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Kitabı oku: «Neu-Land», sayfa 3

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»In ganz Petersburg ist doch Niemand mir so zugethan wie dieser Sonderling!« dachte Neshdanow. »Aber wozu hat sie mich denn stören müssen . . . Uebrigens, Alles zum Besten!«

Am Morgen des folgenden Tages begab sich Neshdanow in die Stadtwohnung Ssipjagin’s, und dort, in dem prachtvollen Kabinet mit den streng stilvollen Möbeln, die der Würde des liberalen Staatsmannes und Gentlemans vollkommen entsprachen, vor einem riesigen Bureau sitzend, auf welchem in regelrechter Ordnung Papiere lagen, die Niemand brauchte und die auch zu nichts zu gebrauchen waren, und neben ihnen großmächtige elfenbeinerne Papiermesser, die niemals etwas aufgeschnitten – hörte er im Verlauf einer ganzen Stunde dem freiheitsliebenden Hausherrn zu, sog den Weihrauch seiner weisen, wohlgeneigten und herablassenden Reden ein und erhielt endlich hundert Rubel. Zehn Tage später aber brauste derselbe Neshdanow an der Seite desselben weisen, liberalen Staatsmannes und Gentlemans, halb ausgestreckt auf dem sammtenen Divan eines besonderen Coupes erster Klasse, auf den ausgefahrenen Geleisen der Nikolai-Bahn Moskau zu.

Fünftes Capitel

In dem Gastzimmer eines steinernen Hauses mit Colonnaden und griechischem Giebel, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts von dem Vater Ssipjagin’s, einem bekannten Agronomen erbaut, saß eines Tages Valentine Michailowna, die Frau Ssipjagin’s, eine blendende Erscheinung, und wartete von Stunde zu Stunde auf die durch ein Telegramm angekündigte Ankunft ihres Mannes. – Die Ausstattung des Zimmers war durchweg von moderner Eleganz: Alles war in demselben so anmuthig und anziehend – Alles, von den bunten, doch geschmackvollen Cretonne-Tapeten und Draperien bis zu den mannigfaltigen aus Etagèren und Tischen zerstreuten Kleinigkeiten aus Porzellan, Bronze und Krystall. Von den heiteren, durch die hohen, weit geöffneten Fenster frei hereinströmenden Strahlen eines Maitages beleuchtet, trat Alles weich und harmonisch hervor und schien doch ineinanderzufließen. Vom Duft des Maiblümchens durchtränkt, – überall erblickte man Sträuße dieser herrlichen Frühlingsblume, – schien die Luft des Zimmers von Zeit zu Zeit kaum merklich zu erzittern, wenn aus dem sich üppig ausbreitenden Garten, in welchem ein milder Wind sein sanftes Wesen trieb, ein frischer Luststrom in’s Zimmer hineindrang.

Ein herrliches Bild! Und was dieses Bild vollendete, was demselben Inhalt und Leben gab, war die Frau vorn Hause selbst, Valentine Michailowna Ssipjagin! Sie war eine hoch gewachsene Gestalt im Alter von ungefähr dreißig Jahren, mit dunkel-blonden Haar, frischem, an die Linien der Sixtinischen Madonna erinnerndem Antlitz, und merkwürdigen, tiefen, sammetweichen Augen. – Die Lippen waren vielleicht ein wenig zu breit und blaß, die Schultern ein wenig zu hoch, die Hände ein wenig zu groß. . . Dennoch aber hätte Jeder, der gesehen, wie sie sich frei und leicht im Zimmer bewegte, wenn sich die feine, wenn auch vielleicht allzu eng geschnürte Gestalt bald zu den Blumen herabneigte und den Duft derselben mit lächelnder Miene einzog, – bald irgend eine kleine chinesische Vase von einer Stelle zur andern rückte – dann wieder sich vor den Spiegel stellend, die wunderbaren Augen kaum merkbar zusammenkneifend, das Haar zurechtzustreichen begann – ein Jeder, sagen wir, hätte gewiß ausgerufen – still vor sich hin oder sogar laut – daß ihm niemals ein so bezauberndes Wesen begegnet sei!

Ein hübscher, krausköpfiger, etwa neunjähriger Knabe in schottischer Kleidung, mit nackten Knieen und glänzend frisirtem Haar, kam eilig in’s Zimmer gelaufen, blieb jedoch, als er Valentine Michailowna erblickte, plötzlich stehen.

