Kitabı oku: «Aufzeichnungen eines Jägers», sayfa 10
»Ja, das möchte ich gern. Übrigens ist es überall gut. Ich habe keine Familie, bin ein unruhiger Mensch. Was hat man auch, wenn man immer zu Hause hockt? Wenn man aber wandert, wenn man wandert«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »so ist es gleich leichter ums Herz. Die Sonne wärmt dich, Gott sieht dich überall, und es singt sich besser. Hier siehst du, was für ein Kraut da wächst, du merkst es und pflückst es dir. Dort fließt ein Wasser, Quellwasser, es ist heiliges Wasser, du trinkst davon und merkst es dir. Die Vögel des Himmels singen . . . Hinter Kursk beginnt aber die Steppe, ein wahres Wunder, eine Augenweide für den Menschen – diese Freiheit, dieser Segen Gottes! Die Steppe zieht sich, wie die Leute sagen, bis zum warmen Meere hin, wo der Vogel Gamajun mit der süßen Stimme lebt, wo das Laub von den Bäumen weder im Winter noch im Herbste fällt, wo goldene Äpfel auf silbernen Ästen wachsen und jeder Mensch in Zufriedenheit und Gerechtigkeit lebt . . . Dorthin wäre ich wohl gern gegangen . . . Ich bin schon viel herumgekommen! Bin in Romny gewesen, in der schönen Stadt Simbirsk und auch in Moskau mit den goldenen Kuppeln; ich war an der Oka, der Ernährerin, an der Zna, dem Täubchen, und an der Mutter Wolga, habe viele Menschen gesehen, gute Christen, habe viele fromme Städte besucht . . . So würde ich gern hingehen . . . Und nicht ich Sünder allein . . . viele andere Christen gehen in Bastschuhen durch die Welt und suchen die Wahrheit . . . ja . . .! Was hat man aber zu Hause? Es ist keine Gerechtigkeit im Menschen, das ist es . . .«
Die letzten Worte sprach Kaßjan sehr schnell, fast unverständlich; dann sagte er noch etwas, was ich gar nicht hören konnte, sein Gesicht nahm aber einen so merkwürdigen Ausdruck an, daß ich unwillkürlich an das Wort ›Narr in Christo‹ denken mußte. Er schlug die Augen nieder, hüstelte und kam gleichsam zu sich.
»Diese Sonne!« sagte er halblaut. »Dieser Segen, mein Gott! So warm im Walde!«
Er zuckte die Achseln, schwieg eine Weile, sah zerstreut um sich und stimmte ein leises Lied an. Ich konnte nicht alle Worte seines gedehnten Liedes verstehen; folgendes hörte ich:
»Doch mein Name ist Kaßjan,
bei den Leuten heiß’ ich Floh . . .«
Ah! dachte ich mir – er dichtet auch! – Plötzlich fuhr er zusammen, verstummte und blickte unverwandt ins Waldesdickicht. Ich wandte mich um und sah ein kleines Bauernmädchen von etwa acht Jahren, in einem blauen Sarafan, mit einem gewürfelten Tuch auf dem Kopf und einem geflochtenen Körbchen auf dem sonnenverbrannten, bloßen Arm. Sie hatte wohl nicht erwartet, uns hier zu treffen; sie war auf uns sozusagen gestoßen und stand unbeweglich im grünen Schatten des Haselgebüsches, auf der schattigen Waldwiese und betrachtete mich scheu mit ihren schwarzen Augen. Ich hatte kaum Zeit gehabt, sie mir näher anzusehen, denn sie verschwand gleich hinter einem Baum.
»Annuschka! Annuschka! Komm mal her, fürchte dich nicht«, rief ihr der Alte freundlich zu.
»Ich fürchte mich«, antwortete ein dünnes Stimmchen.
»Fürchte dich nicht, komm zu mir.«
Annuschka verließ schweigend ihr Versteck, ging langsam herum – ihre kindlichen Füße traten kaum hörbar auf das dichte Gras – und kam dicht neben dem Alten aus dem Dickicht heraus. Das Mädchen war nicht acht Jahre alt, wie ich anfangs, da sie so klein war, geglaubt hatte, sondern dreizehn oder vierzehn. Ihr Körper war klein und schmächtig, aber biegsam und gewandt; das hübsche Gesichtchen hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Gesicht Kaßjans, obwohl Kaßjan durchaus kein schöner Mann war. Die gleichen scharfen Züge, der gleiche seltsame Blick, schlau und zutraulich, nachdenklich und durchdringend, auch die gleichen Bewegungen . . . Kaßjan sah sie an; sie stand seitwärts zu ihm.
»Nun, hast du Pilze gesammelt?« fragte er.
