine Achse machen lassen oder eine fertige kaufen.«
»Sehr schön!« rief ich erfreut. »Sehr schön . . .! Gehen wir.«
»Eine gute Achse, eine eichene«, fuhr er fort, ohne aufzustehen.
»Ist es weit bis zur abgeholzten Stelle?«
»Drei Werst.«
»Nun, wir können ja in deinem Wägelchen hinfahren!«
»Das geht nicht . . .«
»Komm doch«, sagte ich, »komm, Alter! Der Kutscher wartet auf uns auf der Straße.«
Der Alte stand unwillig auf und folgte mir auf die Straße. Mein Kutscher war in gereizter Stimmung: Er wollte die Pferde tränken, aber im Brunnen war nur sehr wenig Wasser, und es schmeckte schlecht; das ist aber, wie die Kutscher behaupten, außerordentlich wichtig . . . Als er aber den Alten erblickte, grinste er, nickte mit dem Kopf und rief: »Ah, Kaßjanuschka! Grüß Gott!«
»Grüß Gott, Jerofej, du gerechter Mensch«, antwortete Kaßjan mit trauriger Stimme.
Ich teilte dem Kutscher sofort seinen Vorschlag mit; Jerofej erklärte sich damit einverstanden und fuhr in den Hof ein. Während er mit überlegter Geschäftigkeit die Pferde ausspannte, stand der Alte mit der Schulter ans Tor gelehnt und sah mißmutig bald ihn und bald mich an. Er schien irgendwie verdutzt: Soviel ich merken konnte, hatte ihn unser plötzlicher Besuch nicht sonderlich erfreut.
»Hat man denn auch dich hierher übersiedelt?« fragte ihn plötzlich Jerofej, das Krummholz abnehmend.
»Ja, auch mich.«
»Ach!« versetzte mein Kutscher durch die Zähne. »Weißt du, der Zimmermann Martyn . . . du kennst doch den Martyn aus Rjabowo?«
»Gewiß.«
»Also er ist gestorben. Wir sind eben seinem Sarg begegnet.«
Kaßjan fuhr zusammen.
»Gestorben?« fragte er und senkte die Augen.
»Ja, gestorben. Warum hast du ihn nicht gesund gemacht? Man sagt doch, du behandelst Kranke, bist ein Doktor.«
Mein Kutscher machte sich offenbar über den Alten lustig.
»Ist das dein Wagen, wie?« fragte er, mit einer Schulter auf ihn weisend.
»Ja, mein Wagen.«
»Ist das ein Wagen!« sagte mein Kutscher, indem er das Fuhrwerk bei den Deichselstangen packte und beinahe umdrehte . . . »Ein Wagen . . .! Worauf wollt ihr denn in den Wald fahren . . .? In diese Deichselstangen kann man unser Pferd gar nicht einspannen, unser Pferd ist groß – aber was ist das da?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Kaßjan, »worauf ihr fahren werdet; vielleicht mit diesem Tierchen«, fügte er mit einem Seufzer hinzu.
»Mit diesem?« fiel ihm Jerofej ins Wort. Er ging auf Kaßjans elendes Pferdchen zu und stieß es mit dem Mittelfinger der rechten Hand in den Hals. »Sieh mal an«, fügte er vorwurfsvoll hinzu, »eingeschlafen ist sie, die Krähe!«
Ich bat Jerofej, schneller einzuspannen. Ich hatte selbst Lust, mit Kaßjan zur abgeholzten Stelle zu fahren: An solchen Stellen gibt es oft Birkhühner. Als das Wägelchen ganz fertig war und ich mit meinem Hund auf dem höckerigen Boden aus Birkenrinde Platz genommen hatte und auch Kaßjan, zu einem Knäuel zusammengekauert, mit dem früheren traurigen Gesichtsausdruck auf dem vorderen Bänkchen saß, kam Jerofej auf mich zu und flüsterte mit geheimnisvoller Miene: »Sie tun gut, Väterchen, daß Sie mit ihm fahren. Er ist ja ein Narr und hat auch den Zunamen ›Floh‹. Ich weiß gar nicht, wie Sie ihn haben verstehen können . . .«
Ich wollte Jerofej bemerken, daß Kaßjan auf mich bisher den Eindruck eines recht vernünftigen Menschen gemacht habe, aber mein Kutscher fuhr im gleichen Ton fort: »Passen Sie nur auf, daß er Sie an die richtige Stelle hinbringt. Wählen Sie auch die Achse selbst; wollen Sie eine recht kräftige Achse nehmen . . . Nun, Floh«, fuhr er laut fort, »kann man bei euch etwas Brot kriegen?«
»Such, vielleicht findest du was«, antwortete Kaßjan. Er zupfte an den Zügeln, und wir rollten davon.