– Was willst Du, Kolja? – fragte sie. – Die Stimme war ebenso weich und sammetartig wie die Augen.

– Sieh’ Mamma, – begann der Knabe verlegen, – die Tante hat mich hergeschickt . . . ich soll ihr Maiblümchen bringen . . . für ihr Zimmer . . . sie hat keine. . . .

Valentine Michailowna berührte mit der Hand das Kinn ihres Söhnchens und hob das Lockenköpfchen empor.

– Sage der Tante, daß sie nach den Maiblümchen zum Gärtner schicken soll; – das hier – sind meine Maiblümchen. . . Ich will nicht, daß sie fortgenommen werden. Sage ihr, daß ich es nicht liebe, wenn die Ordnung, die ich eingeführt, gestört wird. Wirst Du meine Worte zu wiederholen verstehen?

– Ich werde verstehen . . . – flüsterte der Knabe.

– Nun – sag’ mal! «

– Ich werde ihr sagen . . . werde sagen . . . daß Du es nicht haben willst.

Valentine Michailowna begann zu lachen – auch ihr Lachen war weich.

– Ich sehe, daß man Dir noch keine Aufträge ertheilen kann. Nun gut, sage ihr, was Du willst.

Der Knabe küßte rasch die mit Ringen geschmückte Hand der Mutter und lief eilig davon.

Valentine Michailowna begleitete ihn mit den Augen, trat dann mit einem Seufzer an eine vergoldete Volière heran, in welcher ein kleiner grüner Papagei, sich an dem Drahtgeflecht mit Schnabel und Krallen vorsichtig anklammernd, auf- und niederkletterte, und steckte die Spitze des Fingers neckend durch den Käfig; darauf ließ sie sich auf den niedrigen Divan nieder und begann, die letzte Nummer der »Revue des Deux Mondes« von dem runden geschnitzten Tische nehmend, in derselben zu blättern.

Ein ehrerbietiges Hüsteln veranlaßte sie aufzublicken. Auf der Schwelle der Thür stand ein wohlgestalteter Diener in Livrée und weißer Halsbinde.

– Was willst Du, Agathon? – fragte Valentine Michailowna mit derselben weichen Stimme.

– Ssemen Petrowitsch Kallomeyzew läßt fragen —

– Sag’, ich lasse bitten, natürlich! – und schicke zu Marianne Wikentjewna: sie möge in’s Gastzimmer kommen.

Valentine Michailowna warf die »Revue des Deux Mondes« auf den Tisch, und hob die Augen, sich in den Divan zurückwerfend, nachdenklich empor, was ihr sehr gut stand.

Schon aus der Art und Weise, wie Ssemen Petrowitsch Kallomeyzew, ein junger Mann von ungefähr zweiunddreißig Jahren, in’s Zimmer trat – ungezwungen und nachlässigen, schleppenden Schrittes: – wie sein Antlitz plötzlich aufleuchtete, als er sich, zur Seite geneigt, verbeugte – wie er sich dann so elastisch aufrichtete; – wie er mit süßlicher Stimme durch die Nase zu sprechen begann; – wie er die Hand Valentine Michailownas so ehrerbietig ergriff; – wie er dieselbe so eindringlich küßte – daraus allein schon hätte man schließen können, daß der neuangekommene Gast kein, wenn auch reicher Dorfbewohner aus der Provinz sei, sondern dem echten Petersburger »grand genre« der höchsten Kreise entstamme. – Auch war er nach englischer Mode aufs Eleganteste gekleidet: aus der flachen Seitentasche der bunten Jaquette guckte in Form eines kleinen Dreiecke das buntfarbige Zipfelchen eines neuen weißen Battist-Taschentuches hervor; an einem ziemlich breiten schwarzen Bande hing ein Monocle; die blasse, in’s Gräuliche spielende Farbe der schwedischen Handschuhe entsprach den blaßgrauen Tönen der gestreiften Beinkleider. Das Haar trug Herr Kallomeyzew kurz, das Kinn glatt rasirt, aus seinem Etwas frauenhaften Antlitz mit den kleinen dicht nebeneinander liegenden Augen, der seinen, gebogenen Nase, den kleinen dicken und rothen Lippen, sprach das Bewußtsein der, dem hochgebildeten Aristokraten eigenen, Ungenirtheit und Freiheit. Es athmete Freude und Wohlwollen . . . und konnte doch wieder sehr leicht böse, ja bis zur Rohheit zornig werden: es brauchte nur Jemand Ssemen Petrowitsch’ empfindliche Seite, seine konservativen politischen und religiösen Prinzipien zu berühren, – dann kannte er kein Erbarmen; – die zarten kleinen Augen entbrannten von unheilverkündendem Feuer; – dem hübschen kleinen Munde entströmten häßliche Worte – und es rief dann dieser Mund – rief mit seiner, durchdringender Stimme – die Obrigkeit an!