»Ja, Pilze«, antwortete sie mit einem schüchternen Lächeln.
»Hast du viel gefunden?«
»Ja, viel.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und lächelte wieder.
»Sind auch weiße dabei?«
»Auch weiße.«
»Zeig mal, zeig mal . . .«
Sie ließ das Körbchen vom Arme gleiten und hob das große Blatt, mit dem die Pilze bedeckt waren, halb in die Höhe.
»Ach!« sagte Kaßjan, sich über das Körbchen beugend: »So schöne Pilze! Brav, Annuschka!«
»Ist es deine Tochter, Kaßjan, wie?« fragte ich.
Annuschkas Gesicht rötete sich leicht.
»Nein, eine Verwandte«, versetzte Kaßjan mit geheuchelter Gleichgültigkeit. »Nun, Annuschka, geh«, fügte er sofort hinzu, »geh mit Gott. Paß aber auf . . .«
»Warum soll sie zu Fuß gehen?« unterbrach ich ihn. »Wir können sie doch im Wagen mitnehmen . . .«
Annuschka wurde rot wie eine Mohnblüte, faßte mit beiden Händen die Schnur des Körbchens und sah den Alten unruhig an.
»Nein, sie kommt auch zu Fuß hin«, antwortete er mit derselben gleichgültigen und trägen Stimme. »Was macht es ihr . . .? Sie kommt auch so hin . . . Geh.«
Annuschka verschwand schnell im Wald. Kaßjan blickte ihr nach, schlug dann die Augen nieder und lächelte. In diesem langen Lächeln, in den wenigen Worten, die er zu Annuschka gesagt, und selbst im Ton seiner Stimme, mit der er zu ihr gesprochen hatte, lag eine unsagbare leidenschaftliche Liebe und Zärtlichkeit. Er blickte noch einmal in die Richtung, wo sie verschwunden war, lächelte wieder, rieb sich das Gesicht und schüttelte einige Male den Kopf.
»Warum hast du sie so schnell weggeschickt?« fragte ich ihn. »Ich hätten ihr die Pilze abgekauft . . .«
»Sie können sie auch zu Hause kaufen, wenn Sie mögen«, antwortete er mir; er sprach mich zum ersten Male mit Sie an.
»Das Mädel ist aber wunderhübsch.«
»Nein . . . wo . . .«, antwortete er gleichsam widerwillig und verfiel von diesem Augenblick an in seine frühere Schweigsamkeit.
Als ich sah, daß alle meine Bemühungen, ihn zum Sprechen zu bringen, vergeblich blieben, ging ich wieder an die abgeholzte Stelle. Außerdem hatte die Hitze etwas nachgelassen; aber mein Mißgeschick hielt an, und ich kehrte mit einem einzigen Wachtelkönig und mit der neuen Achse zur Siedlung zurück. Kurz vor seinem Hof wandte sich Kaßjan plötzlich zu mir um.
»Herr, du, Herr!« sagte er: »Ich bin vor dir schuldig: Ich habe dir das ganze Wild vertrieben.«
»Wieso?«
»Das weiß ich schon. Du hast einen guten, gelehrten Hund, aber auch er konnte nichts ausrichten. Man denkt sich, was kann so ein Mensch, wie? Da ist auch ein Tier, was hat man aber aus ihm gemacht?«
Es wäre vergebens, Kaßjan von der Unmöglichkeit zu überzeugen, das Wild zu besprechen. Darum antwortete ich ihm nichts. Auch fuhren wir schon zum Tor hinein.
Annuschka war nicht in der Stube; sie war schon dagewesen und hatte das Körbchen mit den Pilzen zurückgelassen. Jerofej brachte die neue Achse an, nachdem er sie zuvor einer strengen und ungerechten Kritik unterworfen hatte; nach einer Stunde fuhr ich ab und ließ Kaßjan etwas Geld zurück, das er erst nicht annehmen wollte, dann aber, nachdem er es eine Zeitlang auf der flachen Hand gehalten, doch in den Busen steckte. Im Laufe dieser Stunde sprach er fast kein einziges Wort; er stand wie früher ans Tor gelehnt, beantwortete die Vorwürfe meines Kutschers nicht und nahm von mir recht kühl Abschied.