Sein Pferdchen lief zu meinem aufrichtigen Erstaunen gar nicht schlecht. Kaßjan bewahrte während der ganzen Fahrt hartnäckiges Schweigen und beantwortete meine Fragen abgerissen und unwillig. Wir erreichten bald die abgeholzte Stelle und fanden dort das Kontor, ein hohes Bauernhaus, das einsam am Rande einer nicht sehr tiefen Schlucht ragte, die man in aller Eile eingedämmt und in einen Teich verwandelt hatte. Ich traf in diesem Kontor zwei junge Kaufmannsangestellte mit schneeweißen Zähnen, süßen Augen, einer süßen und gewandten Redeweise und einem süßen und schlauen Lächeln, machte mit ihnen den Preis für die Achse aus und begab mich auf die Lichtung. Ich dachte, Kaßjan würde auf mich beim Pferd warten, aber er kam plötzlich auf mich zu.
»Du gehst wohl die Vöglein schießen?« fragte er mich. »Was?«
»Ja, wenn ich welche finde.«
»Ich geh’ mit dir . . . Darf ich?«
»Du darfst, du darfst.«
Und wir gingen. Die ganze abgeholzte Stelle war nur etwa eine Werst breit. Ich gab, offen gestanden, mehr auf Kaßjan als auf meinen Hund acht. Nicht umsonst nannte man ihn Floh. Sein schwarzes, bloßes Köpfchen (seine Haare konnten übrigens jede Mütze ersetzen) flog nur so durch die Büsche. Er ging ungewöhnlich flink und schien im Gehen immer zu hüpfen, beugte sich in einem fort, pflückte irgendwelche Halme, steckte sie in den Busen, murmelte sich etwas in den Bart und sah immer mich und meinen Hund mit eigentümlichen, forschenden Blicken an. Im niederen Gebüsch und an abgeholzten Stellen hausen oft kleine graue Vöglein, die in einem fort von einem Bäumchen auf das andere flattern und pfeifen, indem sie in der Luft im Flug untertauchen. Kaßjan äffte sie nach und wechselte mit ihnen Rufe; eine junge Wachtel flog zwitschernd unter seinen Füßen auf, er piepste ihr nach; eine Lerche ließ sich auf bebenden Flügeln laut schmetternd über ihn herab, Kaßjan fiel auch in dieses Lied ein. Mit mir sprach er gar nicht.
Das Wetter war herrlich, noch herrlicher als früher, aber die Hitze ließ immer noch nicht nach. Am heiteren Himmel zogen kaum sichtbar hohe, dünne Wölkchen, gelblichweiß, wie verspäteter Frühlingsschnee, flach und länglich wie eingezogene Segel. Ihre zierlichen Ränder, flockig und leicht wie Watte, änderten sich langsam, aber merklich mit jedem Augenblick; diese Wolken schmolzen und warfen keinen Schatten. Lange streifte ich mit Kaßjan durch die Lichtungen. Junge Schößlinge, die noch nicht einen Arschin lang waren, umgaben mit ihren feinen, glatten Stengeln die schwarzgewordenen niedrigen Baumstümpfe; runde, schwammige Wucherungen mit grauen Rändern, wie man sie zur Herstellung von Feuerschwamm benutzt, klebten an diesen Stümpfen; die Erdbeerpflanzen umrankten sie mit ihren rosa Sprossen; Pilze saßen in ganzen Familien um sie herum. Die Füße verwickelten sich ununterbrochen im langen, von der glühenden Sonne übersättigten Gras; überall flimmerte es vor dem grellen metallischen Glänzen der jungen rötlichen Blätter der Bäumchen; überall leuchteten die blauen Dolden der Wicken, die goldenen Kelche des Hahnenfußes und die halb lila und halb gelben Blüten der wilden Stiefmütterchen; hier und da erhoben sich neben verlassenen Wegen, auf denen die Räderspuren sich durch Streifen rötlichen, niederen Grases abzeichneten, von Wind und Regen geschwärzte Brennholzstapel; sie warfen schwache, schräge, viereckige Schatten, und einen andern Schatten gab es hier nicht. Ein leichter Wind erhob sich ab und zu und legte sich wieder: Er haucht einem plötzlich ins Gesicht und scheint anzuwachsen – alles ringsum beginnt zu rauschen, zu nicken und sich zu bewegen, und die biegsamen Spitzen der Farnkräuter schwanken graziös – man freut sich über diesen Wind . . . aber plötzlich ist er erstorben, und alles ist wieder still. Nur die Grashüpfer allein zirpen laut und wie wütend im Chor, und dieser unaufhörliche, gleichmäßig scharfe Lärm ist ermüdend. Er paßt gut zu der unerträglichen Mittagsglut; er ist von ihr gleichsam erzeugt und aus der glühenden Erde hervorgerufen.