Die Vorfahren von Ssemen Petrowitsch Kallomeyzew waren einfache Gemüsegärtner gewesen. – Sein Vorahn war nach dem Ort seiner Herkunft Kallomeyzew genannt worden . . . Aber schon sein Großvater hatte Kallomeyzew daraus gemacht; der Vater schrieb: Kallomeyzew, Ssemen Petrowitsch endlich setzte statt des i ein y – und hielt sich ohne Scherz für einen vollblütigen Aristokraten; er pflegte sogar zu äußern, daß seine Familie eigentlich von den Baronen von Gallenmeyer abstamme, von denen Einer im dreißigjährigen Kriege österreichischer Feldmarschall gewesen. Ssemen Petrowitsch war Kammerjunker und Beamter im Ministerium des Kaiserlichen Hauses; daß er nicht die diplomatische Laufbahn ergriffen, wohin ihn Alles zu drängen schien: die Erziehung, die Gewohnheit, sich in der großen Welt zu bewegen, die Erfolge bei den Frauen und selbst sein Aeußeres – daran war sein Patriotismus schuld; – quitter la Russie? – jamais! Kallomeyzew hatte Vermögen, hatte Connexionen; er stand im Ruf eines zuverlässigen und ergebenen Menschen —»un peu trop . . . féodal dans ses opinions,« wie sich Fürst B., einer von den Sternen des Petersburger Beamtenthums, über ihn geäußert hatte. Jetzt war Kallomeyzew auf die Dauer zweier Monate – seiner Urlaubszeit – in’s Gouvernement S. gekommen, um sich mit der Verwaltung seines Gutes zu beschäftigen, d. h. »Diesen ins Bockshorn zu jagen, Jenem Daumschrauben anzulegen.« – Ohne dieses geht es ja nicht!

– Ich hatte Boris Andreitsch hier vorzufinden erwartet, – begann er, sich auf den Füßen schaukelnd, und blickte, eine hochgestellte Persönlichkeit nachahmend, plötzlich zur Seite. Valentine Michailowna blinzelte mit den ein wenig zusammengekniffenen Augen.

– Sonst wären Sie also nicht gekommen?

Kallomeyzew prallte zurück, so unverdient und durch nichts gerechtfertigt erschien ihm diese Frage Frau Ssipjagin’s.

– Valentine Michailowna! – rief er, – ich bitte Sie, wie können Sie das voraussehen? —

– Nun gut, gut, setzen Sie sich, Boris Andreitsch wird gleich hier sein. Ich habe ihm die Kalesche zur Station entgegengeschickt. Warten Sie ein wenig . . . Sie werden ihn sehen. Wie viel ist es jetzt an der Zeit?

– Es ist halb drei – antwortete Kallomeyzews indem er aus der Westentasche eine große emaillierte, goldene Uhr hervorzog. Er zeigte sie Frau Ssipjagin. – Haben Sie meine Uhr gesehen? Mir hat sie Michael, wissen Sie . . . der serbische Fürst Obrenowitsch, geschenkt. Da ist sein Namenszug. Wir sind große Freunde. Wir sind zusammen auf der Jagd gewesen. Ein vortrefflicher Mensch! Und eine eiserne Hand hat er, wie sich’s für ein Staatsoberhaupt gebührt. O, er liebt nicht zu scherzen!

Kallomeyzew ließ sich in einen Lehnstuhl nieder, kreuzte die Beine übereinander und begann den linken Handschuh abzustreifen.

– Wenn wir doch hier in unserem Gouvernement einen solchen Michael hätten!

– Wozu denn? Sind Sie mit irgend etwas unzufrieden?

Kallomeyzew kämpfte die Nase.