Gleich nach meiner Rückkehr merkte ich, daß mein Jerofej sich wieder in einer düsteren Gemütsstimmung befand . . . Er hatte in der Tat im ganzen Dorf nichts Eßbares auftreiben können, und auch das Wasser für die Pferde war schlecht. Wir fuhren ab. Er saß mit einem Mißvergnügen, das sich sogar in seinem Nacken spiegelte, auf dem Bock und hatte furchtbar große Lust, mit mir zu reden; aber in Erwartung, daß ich an ihn zuerst eine Frage richte, beschränkte er sich auf ein leises Brummen und auf belehrende, mitunter auch beißende Worte, die er an die Pferde richtete. »Das nennt sich auch ein Dorf!« murmelte er. »Ein schönes Dorf! Ich fragte nach Kwaß, sie haben nicht mal Kwaß . . . Du, mein Gott! Das Wasser ist aber einfach zum Speien!« Er spuckte laut aus. »Weder Gurken noch Kwaß, gar nichts . . . Du, du!« fügte er laut hinzu, sich an das rechte Seitenpferd wendend: »Ich kenne dich, du Heuchler! Du machst es dir leicht . . .« Er versetzte ihm einen Schlag mit der Peitsche. »Das Pferd hat seine ganze Rechtschaffenheit verloren, war aber früher ein so gehorsames Tier . . . Nun, nun, sieh dich nur um!«
»Sag mal bitte, Jerofej«, begann ich, »was ist dieser Kaßjan für ein Mensch?«
Jerofej gab mir nicht sogleich Antwort. Er war überhaupt ein Mann, der sich alles lange überlegte und sich nicht übereilte; aber ich konnte gleich merken, daß meine Frage ihn erheiterte und beruhigte.
»Der Floh?« begann er endlich, indem er an den Zügeln zupfte: »Ein merkwürdiger Mensch, ein Narr in Christo; einen so merkwürdigen Menschen findet man nicht leicht wieder. Er ist ganz wie unser Brauner: Auch er ist ganz aus Rand und Band geraten . . . das heißt, er will gar nicht arbeiten. Freilich, was ist er auch für ein Arbeiter . . .? Er atmet ja kaum, aber dennoch . . . Er ist von Kind auf so. Anfangs war er mit seinen Onkeln Fuhrmann; seine Onkel hielten Troikas; dann wurde es ihm aber zu dumm, und er gab es auf. Er lebte zu Hause, konnte aber zu Hause nicht lange aushalten: So unruhig ist er wie ein Floh. Zum Glück hatte er einen guten Herrn, der zwang ihn zu nichts. Seitdem treibt er sich immer herum wie ein herrenloses Schaf. Ein merkwürdiger Mensch, weiß Gott: Bald schweigt er wie ein Baumstumpf, bald fängt er zu reden an; was er aber zusammenredet, das weiß Gott allein. Ist das eine Manier? Das ist doch keine Manier. Ein unsinniger Mensch, wirklich. Aber er singt gut. So feierlich, da ist nichts zu sagen.«
»Behandelt er Kranke?«
»Ach was . . .! Wie kommt er dazu! So ein Mensch! Mich hat er übrigens von den Skrofeln geheilt . . . Wie kommt er dazu! Ein ganz dummer Mensch«, fügte er nach einer Pause hinzu.
»Kennst du ihn schon lange?«
»Schon lange. Wir waren in Sytschowka Nachbarn an der Krassiwaja-Metsch.«
»Und das Mädel, das wir im Walde sahen, die Annuschka, ist sie mit ihm verwandt?«
Jerofej sah mich über die Schulter an und grinste übers ganze Gesicht.
»Ha . . .! Ja, verwandt. Sie ist ein Waisenkind; sie hat keine Mutter, und man weiß auch nicht, wer ihre Mutter war. Muß aber mit ihm verwandt sein, sie sieht ihm gar zu ähnlich . . . Sie lebt bei ihm. Ein flinkes Mädel, das muß man wohl sagen, ein gutes Mädel, der Alte liebt sie mit ganzer Seele, ein nettes Mädel. Sie werden es mir nicht glauben, aber er ist imstande, seine Annuschka lesen zu lehren. Bei Gott, das sieht ihm ähnlich, so ein ungewöhnlicher Mensch ist er eben. Ein unbeständiger, unberechenbarer Mensch . . . He, he, he!« unterbrach mein Kutscher plötzlich sich selbst. Er hielt die Pferde an, neigte sich auf die Seite und begann in der Luft zu schnuppern. »Ich glaube, es ist Brandgeruch? Wirklich! Diese neuen Achsen . . . Dabei habe ich sie so geschmiert . . . Ich muß schauen, daß ich etwas Wasser auftreibe: Da ist auch ein kleiner Teich.«
Jerofej kletterte langsam vom Bock, band den Eimer ab, ging zum Teich, kehrte zurück und hörte mit Vergnügen zu, wie die plötzlich mit Wasser übergossene Radbuchse zischte . . . Auf der Strecke von zehn Werst mußte er an die sechsmal die heißgelaufene Achse begießen, und es war schon ganz finster, als wir nach Hause zurückkehrten.
