Kitabı oku: «Rückruf Null», sayfa 4
Kapitel vier
Karina Pavlo saß in der hintersten Ecke der Theke, wurde zwar von Bierzapfhähnen verdeckt, doch hatte eine klare Sicht auf den vorderen Eingang. Sie hatte einen Ort gewählt, an dem niemand sie jemals vermutete, eine heruntergekommene Bar im südöstlichen Teil von Washington DC, nicht weit entfernt von Bellevue. Es war nicht gerade die feinste Nachbarschaft und die Abenddämmerung setzte allmählich ein, doch sie war nicht über Taschendiebe oder Straßenräuber besorgt. Sie hatte ein größeres Problem.
Außerdem hatte sie gerade selbst einen Kleindiebstahl begangen.
Nachdem sie den Geheimdienstagenten abgehängt und sich eine Weile in einem Bücherladen versteckt hatte, war Karina wieder hinaus auf die Straße gegangen, doch für nur weniger als einen Block, bevor sie ein Kaufhaus betrat. Abgesehen davon, dass sie barfuß ging, war sie immer noch schick bekleidet und mit hocherhobenem Kopfe und einem selbstbewussten Gang, den sie einlegte, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sah sie wie jegliche Geschäftsfrau der gehobenen Mittelklasse aus.
Sie ging direkt auf die Frauenabteilung zu und nahm ein paar Stück lässige Kleidung von der Stange, Stücke, die keine Aufmerksamkeit erregten. Sie hinterließ ihren Rock, ihre Bluse und ihren Blazer in der Umkleidekabine, zog ein Paar Turnschuhe an und nahm eine andere Tür wieder hinaus auf die Straße, ohne dass sie jemand zwei Mal angeblickt hätte. Zwei Häuserblocks weiter machte sie bei einem anderen Geschäft Halt, gab vor, sich für ein paar Minuten umzusehen und verließ es wieder mit einer gestohlenen Sonnenbrille und einem Seidenschal, den sie über ihr dunkles Haar gebunden hatte.
Zurück auf der Straße erblickte sie einen pummeligen Mann in einem gestreiften Polohemd mit einer Kamera, die um seinen Hals hing. Er sah wie der absolut typische Tourist aus. Sie rempelte ihn rau an, als sie aneinander vorbeigingen, schnappte nach Luft und entschuldigte sich sofort. Sein Gesicht wurde rot und er öffnete seinen Mund, um sie anzuschreien, bis er sah, dass sie schlank, hübsch und braunhaarig war. Er murmelte eine Entschuldigung und eilte davon, bemerkte nicht, dass sein Portemonnaie verschwunden war. Karina war schon immer geschickt mit ihren Händen gewesen. Sie hieß Stehlen nicht gut, doch dies war eine Notlage.
In dem Portemonnaie waren fast hundert Dollar Bargeld. Sie nahm das Geld und warf den Rest – den Ausweis, die Kreditkarten und die Fotos von Kindern – in einen großen blauen Briefkasten an der nächsten Ecke.
Schließlich nahm sie ein Taxi auf die andere Seite der Stadt, in Richtung Osten, wo sie in die Spelunke ging, deren Fenster verdunkelt waren und die nach billigem Bier roch. Sie setzte sich an die Theke und bestellte ein Erfrischungsgetränk.
Der Fernseher hing über den Zapfhähnen. Er war angeschaltet und zeigte einen Nachrichtenkanal, der über die Sportergebnisse des vorherigen Abends berichtete. Sie nippte an ihrem Getränk, beruhigte ihre Nerven und fragte sich, was sie als Nächstes täte. Sie konnte nicht zurück zum Hotel, das wäre eine dämlich Idee. Außerdem konnten sie dort nichts finden, außer Kleidung und Toilettenartikeln. Sie kannte eine Telefonnummer auswendig, doch sie wollte nicht hinaus, um ein öffentliches Telefon zu finden. Es gab immer weniger von ihnen, selbst in der Stadt. Der Geheimdienst hatte ihr Handy und sie könnten die öffentlichen Telefone überwachen.
Sie dachte darüber nach, den Barkeeper darum zu bitten, sein Telefon zu benutzen, doch ihr Kontakt war eine internationale Nummer und das hätte ungewollte Aufmerksamkeit auf sie ziehen können.
Das nächste Mal, als Karina auf den Fernseher hochblickte, hatte der Beitrag sich geändert. Ein Nachrichtensprecher, den sie nicht erkannte, sprach und auch wenn die Lautstärke zu niedrig war, um ihn zu verstehen, konnte sie ganz klar die Worte auf der unteren Bildleiste erkennen: HARRIS UND KOZLOVSKY HALTEN PRIVATES TREFFEN.
“Korva”, seufzte sie. Scheiße. Dann auf englisch: “Können Sie das bitte lauter machen?”