– Aber ich bitte Sie, diese Semstwo? Wozu ist sie denn da? Es ist eine Institution, durch welche die administrative Kraft nur geschwächt wird und allerlei unnütze Gedanken . . . Kallomeyzew strich mit der von der Hülle des Handschuhes befreiten unbekleideten Hand durch die Luft . . . und trügerische Hoffnungen wachgerufen werden. Kallomeyzew blies sich auf die Hand. Ich habe in St. Petersburg darüber gesprochen . . . mais bah! Nicht daher treibt der Wind. Sogar Ihr Herr Gemahl – stellen Sie sich vor! Uebrigens – sein Liberalismus ist ja bekannt!

Valentine Michailowna richtete sich in die Höhe.

– Wie? Und Sie, Herr Kallomeyzew, Sie opponiren der Regierung?

– Ich? Opponiren? Niemals! Für nichts in der Welt! Mais j’ai mon franc parier. Ich kritisire zu weilen, unterwerfe mich aber immer.

– Und ich im Gegentheil, ich kritisire nicht und unterwerfe mich nicht.

– Ah! mais cest un ’mot! Wenn Sie erlauben, theile ich Ihre Bemerkung meinem Freunde mit – Ladislas, vous savez, er schreibt jetzt einen Roman aus dem Leben der großen Welt und hat mir einige Kapitel bereits daraus vorgelesen. Das wird etwas Herrliches werden! Nous aurons enfin le grand monde russe, peint par lui-même.

– Wo wird der Roman erscheinen?

– Im »Russischen Boten« natürlich. Das ist ja unsere »Revue des Deux Mondes« Sie lesen diese Zeitschrift, wie ich sehe.

– Ja; aber, wissen Sie, sie fängt an langweilig zu werden.

– Kann sein . . . kann sein . . . Der »Russische Bote« schlägt übrigens seit einiger Zeit auch, um mich modern auszudrücken – ein Bißchen aus.

Kallomeyzew fing laut zu lachen an, ihm schien es, daß es sehr komisch gesagt war: »schlägt aus« und noch dazu ein »Bißchen.« – Mais c’est un journal, qui se respecte, – fuhr er fort. – Und das ist die Hauptsache Ich – muß Ihnen gestehen – ich . . . interessire mich für die russische Literatur sehr wenig; es figurirt setzt in derselben allerlei plebejisches Volk. Man ist endlich so weit gekommen, daß gar eine Köchin zur Heldin eines Romans gemacht wird, eine einfache Köchin, parole d’honneur! Aber den Roman von Ladislas lese ich durchaus. Il y aura le petit mot pour rire . . . und die Richtung! die Richtung! Die Nihilisten werden mit Schimpf und Schande gebrandmarkt – dafür ist mir die ganze Anschauungsweise Ladislas’ Bürge – qui est très correcte.

– Aber nicht seine Vergangenheit – bemerkte Valentine Michailowna.

– Ah! jetous an voile sur les erreurs de sa jeunesse! – rief Kallomeyzew und erledigte sich auch des rechten Handschuhs.

Frau Ssipjagin kniff die Augen wieder zusammen. Sie liebte es, mit diesen wunderbaren Augen zuweilen zu kokettiren.

– Ssemen Petrowitsch – sagte sie, – erlauben Sie mir die Frage: warum gebrauchen Sie, wenn Sie russisch sprechen, beständig so viele französische Worte? Mir scheint, . . daß . . . verzeihen Sie, . . . daß es eine veraltete Gewohnheit ist.

– Warum? warum? Es können doch nicht Alle ihre Muttersprache so beherrschen, wie z. B. Sie. Was mich betrifft, so erkenne ich wohl die Sprache des offiziellen Rußlands, die Sprache der Verordnungen und Erlasse der Regierung an; auf deren Reinheit lege ich großen Werth! Ich beuge mich vor Karamsin! . . . Aber die russische, so zu sagen, alltägliche Sprache . . . existirt sie denn überhaupt? Wie würden Sie zum Beispiel meinen Ausruf – de tout à l’heure – übersetzen: »C’est un mot!?« Das ist – ein Wort!? . . . Ich bitte Sie!

– Ich würde sagen: das ist – ein treffendes Wort.

Kallomeyzew lachte laut auf.

– »Ein treffendes Wort!« Valentine Michailowna! Fühlen Sie es denn nicht, daß dies . . . nach dem Seminar schmeckt . . . Es schwindet ja alles Salz . . .

– Nun, Sie werden mich nicht umstimmen. – Aber wo bleibt denn Marianne?