Burmistr 3
Etwa fünfzehn Werst von meinem Gut wohnt ein Bekannter von mir, ein junger Gutsbesitzer, der Gardeoffizier a. D. Arkadij Pawlytsch Pjenotschkin. Auf seiner Besitzung gibt es viel Wild, sein Haus ist nach dem Plan eines französischen Architekten errichtet, seine Leute sind englisch gekleidet, er gibt ausgezeichnete Diners und empfängt seine Gäste gastfreundlich, und doch fährt man nicht gern zu ihm hin. Er ist ein vernünftiger und solider Mensch, hat, wie es so geht, eine ausgezeichnete Erziehung genossen, hat gedient und sich in der höchsten Gesellschaft bewegt, und nun treibt er mit großem Erfolg Landwirtschaft. Arkadij Pawlytsch ist, um mit seinen eigenen Worten zu reden, streng, aber gerecht; er sorgt für das Wohl seiner Untertanen und straft sie nur zu ihrem eigenen Besten. »Man muß sie behandeln wie die Kinder«, pflegt er in solchen Fällen zu sagen. »Die Unbildung, mon cher; il faut prendre cela en considération.« Selbst im Fall einer sogenannten traurigen Notwendigkeit vermeidet er hastige und heftige Bewegungen und erhöht nicht gern den Ton seiner Stimme; er stößt vielmehr direkt mit der Faust und spricht dabei ruhig: »Ich habe dich ja gebeten, mein Lieber«, oder: »Was hast du, mein Freund? Besinne dich doch!« Dabei drückt er nur die Zähne aufeinander und verzieht den Mund. Er ist nicht groß gewachsen, elegant gebaut und recht hübsch; seine Hände und Nägel hält er sehr sauber; seine roten Lippen und Wangen atmen Gesundheit. Er lacht laut und sorglos und blinzelt freundlich mit seinen hellen braunen Augen. Er kleidet sich vorzüglich und geschmackvoll; er verschreibt sich französische Bücher, Bilder und Zeitungen, ist aber kein großer Freund vom Lesen: Nur mit Mühe ist er mit dem Ewigen Juden fertig geworden. Im Kartenspiel ist er Meister. Arkadij Pawlytsch gilt überhaupt als einer der gebildetsten Edelleute und eine der begehrenswertesten Partien in unserem Gouvernement; die Damen sind bezaubert von ihm und loben insbesondere seine Manieren. Er hat ein wunderbares Benehmen, ist vorsichtig wie eine Katze und ist während seines ganzen Lebens in keine einzige Geschichte verwickelt gewesen, obwohl er es bei Gelegenheit liebt, seine Meinung zu sagen und einen schüchternen Menschen zu verblüffen und zum Schweigen zu bringen. Schlechte Gesellschaft meidet er auf die entschiedenste Weise, da er fürchtet, sich irgendwie zu kompromittieren; dafür erklärt er sich oft in einer heiteren Stunde für einen Jünger Epikurs, obwohl er im allgemeinen über die Philosophie abfällig urteilt und sie eine neblige Nahrung deutscher Geister, manchmal auch einfach einen Unsinn nennt. Er liebt auch Musik und singt beim Kartenspiel durch die Zähne, aber mit Gefühl; er kennt einige Stellen aus der Lucia und aus der Somnambule, singt sie aber etwas zu hoch. Im Winter fährt er immer nach Petersburg. Sein Haus ist in einer wunderbaren Ordnung; selbst die Kutscher haben sich seinem Einfluß gefügt und putzen nicht nur alle Tage die Kumte und ihre Röcke, sondern waschen sich auch täglich ihre Gesichter. Die Leibeigenen Arkadij Pawlytschs blicken zwar etwas finster drein, aber bei uns in Rußland kann man einen mürrischen Menschen nur schwer von einem verschlafenen unterscheiden. Arkadij Pawlytsch spricht mit einer weichen, angenehmen Stimme, in Absätzen, und scheint jedes Wort mit Vergnügen durch seinen schönen, parfümierten Schnurrbart hindurchzulassen; er gebraucht auch viele französische Ausdrücke, wie: »Mais c’est impayable!« »Mais comment donc!« und so weiter. Trotz alledem besuche ich ihn nicht allzu gern, und wären nicht die Birk- und Rebhühner, so hätte ich wohl jeden Verkehr mit ihm abgebrochen. Eine seltsame Unruhe bemächtigt sich euer in seinem Haus; selbst der Komfort freut euch nicht, und wenn vor euch am Abend der Kammerdiener mit gekräuseltem Haar, in blauer Livree mit Wappenknöpfen, erscheint und euch mit knechtischer Dienstfertigkeit die Stiefel auszuziehen beginnt, fühlt ihr, daß, wenn statt dieses bleichen und ausgemergelten Menschen vor euch plötzlich die erstaunlich breiten Backenknochen und die unwahrscheinlich stumpfe Nase eines kräftigen jungen Bauernburschen erschiene, den der Herr soeben vom Pflug geholt hat, der aber schon Zeit gefunden hat, den ihm vor kurzem verliehenen Nankingrock an zehn Stellen zu zerreißen – ihr euch unsagbar freuen und euch gern der Gefahr aussetzen würdet, zugleich mit dem Stiefel auch das ganze Bein bis zum Gelenk zu verlieren . . .