Wir stießen auf keinen einzigen Vogel und erreichten schließlich eine neue Lichtung. Vor kurzem gefällte Espen beugten sich traurig zur Erde herab und erdrückten das Gras und die kleinen Sträucher; von den unbeweglichen Zweigen einiger von ihnen hingen die Blätter noch grün, aber schon tot und welk herab; an anderen waren sie schon trocken zusammengeschrumpft. Den frischen goldigweißen Spänen, die haufenweise neben den grellfeuchten Stümpfen lagen, entströmte ein eigener, ungewöhnlicher, angenehmer, bitterer Duft. In der Ferne, neben dem Wald, klopften dumpf die Äxte; ab und zu sank feierlich und still, wie sich verneigend und die Arme ausbreitend, ein lockiger Baum zur Erde.
Lange fand ich kein Wild; endlich flog aus einem breiten, ganz mit Wermut durchwachsenen Gebüsch ein Wachtelkönig auf. Ich drückte los; er überschlug sich in der Luft und fiel herab. Als Kaßjan den Schuß hörte, bedeckte er schnell die Augen mit der Hand und rührte sich nicht, bis ich mein Gewehr wieder geladen und den Wachtelkönig aufgehoben hatte. Als ich aber weiterging, trat er an die Stelle, auf die der getötete Vogel niedergefallen war, bückte sich zum Gras, das von einigen Tropfen Blut benetzt war, schüttelte den Kopf und sah mich scheu an . . . Später hörte ich ihn flüstern: »Diese Sünde . . .! Ach, diese Sünde!«
Die Hitze zwang uns endlich, in den Wald zu gehen. Ich warf mich unter einen hohen Haselstrauch, über den ein junger, schlanker Ahorn seine leichten Zweige breitete. Kaßjan setzte sich auf das dicke Ende einer gefällten Birke. Ich sah ihn an. Die Blätter schwankten leise in der Höhe, und ihre dünnen grünlichen Schatten glitten still über seinen hageren, nachlässig in einen dunklen Kittel gehüllten Körper und über sein kleines Gesicht. Er hob den Kopf nicht. Sein Schweigen langweilte mich, und ich legte mich auf den Rücken und begann dem friedlichen Spiel des Blättergewirrs auf dem Grund des fernen hellen Himmels zuzuschauen. Es ist eine ungewöhnlich angenehme Beschäftigung, im Wald auf dem Rücken zu liegen, und nach oben zu schauen. Es ist euch, als schauet ihr in ein abgrundtiefes Meer, das sich unter euch ausbreitet, daß die Bäume sich nicht von der Erde erheben, sondern sich wie die Wurzeln riesengroßer Pflanzen senkrecht in die glashellen Fluten senken; die Blätter an den Zweigen glänzen bald wie durchsichtige Smaragde, bald verdichten sie sich zu einem goldigen, fast schwarzen Grün. Ein unbewegliches, einsames Blatt irgendwo hoch oben, am Ende eines dünnen Zweiges, hebt sich vom blauen Fetzen des durchsichtigen Himmels ab; gleich daneben wiegt sich ein anderes, und seine Bewegung erinnert an das Spiel eines Fischschwanzes, als sei die Bewegung willkürlich und nicht vom Winde erzeugt. Zauberhaften Unterwasserinseln ähnliche, weiße, runde Wolken kommen leise gezogen und schweben leise vorbei – und plötzlich beginnt dieses Meer, diese strahlende Luft, beginnen diese vom Sonnenlicht übergossenen Zweige und Blätter und alles zu rieseln und in einem flüchtigen Glanz zu zittern, und es erhebt sich ein frisches, bebendes Flüstern, gleich dem unaufhörlichen feinen Plätschern einer plötzlich heranrollenden Brandung. Ihr rührt euch nicht, ihr schaut, und es läßt sich mit Worten gar nicht ausdrücken, wie freudig, still und süß euch ums Herz wird. Ihr schaut, und das tiefe, reine Blau weckt auf euren Lippen ein Lächeln, so unschuldig wie dieses Blau selbst; wie die Wolken am Himmel, und gleichsam zugleich mit den Wolken zieht euch langsam eine lange Reihe glücklicher Erinnerungen durch den Sinn, und es ist euch, als dringe euer Blick immer tiefer und tiefer ein und ziehe auch euch in den ruhigen, strahlenden Abgrund mit sich, und es ist unmöglich, sich von dieser Höhe, von dieser Tiefe loszureißen . . .