Sie ergriff die Tischglocke und schellte; es erschien ein zur Dienerschaft gehörender Knabe.

– Ich hatte Marianne Wikentjewna in’s Gastzimmer bitten lassen. Ist es ihr denn nicht gemeldet worden?

Der Knabe hatte noch nicht Zeit gehabt zu antworten, als hinter seinem Rücken auf der Schwelle der Thür ein junges Mädchen mit kurz geschorenem Haar, in einem weiten, dunklen Morgenkleid, Marianne Wikentjewna Ssinetzky, von mütterlicher Seite eine Nichte Ssipjagin’s, erschien.

Sechstes Capitel

– Entschuldigen Sie, Valentine Michailowna, sagte sie näher tretend, – ich war beschäftigt.

– Kallomeyzew begrüßend, setzte sie sich auf einen kleinen Sessel neben dem Papagei, welcher bei ihrem Anblick mit den Flügeln zu schlagen begann und ihr entgegen strebte.

– Warum hast Du Dich denn so weit von uns weggesetzt, Marianne, bemerkte Valentine Michailowna, die ihr mit den Augen gefolgt war. – Du willst wohl in der Nähe Deines kleinen Freundes sein? Stellen Sie sich vor, Ssemen Petrowitsch, – wandte sie sich zu Kallomeyzew, – dieser kleine Papagei ist in unsere Marianne förmlich verliebt. . . .

– Das wundert mich nicht!

– Mich aber kann er nicht leiden.

– Das wundert mich viel mehr!i Sie necken ihn wahrscheinlich.

– Niemals, im Gegentheil, ich füttere ihn mit Zucker. Er nimmt aber nichts aus meiner Hand. Nein . . . das ist Sympathie . . . und Antipathie. . .

Marianne warf einen Blick hinüber auf Valentine Michailowna . . . Diese desgleichen auf Marianne.

Beide Frauen liebten einander nicht.

Im Vergleich zu ihrer Tante erschien Marianne fast häßlich. Ihr Gesicht war rund, die Nase groß und adlerartig gebogen, die grauen Augen waren ebenfalls groß und sehr hell, die Brauen und Lippen fein geschnitten. Sie pflegte sich das braune, dichte Haar scheeren zu lassen, und etwas Scheues lag in ihrem Blick. Aber etwas Starkes und Kühnes, Leidenschaftliches und Ungestümes sprach aus ihrem ganzen Wesen. Ihre Hände und Füße waren überaus klein; der feste und geschmeidige kleine Körper erinnerte an die Florentiner Figuren aus dem XVI. Jahrhundert; ihre Bewegungen waren rasch und anmuthig.

Die Stellung Mariannen’s im Hause Ssipjagins war nicht leicht. Ihr Vater, ein kluger und gewandter Mann halb-polnischer Herkunft, hatte sich bis zum Range eines Generals heraufgedient, stürzte dann aber plötzlich, einer kolossalen Veruntreuung am Eigenthum des Staats überwiesen, von seiner Höhe herab; er kam unter Gericht . . . wurde verurtheilt, seines Ranges, seines Adels entkleidet, und nach Sibirien geschickt. Später wurde er begnadigt . . . er kehrte zurück, konnte aber nicht mehr emporkommen und starb in Armuth und Elend. Seine Frau, eine Schwester Ssipjagin’s, die Mutter Mariannen’s, ihres einzigen Kindes, hatte diesen Schlag, der ihren ganzen Wohlstand zertrümmerte, nicht ertragen können und war ihrem Manne bald nachgefolgt. Onkel Ssipjagin hatte Marianne darauf in sein Haus genommen. – Aber in dieser Abhängigkeit zu leben war ihr schrecklich; mit der ganzen Kraft einer unbeugsamen Seele rang sie nach Freiheit, und es entspann sich zwischen der Tante und ihr, ein nie ruhender, wenn auch verborgener Kampf. In den Augen Valentinen’s war sie eine die Existenz Gottes leugnende Nihilistin; Marianne ihrerseits aber haßte Valentine als ihre unvermeidliche, wenn auch unwillkürliche Feindin. Vor dem Onkel, wie überhaupt vor allen Menschen empfand sie eine gewisse Scheu. – Sie scheute sich eben vor ihnen, aber sie fürchtete sie nicht; eine solche Furcht lag nicht in ihrem Charakter.