Der Barkeeper, ein lateinamerikanischer Mann mit einem Schnauzbart, blickte sie für einen Moment finster an, bevor er sich umdrehte, um ihr zu zeigen, wie offensichtlich er sie ignorierte.
“Zalupa” murmelte sie, ein unfreundliches Schimpfwort auf ukrainisch. Dann lehnte sie sich über die Bar, fand die Fernbedienung und stellte den Fernseher selbst lauter ein.
“…eine anonyme Quelle im Weißen Haus hat bestätigt, dass heute ein privates Treffen zwischen Präsident Harris und dem russischen Präsidenten Aleksandr Kozlovsky stattgefunden hat”, erklärte der Nachrichtensprecher. “Über Kozlovskys Besuch in den Vereinigten Staaten wurde während der letzten zwei Tage viel berichtet, doch ein Treffen hinter verschlossenen Türen in einem Konferenzsaal im Keller des Weißen Hauses bringt viele Leute dazu, sich nervös an die Ereignisse vor fast eineinhalb Jahren zu erinnern.
“Als Antwort auf die Enthüllung veröffentlichte der Pressesekretär diese Erklärung, und hier zitiere ich:,Beide Präsidenten waren unter einem wahrhaftigen Mikroskop während der letzten zwei Tage, und das lag größtenteils an den Indiskretionen ihrer Vorgänger. Präsident Harris und sein Gast wollten einfach nur eine kurze Pause vom Scheinwerferlicht. Das Treffen, von dem man spricht, dauerte weniger als zehn Minuten, und es ging darum, dass die beiden Anführer sich besser kennenlernen, ohne dabei von den Medien umringt zu sein. Ich kann jeder Person hier und an den Bildschirmen zu Hause versichern, dass es keine geheime Tagesordnung gab. Dies war einfach nur eine Unterhaltung hinter verschlossenen Türen, nichts weiter.’ Als man ihn weiter über die Einzelheiten des Treffens fragte, scherzte der Pressesekretär:,Ich bin über die Einzelheiten leider nicht informiert, doch ich glaube, in dem Treffen ging es hauptsächlich um ihre geteilte Liebe zu Scotch und Dackeln.’
“Auch wenn der wahre Grund des Treffens in Verschwiegenheit verhüllt bleibt, so haben wir durch unsere anonyme Quelle bestätigt, dass nur eine weitere Person im Raum mit den beiden Anführern anwesend war – eine Dolmetscherin. Ihre Identität wurde zwar nicht bekanntgegeben, doch wir haben bestätigt, dass es sich um eine russische Frau handelt. Jetzt will die Welt wissen: haben die beiden Präsidenten wirklich Getränke und Hunde besprochen? Oder hat diese unidentifizierte Dolmetscherin die Antwort, die viele Amerikaner —”
Der Fernseher ging plötzlich aus, der Bildschirm wurde schwarz. Karina blickte scharf hinunter, um festzustellen, dass der lateinamerikanische Barkeeper die Fernbedienung geschnappt und ihn ausgestellt hatte.
Fast wollte sie ihn schon auf gut Englisch Arschloch nennen, doch sie hielt sich zurück. Es war sinnlos, jetzt Streit zu suchen, sie sollte unerkannt bleiben. Stattdessen dachte sie über den Bericht nach. Das Weiße Haus hatte ihre Identität nicht bekannt gegeben, zumindest noch nicht. Sie wollten sie finden und sie stillstellen, bevor sie jemandem sagen könnte, was sie hörte. Was die beiden Präsidenten planten. Was Kozlovsky von dem amerikanischen Staatsoberhaupt verlangte.
Doch Karina hatte ein Ass im Ärmel – zwei sogar. Sie fuhr erneut über die Perlenohrringe. Zwei Jahre zuvor hatte sie für einen deutschen Diplomaten gedolmetscht, der ihr vorwarf, seine Worte falsch interpretiert zu haben. Das hatte sie zwar nicht, doch sie wäre fast in echte Probleme deshalb geraten. Deshalb hatte sie mit der Hilfe ihrer Schwester und deren Kontakten in FIS die Ohrringe herstellen lassen. Jeder von ihnen enthielt ein winziges unidirektionales Mikrophon, das den Sprecher auf jeder Seite von ihr aufnahm. Zusammen nahmen die beiden Ohrringe jedes Gespräch auf, das Karina dolmetschte. Das war natürlich komplett illegal, doch auch sehr nützlich. Seit sie damit begonnen hatte, die Ohrringe zu benutzen, hatte sie niemals Grund dazu gehabt, die Aufnahmen zu verwenden und sie anschließend gelöscht.
Bis jetzt. Jedes Wort, das zwischen ihr, Harris und Kozlovsky ausgetauscht wurde, war in den beiden Steckern enthalten. Das Einzige, was jetzt zählte, war es, sie in die richtigen Hände zu befördern.