»Herr, du, Herr!« sagte plötzlich Kaßjan mit seiner lauten Stimme.
Ich richtete mich erstaunt auf: Bisher hatte er meine Fragen kaum beantwortet, nun fing er aber selbst zu reden an.
»Was willst du?« fragte ich.
»Sag, warum hast du das Vöglein getötet?« begann er, mir gerade ins Gesicht blickend.
»Wieso? Warum . . .? Der Wachtelkönig ist Wild, man kann ihn essen.«
»Nicht dazu hast du ihn getötet, Herr; du wirst ihn doch nicht essen! Du hast ihn zu deinem Vergnügen getötet.«
»Aber du selbst ißt doch zum Beispiel Hühner und Gänse?«
»Dieses Geflügel ist von Gott für den Menschen bestimmt, der Wachtelkönig ist aber ein freier Vogel, ein Waldvogel. Und nicht nur er allein: Es gibt viele solche Geschöpfe im Wald, im Feld und im Fluß, im Sumpf und auf der Wiese, in der Höhe und in der Tiefe, und es ist Sünde, sie zu töten; sollen sie auf Erden so lange leben, wie ihnen beschieden ist . . . Dem Menschen ist aber eine andere Nahrung bestimmt: Brot, die Gabe Gottes, und das Wasser vom Himmel, und Haustiere von den Urvätern her.«
Ich sah Kaßjan erstaunt an. Seine Worte kamen ihm ganz frei von den Lippen; er suchte sie nicht, er sprach mit stiller Begeisterung und milder Würde und schloß ab und zu die Augen.
»Du hältst es also für Sünde, auch einen Fisch zu töten?« fragte ich.
»Der Fisch hat kaltes Blut«, entgegnete er mit Überzeugung, »der Fisch ist ein stummes Geschöpf. Er kennt keine Furcht und keine Freude; der Fisch ist eine stumme Kreatur. Der Fisch fühlt nichts, sein Blut ist nicht lebendig . . . Das Blut«, fuhr er nach einem Schweigen fort, »das Blut ist eine heilige Sache! Das Blut sieht die Sonne Gottes nicht, das Blut versteckt sich vor dem Licht . . . es ist eine große Sünde, dem Licht Blut zu zeigen, eine große und schreckliche Sünde . . . Ach, eine sehr große!«
Er seufzte und schlug die Augen nieder. Ich sah den merkwürdigen Alten, offen gestanden, mit großem Erstaunen an. Seine Rede klang nicht wie die eines Bauern: So sprechen die einfachen Menschen nicht, und auch die Schönsprecher nicht . . . Ich hatte nie etwas Ähnliches gehört.
»Sag bitte, Kaßjan«, begann ich, ohne meinen Blick von seinem leicht geröteten Gesicht zu wenden, »was hast du für ein Gewerbe?«
Er beantwortete meine Frage nicht gleich. Sein Blick schweifte eine Weile unruhig umher.
»Ich lebe, wie Gott es befiehlt«, sagte er schließlich. »Ein Gewerbe habe ich aber nicht. Ich bin gar zu unverständig, von Kindheit an; ich arbeite, solange ich kann – ich bin ein schlechter Arbeiter . . . wie soll ich auch! Es fehlt mir an Gesundheit, und die Hände sind ungeschickt. Nun, im Frühjahr fange ich Nachtigallen.«
»Du fängst Nachtigallen . . .? Hast du aber nicht selbst gesagt, daß man kein Tier des Waldes oder des Feldes oder ein anderes Geschöpf anrühren darf?«
»Töten darf man sie wohl nicht, das stimmt; der Tod holt auch so das Seine. Nehmen wir zum Beispiel den Zimmermann Martyn: Der Zimmermann Martyn hat gelebt, hat gar nicht lange gelebt und ist gestorben. Seine Frau weint jetzt um den Mann und um die kleinen Kinder . . . Den Tod kann weder der Mensch noch das Tier überlisten. Der Tod läuft nicht, aber man kann ihm nicht entlaufen; man darf ihm auch nicht helfen . . . Die Nachtigallen töte ich ja nicht – Gott bewahre! Ich fange sie nicht, um sie zu quälen und nicht zu ihrem Verderben, sondern dem Menschen zum Vergnügen, zum Trost und zur Freude.«
»Gehst du auch nach Kursk, um sie zu fangen?«
»Ich gehe nach Kursk und auch weiter, wie es sich trifft. Ich übernachte in Sümpfen und in Wäldern, bleibe über Nacht ganz allein im Feld und in der Einöde: Da pfeifen die Schnepfen, da schreien die Hasen, da schnattern die Enten . . . Des Abends merke ich sie mir, des Morgens belausche ich sie, beim Morgengrauen werfe ich die Netze auf die Büsche aus . . . Manche Nachtigall singt so rührend, so süß, daß es sogar weh tut.«
»Und verkaufst sie?«
»Ich gebe sie den guten Leuten.«
»Was treibst du sonst?«
»Was ich treibe?«
»Was hast du sonst noch für eine Beschäftigung?«
Der Alte schwieg eine Weile.