– Antipathie!f – wiederholte Kallomeyzew, – ja, das ist ein seltsames Ding. Es ist zum Beispiel Allen bekannt, daß ich ein tief-religiöser Mensch bin, orthodox im wahren Sinne des Worts; aber den Pfaffenzopf – kann ich nie gleichgültig anblicken: da beginnt es in mir zu kochen, so zu kochen!

Die zusammengeballte Hand emporhebend, versuchte Kallomeyzew sogar zu veranschaulichen, wie es in ihm reiche.

– Es scheinen Sie überhaupt die Haare zu beunruhigen, Ssemen Petrowitsch, – bemerkte Marianne: – ich bin überzeugt, daß Sie es auch nicht gleichgültig ansehen können, wenn Jemand das Haar kurz geschoren hat, wie ich.

Valentine Michailowna hob die Brauen langsam empor und neigte den Kopf – voll Staunen gleichsam über die Ungenirtheit, mit welcher sich die modernen jungen Damen am Gespräch betheiligen, – Kallomeyzew aber lächelte nachsichtsvoll.

– Es ist mir natürlich unmöglich, Marianne Wikentjewna, – sagte er, – um die schönen Locken nicht zu sagen, die da gleich den Ihrigen unter der erbamungslosen Scheere fallen; aber ich habe keine Antipathie gegen kurze Haare; und jedenfalls könnte Ihr Beispiel mich . . . mich . . . konvertiren!

Kallomeyzew konnte das russische Wort nicht finden; französisch wollte er jedoch nach der Bemerkung der Hausfrau nicht mehr sprechen.

– Mariane trägt, Gott sei Danks noch keine Brille, – fiel Valentine Michailowna ein, – von Kragen und Manschetten hat sie sich auch noch nicht getrennt: – dafür beschäftigt sie sich freilich zu meinem Bedauern mit naturwissenschaftlichen Studien und interessirt sich auch für die Frauenfrage . . . Nicht wahr, Marianne?

Es war dies Alles in der Absicht gesagt, Marianne verlegen zu machen, aber diese ließ sich nicht einschüchtern.

– Ja, Taute, – antwortete sie, – ich lese Alles, was darüber geschrieben wird; ich gebe mir Mühe, in das Wesen dieser Frage einzudringen.

– Was doch die Jugend ausmacht! – wandte sich Frau Ssipjagin zu Kallomeyzew – wir Beide, wir beschäftigen uns schon nicht mehr damit – wie?

Kallomeyzew lächelte beifällig; man mußte die liebenswürdige Frau in ihrem heiteren Scherzspiel doch unterstützen.

– Marianne Wikentjewna, – begann er, – ist noch von jenem Idealismus erfüllt . . . von jener Romantik der Jugend . . . welche . . . mit der Zeit . . .

– Uebrigens verleumde ich mich selbst, – unterbrach ihn Valentine Michailowna: – diese Fragen interessiren mich auch. Ich bin noch nicht ganz alt geworden!

– Auch ich interessire mich dafür, – rief Kallomeyzew hastig aus; – ich würde nur verbieten, darüber zu sprechen!l

– Sie würden verbieten, darüber zu sprechen? – fragte Marianne.

– Ja! – Ich würde dem Publikum sagen: sich dafür zu interessiren gestatte ich . . . aber sprechen . . . ssst – t! – Er legte den Finger an die Lippen. – Jedenfalls würde ich verbieten – gedruckt darüber zu sprechen? – Unbedingt!

Valentine Michailowna begann zu lachen.

– Ei was? Wenn’s nach Ihnen ginge, müßte man wohl gar, um diese Frage zu lösen, eine Commission beim Ministerium niedersetzen?

– Nun, und selbst eine Commission, was ist denn dabei? – Sie denken, daß wir diese Frage schlechter lösen würden, als jene hungrigen Schnattergänse, die nicht weiter sehen, als die Nase reicht, und sich einbilden, daß sie . . . die genialsten Menschen der Welt sind? Wir würden Boris Andreitsch zum Präsidenten wählen . . .

Valentine Michailowna begann noch lauter zu lachen.

– Nehmen Sie sich in Acht; Boris Andreitsch ist zuweilen ein solcher Jakobiner . . .

– Jaco, Jaca, Jaco – schrie plötzlich der Papagei.

Frau Ssipjagin schwenkte das Taschentuch nach ihm.