Trotz meiner Abneigung gegen Arkadij Pawlytsch traf es sich einmal doch, daß ich bei ihm über Nacht bleiben mußte. Am nächsten Morgen ließ ich meinen Wagen anspannen, er wollte mich aber nicht ohne ein Frühstück nach englischer Manier fortlassen und führte mich in sein Kabinett. Mit dem Tee reichte man uns Koteletts, weiche Eier, Butter, Honig, Käse usw. Zwei Kammerdiener in sauberen weißen Handschuhen kamen rasch und stumm unseren geringsten Wünschen zuvor. Wir saßen auf einem persischen Diwan. Arkadij Pawlytsch trug eine weite, seidene Pluderhose, eine schwarze Samtjoppe, einen hübschen Fez mit blauer Quaste und gelbe, chinesische, hinten offene Pantoffeln. Er trank seinen Tee, lachte, betrachtete seine Fingernägel, rauchte, schob sich Kissen hinter den Rücken und fühlte sich überhaupt in der besten Laune. Nachdem er ausgiebig und mit sichtbarem Vergnügen gefrühstückt hatte, schenkte sich Arkadij Pawlytsch ein Glas Rotwein ein, führte es an die Lippen und runzelte plötzlich die Stirn.
»Warum ist der Wein nicht gewärmt?« fragte er ziemlich barsch einen der Kammerdiener.
Der Kammerdiener verlor die Fassung, blieb wie angewurzelt stehen und erbleichte.
»Ich habe dich gefragt, mein Bester!« fuhr Arkadij Pawlytsch ruhig fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Der unglückliche Kammerdiener trat von einem Fuß auf den anderen, drehte die Serviette in der Hand und versetzte kein Wort. Arkadij Pawlytsch senkte den Kopf und sah ihn nachdenklich mit krauser Stirn an.
»Pardon, mon cher«, versetzte er mit einem angenehmen Lächeln, mein Knie freundschaftlich mit der Hand berührend, und richtete dann den Blick wieder auf den Kammerdiener. »Nun, geh«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. Dann zog er die Brauen hoch und schellte.
Ein dicker, brauner, schwarzhaariger Mann mit niedriger Stirn und im Fett verschwindenden Augen trat ins Zimmer.
»Wegen Fjodor . . . ist ein Befehl zu erteilen«, sagte Arkadij Pawlytsch halblaut mit vollkommener Selbstbeherrschung.
»Zu Befehl«, antwortete der Dicke und ging hinaus.
»Voilà, mon cher, les désagréments de la campagne«, bemerkte Arkadij Pawlytsch lustig. – »Wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch, sitzen Sie noch ein Weilchen da.«
»Nein«, antwortete ich, »ich muß fort.«
»Immer auf die Jagd! Ach, diese Jäger! Wo fahren Sie denn jetzt hin?«
»Vierzig Werst von hier, nach Rjabowo.«
»Nach Rjabowo? Ach, mein Gott, in diesem Fall fahre ich mit Ihnen. Rjabowo liegt nur fünf Werst von meinem Gut Schipilowka entfernt; in Schipilowka bin ich aber schon lange nicht gewesen, ich kam einfach nicht dazu . . . So trifft es sich ausgezeichnet: Heute können Sie in Rjabowo jagen und kommen am Abend zu mir. Ce sera charmant. Wir werden zusammen zum Abend essen – wir nehmen den Koch mit. Sie werden bei mir übernachten. Wunderschön! Ausgezeichnet!« fügte er hinzu, ohne erst meine Antwort abzuwarten. »C’est arrangé . . . He, wer ist da? Laßt uns den Wagen anspannen, aber schnell. Sind Sie noch nie in Schipilowka gewesen? Ich würde mich schämen, Ihnen vorzuschlagen, die Nacht im Hause meines Burmistrs zu verbringen, aber ich weiß, Sie sind nicht heikel, auch in Rjabowo müßten Sie in einem Heuschuppen übernachten . . . Also wir fahren!«
Und Arkadij Pawlytsch stimmte irgendein französisches Lied an.