»Ich habe keine Beschäftigung. Ich bin ein schlechter Arbeiter. Aber lesen kann ich.«
»Du kannst lesen?«
»Ja. Gott hat mir dazu verholfen, auch die guten Menschen.«
»Hast du Familie?«
»Nein, keine.«
»Wieso . . .? Sind dir alle gestorben?«
»Nein, ich hab’ einfach kein Glück im Leben gehabt. Das hängt aber alles von Gott ab, wir sind alle in Gottes Hand; doch der Mensch muß gerecht sein – das ist es! Das heißt, gottgefällig.«
»Hast du keine Verwandten?«
»Ja . . . aber . . .«
Der Alte wurde verlegen.
»Sag bitte«, begann ich, »es kam mir vor, als hätte dich mein Kutscher gefragt, warum du den Martyn nicht gesund gemacht hast. Verstehst du denn Kranke zu behandeln?«
»Dein Kutscher ist ein gerechter Mensch«, antwortete Kaßjan nachdenklich, »aber auch er ist nicht ohne Sünde. Man nennt mich einen Doktor . . . Was bin ich für ein Doktor . . .! Und wer kann einen Kranken heilen? Das alles ist von Gott. Aber es gibt . . . Kräuter, Blumen; Diese helfen wirklich. Da ist zum Beispiel das Kraut Wasserdost sehr gut für den Menschen, auch der Wegerich; es ist keine Schande, von ihnen zu sprechen, es sind ja reine Kräuter Gottes. Die andern sind aber nicht so: Sie helfen zwar, aber es ist Sünde; es ist Sünde, von ihnen zu sprechen. Höchstens mit einem Gebet . . . Es gibt natürlich auch gewisse Worte . . . Wer aber glaubt, der wird gerettet«, fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu.
»Hast du dem Martyn nichts eingegeben?« fragte ich.
»Ich hab’ es zu spät erfahren«, antwortete der Alte. »Aber was soll man machen, es ist einem jeden schon bei seiner Geburt bestimmt. Dem Zimmermann Martyn war es nicht beschieden, lange auf dieser Erde zu leben, nein, es war ihm nicht beschieden. Und wenn es einem Menschen nicht beschieden ist zu leben, so wärmt ihn die Sonne nicht wie einen anderen, und das Brot schlägt ihm nicht an – es ist, als ob man ihn abriefe . . . Ja, Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe!«
»Ist es lange her, daß man euch hierher übersiedelt hat?« fragte ich nach kurzem Schweigen. Kaßjan fuhr zusammen.
»Nein, es ist nicht lange her, nur vier Jahre. Beim alten Herrn lebten wir alle auf unseren alten Wohnsitzen, das Vormundschaftsgericht hat uns aber übersiedelt. Unser alter Herr war eine gute Seele, ein bescheidener Mensch, Gott hab’ ihn selig! Nun, das Vormundschaftsgericht wußte wohl, was es tat; es mußte wohl so sein.«
»Wo habt ihr früher gelebt?«
»Wir sind aus Krassiwaja-Metsch.«
»Ist es weit von hier?«
»An die hundert Werst.«
»Nun, habt ihr es dort besser gehabt?«
»Ja, besser . . . besser. Die Gegend ist dort freier und wasserreicher, es war unser Nest, hier ist es aber eng und trocken . . . Hier sind wir verwaist. Wenn man dort, in Krassiwaja-Metsch, auf einen Hügel steigt, mein Gott, was sieht man nicht alles . . .! Den Fluß, Wiesen und Wald; die Kirche, und dann wieder Wiesen. Weit, weit kann man dort sehen. So weit . . . man schaut, man schaut mein Gott! Hier ist freilich der Boden besser, Lehmboden, guter Lehmboden, sagen die Bauern; aber für mich gedeiht überall Brot genug.«
»Sag mal, Alter, die Wahrheit, du möchtest wohl gern die Heimat wiedersehen?«