– Störe doch nicht die klugen Leute in ihrer Unterhaltung! . . . Marianne, beruhige ihn.

Marianne kehrte sich nach dem Vogel um und begann seinen Hals, den er ihr willig entgegenstreckte, zu streicheln.

– Ja, – fuhr Frau Ssipjagin fort, – ich bin zuweilen selbst voll Staunen über Boris Andreitsch. Er hat etwas etwas . . . von einem Volkstribun an sich.

– C’est parce quil est orateur! – fiel Kallomeyzew mit Wärme auf französisch ein. – Ihr Mann besitzt die Gabe der Rede in einem Grade, wie Niemand, und dann ist er auch zu glänzen gewohnt . . . ses propres paroles le grisent . . . dazu kommt noch der Wunsch, populär zu werden . . . Er ist jetzt übrigens ein wenig erbittert, nicht wahr? Il boude? Eh?

Frau Ssipjagin richtete ihre Augen auf Marianne.

– Ich habe nichts bemerkt, – antwortete sie nach einer kleinen Pause.

– Ja, – fuhr Kallomeyzew nachdenklich fort, – er ist zu Ostern übergangen worden . . .

Valentine Michailowna wies mit ihrem Blick wieder auf Marianne.

Lächelnd blinzelte Kallomeyzew mit den Augen: – »ich verstehe.«

– Marianne Wikentjewna! – rief er plötzlich ohne äußere Nothwendigkeit recht laut uns: – werden Sie in diesem Jahre wieder in der Volksschule Unterricht ertheilen?

Marianne wandte sich vom Vogel ab.

– Und auch Dieses interessirt Sie, Ssemen Petrowitsch?

– Natürlich; es interessirt mich sogar sehr.

– Dieses würden Sie wohl nicht verbieten?

– Den Nihilisten würde ich sogar verbieten, an die Schulen zu denken; aber unter Leitung und Beaufsichtigung der Geistlichkeit würde ich selbst Schulen in’s Leben rufen.

– So! Ich weiß noch gar nicht, was ich in diesem Jahr thun werde. – Im vorigen Jahr ging Alles so schlecht. – Und was ist denn das im Sommer auch für ein Unterricht!

Wenn Marianne sprach, pflegte sie allmählich zu erröthen, als falle ihr das Sprechen schwer, und als müsse sie sich zwingen, ihre Rede fortzusetzen. Es steckte noch viel Eigenliebe in ihr.

– Du bist noch ungenügend vorbereitet? – fragte mit ironisch vibrirender Stimme Frau Ssipjagin.

– Vielleicht.

– Wie! – rief Kallomeyzew von Neuem aus. – Was höre ich!! O Götter! Um Bauernmädchen das Abc zu lehren, bedarf es der Vorbereitung!

In diesem Augenblick kam Kolja mit dem Ausruf:– »Mama! Mama! Papa kommt!« gelaufen —, hinter ihm trat, auf ihren kleinen, dicken Füßen schwerfällig einherhumpelnd, eine greise Dame in einer Haube und mit einem gelben Shawl in’s Zimmer – und meldete gleichfalls, daß Borinka ankomme.

Diese Dame war Anna Sacharowna, eine Tante Ssipjagins. – Alle Anwesenden sprangen von ihren Plätzen auf, begaben sich eiligst in’s Vorzimmer und stiegen dann die Treppe auf den Flur vor dem Hause hinab. Eine lange Allee beschnittener Tannenbäume führte vom großen Wege gerade zu diesem Flur; in der Allee rollte die von vier Pferden gezogene Kalesche bereits daher. – Valentine Michailowna schwenkte in erster Reihe stehend ihr Taschentuch, Kolja schrie laut jauchzend auf; mit geschickter Hand brachte der Kutscher die erhitzten Pferde plötzlich zum Stehen, der Diener flog pfeilschnell vom Bock herab und hätte beinahe die Thür der Kalesche sammt Hängen und Verschluß herausgerissen – und nun stieg Boris Andreitsch mit herablassendem Lächeln auf den Lippen, in den Augen, auf dem ganzen Gesicht, mit einer gewandten Bewegung der Schultern den Mantel abwerfend, aus der Kalesche. Rasch und anmuthsvoll umarmte Valentine Michailowna ihren Mann, worauf sich Beide drei Mal küßten. Kolja trampelte mit den Füßen und zupfte den Vater hinten am Rock . . . Dieser küßte jedoch zuerst, nachdem er die höchst unbequeme und formlose schottische Reisemütze vom Kopfe genommen, die Tante Anna Sacharowna, begrüßte darauf Marianne und Kallomeyzew, die gleichfalls auf den Flur hinausgetreten waren – Kallomeyzew in englischer Weise – shakehands – mit einem »Schwung« der Hand, als ob er die Glocke läute – und wandte sich dann erst zu seinem Sohn, den er emporhob und an seine Lippen zog.