»Sie wissen vielleicht nicht«, fuhr er fort, sich auf beiden Beinen wiegend, »meine Bauern sind dort auf Zins gesetzt. Konstitution, was soll man machen? Aber sie zahlen den Zins pünktlich. Ich hätte sie, offen gestanden, schon längst auf Frondienst gesetzt, aber ich habe zu wenig Land! Ich wundere mich auch so, wie sie auskommen. Übrigens, c’est leur affaire. Mein Burmistr ist ein tüchtiger Kerl, une forte tête, ein Staatsmann! Sie werden es sehen . . . Es trifft sich wirklich ausgezeichnet.«
Es war nichts zu machen. Statt um neun Uhr früh fuhren wir erst um zwei ab. Die Jäger werden meine Ungeduld begreifen. Arkadij Pawlytsch liebte es, wie er sich ausdrückte, sich bei Gelegenheit zu verwöhnen, und nahm eine solche Menge Wäsche, Vorräte, Kleider, Parfüms, Kissen und allerlei Necessaires mit, daß dieser Gottessegen manchem sparsamen und sich beherrschenden Deutschen wohl für ein Jahr gereicht haben würde. Sooft es bergab ging, hielt Arkadij Pawlytsch eine kurze, aber eindringliche Rede an seinen Kutscher, woraus ich ersehen konnte, daß mein Bekannter ein ordentlicher Hasenfuß war. Die Reise ging aber sehr glücklich vonstatten; nur auf einem vor kurzem ausgebesserten Brückchen stürzte der Wagen mit dem Koch um, und das Hinterrad drückte ihm den Magen ab.
Als Arkadij Pawlytsch den Sturz seines selbstgezogenen Carêmes sah, erschrak er ernstlich und ließ sich sogleich erkundigen, ob seine Hände ganz seien. Als er eine bejahende Antwort erhielt, beruhigte er sich sofort. So fuhren wir ziemlich lange; ich saß im gleichen Wagen mit Arkadij Pawlytsch und empfand gegen das Ende der Fahrt eine tödliche Langeweile, um so mehr, als mein Bekannter im Laufe der einigen Stunden am Ende seiner Weisheit war und zu liberalisieren anfing. Endlich kamen wir an, aber nicht in Rjabowo, sondern direkt in Schipilowka: So hatte es sich irgendwie gefügt. An diesem Tag konnte ich ohnehin nicht mehr jagen und ergab mich daher wohl oder übel in mein Schicksal.
Der Koch war einige Minuten vor uns angekommen und hatte offenbar schon verschiedene Anordnungen getroffen und die in Betracht kommenden Personen benachrichtigt, denn gleich an der Dorfgrenze empfing uns der Schulze (ein Sohn des Burmistrs), ein kräftiger, rothaariger Bauer von Klaftergröße, zu Pferde, ohne Mütze, mit einem neuen, vorne offenstehenden Kittel angetan. – »Wo ist denn Sofron?« fragte ihn Arkadij Pawlytsch. Der Schulze sprang schnell vom Pferd, verbeugte sich tief vor dem Herrn und sagte: »Guten Tag, Väterchen Arkadij Pawlytsch!« Dann hob er den Kopf, schüttelte sich und meldete, Sofron sei nach Perow gefahren, man habe aber schon nach ihm geschickt. – »Nun, komm mit uns«, sagte Arkadij Pawlytsch. Der Schulze führte sein Pferd aus Anstand auf die Seite, schwang sich hinauf und folgte, die Mütze in der Hand, in leichtem Trab unserem Wagen. Wir fuhren durchs Dorf. Wir begegneten einigen Bauern in leeren Wagen; sie kamen von der Dreschtenne und sangen Lieder, wobei sie mit dem ganzen Körper wackelten und mit den Beinen in der Luft zappelten; aber als sie unseren Wagen und den Schulzen sahen, verstummten sie plötzlich, zogen ihre Wintermützen ab (es war im Sommer) und erhoben sich, als warteten sie auf Befehle. Arkadij Pawlytsch grüßte sie gnädig. Durch das ganze Dorf verbreitete sich sichtlich eine Unruhe und Aufregung. Weiber in gewürfelten Röcken warfen Holzscheite nach den unverständigen und allzu eifrigen Hunden; ein lahmer Greis mit einem Bart, der dicht unter den Augen anfing, riß ein Pferd, das