Während dies Alles vor sich ging, war Neshdanow ganz still, als wäre er sich einer Schuld bewußt, aus der Kalesche herausgekrochen und, ohne die Mütze abzunehmen, neben den Vorderrädern der Kalesche mit halb zu Boden gesenktem finsterem Blick stehen geblieben. . . Während Valentine Michailowna ihren Mann umarmte, hatte sie auf diese neue Gestalt über die Schulter des Mannes hinweg einen scharfen Blick geworfen; – Ssipjagin hatte es angekündigt, daß er einen Lehrer mitbringen werde.

Nach der ersten Begrüßung des neu angekommenen Hausherrn begab sich die ganze Gesellschaft über die Treppe, auf welcher sich die Haupt-Diener und Dienerinnen zu beiden Seiten postirt hatten, nach oben. Diese unterließen es, sich ihrem Herrn zu nähern, um seine Hand zu küssen – diese »asiatische« Sitte war längst abgeschafft – sie verneigten sich blos mit Ehrerbietung; und auch Ssipjagin beantwortete ihren Gruß – mehr durch ein Zucken der Brauen und der Nase, als durch eine Bewegung des Kopfes.

Neshdanow schritt gleichfalls die breite Treppe langsam hinan. Er war kaum in’s Vorzimmer getreten, als ihn Ssipjagin, der sich bereits nach ihm umgesehen hatte, auch sogleich seiner Frau, Anna Sacharowna und Mariannen vorstellte, zu Kolja aber sagte er: »Das ist Dein Lehrer, dem Du gehorchen mußt! Reich ihm die Hand!«

– Kolja reichte Neshdanow schüchtern die Hand und hob dann das Auge zu ihm empor, da er aber, wie es schien, nichts Besonderes oder Anziehendes an ihm entdeckte, klammerte er sich wieder an seinen Vater. – Neshdanow fühlte sich höchst ungemüthlich, ganz so, wie damals im Theater. Er steckte in einem alten, ziemlich unansehnlichen Paletot, Gesicht und Hände waren mit Staub überzogen. – Valentine Michailowna hatte ihm irgend eine Liebenswürdigkeit gesagt; er hatte ihre Worte jedoch nicht recht gehört und hatte ihr auch nicht geantwortet, sondern nur bemerkt, daß sie auf ihren Mann mit besonders klaren und freundlichen Augen sah und sich an ihn schmiegte – Bei Kolja mißfiel ihm das frisirte glänzende Haar, als er Kallomeyzew erblickte, dachte er: »Diese abgeleckte Physiognomie!« – Die andern Personen aber ließ er ganz unbeachtet. Ssipjagin blickte zwei Mal, gleichsam seine Penaten musternd, würdevoll im Zimmer umher, wobei sein lang zugespitzter Backenbart und der kleine, etwas flache Hinterkopf besonders scharf hervortraten. – Darauf rief er einem von den Dienern mit starker, voller, von der Reise durchaus nicht ermüdeter Stimme zu: »Iwan! geleite den Herrn Lehrer in’s grüne Zimmer und trage auch den Koffer des Herrn dahin« – sagte darauf zu Neshdanow, daß er sich jetzt ausruhen, einrichten und des Reisestaubes entledigen könne – gespeist werde in seinem Hause genau um fünf Uhr. Neshdanow verneigte sich und folgte Iwan in das »grüne,« im zweiten Stock befindliche Zimmer.

Die ganze Gesellschaft ging in’s Gastzimmer hinüber. Dort wurde die Begrüßung noch einmal wiederholt; es erschien auch eine greise, halbblinde Kinderwärterin, um ihren Herrn zu begrüßen. Dieser reichte Ssipjagin, aus Achtung vor ihrem Alter, die Hand zum Kusse und ging dann, nachdem er sich bei Kallomeyzew entschuldigt, von seiner Frau begleitet, in’s Schlafzimmer.