seinen Durst noch nicht gestillt hatte, vom Brunnen weg, schlug es ohne jeden Grund auf die Seite und machte erst dann seine Verbeugung; Jungen in langen Hemden rannten heulend in die Häuser, legten sich mit dem Bauch auf die Schwellen, ließen die Köpfe herabhängen, hoben die Beine in die Höhe und rollten auf diese Weise recht geschickt hinter die Tür in den dunklen Flur, aus dem sie nicht mehr zum Vorschein kamen. Zwei Hühner liefen in beschleunigtem Trab unter ein Tor; ein tapferer Hahn mit schwarzer Brust, die wie eine Atlasweste aussah, und einem roten Schwanz, der sich beinahe bis zum Kamm krümmte, blieb auf der Straße stehen und wollte sogar zu krähen anfangen, wurde aber plötzlich verlegen und lief gleichfalls davon. Das Haus des Burmistrs stand mitten in einem dichten, grünen Hanffelde. Wir hielten vor dem Tore. Herr Pjenotschkin erhob sich, warf sich malerisch den Mantel von den Schultern und stieg aus dem Wagen, freundliche Blicke um sich werfend. Die Frau des Burmistrs empfing uns mit tiefen Bücklingen und küßte dem Herrn die Hand. Arkadij Pawlytsch erlaubte ihr, sich satt zu küssen, und trat auf die Treppe. In einem dunklen Winkel des Flures stand die Frau des Schulzen und verneigte sich gleichfalls, wagte aber nicht, die Hand zu küssen. In der sogenannten kalten Stube, rechts vom Flur, machten sich schon zwei andere Weiber zu schaffen: Sie trugen von dort allerlei Plunder heraus, leere Zuber, wie Holz steife Schafspelze, Buttertöpfe, eine Wiege mit einem Haufen Lumpen und einem bunten Kind und fegten mit Badebesen den Kehricht aus. Arkadij Pawlytsch schickte sie hinaus und ließ sich auf der Bank unter den Heiligenbildern nieder. Die Kutscher fingen an, die Kasten, Schatullen und die übrigen Bequemlichkeiten hereinzutragen, wobei sie sich die größte Mühe gaben, den Lärm, den ihre schweren Stiefel machten, zu dämpfen.
Arkadij Pawlytsch fragte indessen den Schulzen nach der Ernte, nach der Saat und anderen Wirtschaftsangelegenheiten aus. Der Schulze gab befriedigende Antwort, sprach aber irgendwie matt und ungeschickt, als knöpfte er mit erfrorenen Fingern einen Kaftan zu. Er stand bei der Tür und sah sich fortwährend unruhig um, um dem schnellen, flinken Kammerdiener den Weg freizulassen. Hinter seinen mächtigen Schultern konnte ich sehen, wie die Frau des Burmistrs im Flur irgendein anderes Weib prügelte. Plötzlich polterte ein Wagen und hielt vor der Tür: Der Burmistr trat in die Stube.
Dieser Staatsmann, wie ihn Arkadij Pawlytsch nannte, war nicht groß von Wuchs, breitschultrig, grauhaarig und stämmig; er hatte eine rote Nase, kleine blaue Augen und einen fächerförmigen Vollbart. Bei dieser Gelegenheit wollen wir bemerken, daß es, seitdem Rußland besteht, noch keinen Fall gab, daß ein zum Reichtum gelangter Mensch nicht einen breiten Vollbart hätte; mancher trug sein Leben lang ein dünnes, keilförmiges Bärtchen, und plötzlich sieht man sein Gesicht wie von einem Heiligenschein eingefaßt – man wundert sich bloß, wo die Haare herkommen! Der Burmistr hatte in Perow wohl getrunken: Sein Gesicht war ordentlich aufgedunsen, auch roch er nach Schnaps.
»Ach, unser Väterchen, unser gnädigster Herr!« begann er singend und mit einem so andächtigen Ausdruck, als wollte er in Tränen ausbrechen. »Da sind Sie endlich gekommen . . .! Ihr Händchen, Väterchen, Ihr Händchen!« fügte er hinzu, die Lippen schon vorher zum Kusse spitzend.
Arkadij Pawlytsch erfüllte diesen Wunsch.
»Nun, Bruder Sofron, wie stehen deine Sachen?« fragte er freundlich.
»Ach, unser Väterchen!« rief Sofron. »Wie sollten unsere Sachen schlecht stehen? Sie, Väterchen, haben ja geruht, unser Dorf durch Ihren Besuch zu erleuchten, haben uns bis ans Ende unserer Tage glücklich gemacht. Gott sei Dank, Arkadij Pawlytsch, Gott sei Dank! Alles ist dank Ihrer Gnade in bester Ordnung.«
Hier machte Sofron eine Pause, sah seinen Herrn an und verlangte, wie unter einem neuen Ansturm von Gefühlen (auch der Rausch war mit im Spiel), zum zweitenmal nach dem Händchen; dann sang er noch schöner als vorhin: »Ach, Sie unser Vater, unser gnädigster Herr . . . und . . . was soll ich noch sagen! Bei Gott, ich bin vor Freude ganz närrisch geworden . . . Bei Gott, ich sehe und traue meinen Augen nicht . . . Ach, Sie unser Vater . . .!«
Arkadij Pawlytsch warf mir einen Blick zu, lächelte und fragte: »N’est-ce pas que c’est touchant?«
»Ja, Väterchen Arkadij Pawlytsch«, fuhr der unermüdliche Burmistr fort, »wie ist es nun? Sie haben mir solchen Kummer gemacht, Väterchen: Sie haben gar nicht geruht, mich von Ihrem Besuch zu benachrichtigen. Wo wollen Sie denn die Nacht zubringen? Hier ist es ja schmutzig und nicht gekehrt . . .«
»Es macht nichts, Sofron, es macht nichts«, antwortete Arkadij Pawlytsch mit einem Lächeln. »Hier ist es gut.«
»Aber, Väterchen, für wen ist es gut? Für unsereinen, für einen Bauern ist es gut; aber Sie . . . Ach, Väterchen, gnädigster Herr, ach, Väterchen . . .! Verzeihen Sie mir altem Narren, ich bin vor Freude, bei Gott, ganz närrisch geworden.«
Indessen brachte man uns das Abendbrot; Arkadij Pawlytsch begann zu speisen. Der Alte jagte seinen Sohn hinaus: »Du verdirbst hier nur die Luft.«
»Nun, Alter, hast du dich mit den Nachbarn wegen der Grenzen geeinigt?« fragte Herr Pjenotschkin, der sich sichtlich bemühte, den Ton der Bauernsprache zu treffen, und mir zublinzelte.
»Wir haben uns geeinigt, Väterchen, alles durch deine Gnade. Vorgestern haben wir das Papier unterschrieben. Die Chlynowschen machten anfangs Schwierigkeiten . . . sie machten Schwierigkeiten, Väterchen. Sie verlangten . . . sie verlangten . . . Gott weiß, was sie alles verlangten. Sie sind ja Narren, Väterchen, ganz dumme Menschen. Wir aber, Väterchen, haben durch deine Gnade unseren Dank bezeugt und Mikolai Mikolajitsch, den Schiedsrichter, zufriedengestellt; alles machten wir nach deinem Befehl, Väterchen; wie du uns zu befehlen geruhtest, so handelten wir; auch mit Wissen des Jegor Dmitritsch wurde alles gemacht.«
»Jegor hat es mir gemeldet«, bemerkte Arkadij Pawlytsch wichtig.
»Gewiß, Väterchen, gewiß – Jegor Dmitritsch.«
»Nun, seid ihr zufrieden?«
Sofron hatte nur darauf gewartet. »Ach, unser Väterchen, unser gnädigster Herr!« sang er von neuem. »Erbarmen Sie sich meiner . . . wir beten ja für Sie, Väterchen, Tag und Nacht zu Gott . . . Nur haben wir etwas zu wenig Land . . .«
Pjenotschkin unterbrach ihn. »Ist schon recht, ist schon recht, Sofron, ich weiß, du bist ein treuer Diener . . . Und wie ist der Ausdrusch?«
Sofron seufzte.
»Ach, Väterchen, der Ausdrusch ist nicht allzu gut. Erlauben Sie aber, Väterchen Arkadij Pawlytsch, Ihnen zu melden, was für eine Sache hier passiert ist.« Er näherte sich bei diesen Worten mit aufgeregten Handbewegungen Herrn Pjenotschkin, bückte sich und kniff ein Auge zusammen. »Man hat auf unserem Grund eine Leiche gefunden.«
»Wieso?«
»Ich kann es gar nicht begreifen, Väterchen; der Teufel hat wohl die Hand im Spiel gehabt. Zum Glück lag sie dicht an einer fremden Grenze; aber doch, offen gestanden, auf unserem Grund. Ich ließ sie sogleich, solange es noch ging, auf den fremden Keil schleppen, stellte Wachen auf und befahl unseren Leuten, den Mund zu halten. Dem Kreispolizisten meldete ich es aber für jeden Fall: Solche Dinge geschehen halt, sagte ich ihm; ich traktierte ihn auch mit Tee und erwies ihm auch sonst meine Erkenntlichkeit . . . Und was glauben Sie, Väterchen? Die Sache blieb den Fremden auf dem Halse; so eine Leiche kostet aber der Gemeinde gleich zweihundert Rubel, nicht mehr und nicht weniger.«
Herr Pjenotschkin lachte viel über den schlauen Einfall seines Burmistrs und sagte mir einige Male, mit dem Kopf auf ihn weisend: »Quel gaillard, ah?«