Sie rutschte still vom Barhocker und schlich sich in den hinteren Teil der Kneipe, ging auf das WC zu, doch schritt dann weiter einen düsteren Gang entlang und trat durch eine Metallsicherheitstür in eine Hintergasse hinaus.
Als sie wieder auf der Straße war, sah Karina so cool und gelassen wie möglich aus, doch in ihrem Inneren war sie fürchterlich verängstigt. Es war schon schlimm genug, dass der Geheimdienst nach ihr suchte – zweifellos hatten sie auch die Polizei und vielleicht sogar das FBI eingeschaltet – doch wenn Kozlovsky es herausfände, dann würde er seine eigenen Leute schicken, um sie aufzuspüren, falls das noch nicht geschehen war.
Und schlimmer noch, jeder normale Bürger, der die Nachrichten gehört hatte, könnte sie genauer ansehen und sich wundern. Amerikaner waren wirklich nicht die aufgeschlossensten, wenn es um Ausländer ging. Zum Glück konnte sie mit einem anständigen amerikanischen Akzent sprechen. Sie hoffte, dass er passabel war. Sie hatte ihn nie zuvor in einer ernsten Situation benutzen müssen. Bisher war es ihr immer gut gelungen, vorzugeben, sie wäre Russin.
Ich brauche ein Telefon. Sie konnte kein öffentliches riskieren. Sie konnte kein Handy stehlen, denn das Opfer würde es melden und der Geheimdienst könnte leicht den Standort des Gerätes und die zuletzt gewählte Nummer herausfinden, was auch Veronika gefährdete.
Denk nach, Karina. Sie drückte ihre Sonnenbrille auf der Nase nach oben und blickte sich um – aha. Die Antwort lag genau vor ihr, einen halben Häuserblock entfernt auf der anderen Straßenseite. Sie schaute nach rechts und links und eilte auf den Handyshop zu.
Er war winzig, roch nach Desinfektionsmittel und wurde durch zu viele Lichtröhren grell beleuchtet. Der junge schwarze Mann hinter der Theke konnte nicht älter als zwanzig sein. Er tippte gelangweilt auf dem Telefon vor sich und stützte sein Kinn in seiner Hand ab. Es war sonst niemand in dem Laden.
Karina stand einen langen Moment da, bevor er sie ausdruckslos ansah.
“Ja?”
“Schaltet ihr hier Handys frei?” fragte sie.
Er schaute sie von oben bis unten an. “Dieser Service ist uns nicht erlaubt.”
Karina lächelte. “Danach frage ich ja gar nicht.” Sie hoffte, dass ihr amerikanischer Akzent sie nicht verriet. In ihren Ohren klang er rundlich, mit einem Spritzer ukrainischer Betonung. “Ich bin kein Polizist und ich habe kein Handy. Ich will eines benutzen. Ich muss einen Anruf per Wi-Fi auf einem Gerät tätigen, dass bei keinem Netzwerk angemeldet ist. Am besten durch eine Drittanwendung. Etwas, das man nicht orten kann.”
Der Junge blinzelte sie an. “Was meinen Sie mit,Sie müssen einen Anruf tätigen’?”
Sie seufzte kurz und versuchte, ihre Geduld zu behalten. “Ich weiß nicht, wie ich es noch klarer darstellen kann.” Sie lehnte sich über die Theke und flüsterte verschwörerisch, obwohl sonst niemand in dem Laden war. “Ich habe ein paar Probleme, OK? Ich brauche fünf Minuten mit einem Telefon, wie ich es gerade beschrieben habe. Ich kann bezahlen. Hilfst du mir aus oder nicht?”
Er musterte sie verdächtig. “Was für Probleme haben Sie denn? So… mit der Polizei?”
“Schlimmer”, sagte sie. “Schau mal, wenn ich dir das erklären könnte, glaubst du dann, dass ich überhaupt hier wäre?”
Der Junge nickte langsam. “OK. Ich habe, was Sie brauchen. Und Sie können es verwenden. Fünf Minuten… fünfzig Dollar.”
Karina schnaubte verächtlich. “Fünfzig Dollar für ein Gespräch von fünf Minuten?”
Der Angestellte zuckte mit den Schultern. “Sie können es ja auch woanders ausprobieren.”
“Schon gut.” Sie zog das Bündel Bargeld hervor, das sie von dem Touristen gestohlen hatte, zählte fünfzig Dollar und schob sie zu ihm herüber. “Hier. Das Telefon?”
Der Junge kramte unter der Theke und zog ein iPhone hervor. Es war ein paar Jahre alt, eine Ecke des Bildschirms war gesprungen, doch es ließ sich problemlos anschalten. “Das hier hat kein Netzwerk und es befindet sich eine chinesische Anrufanwendung drauf”, erklärte er ihr. “Es leitet den Anruf durch eine zufällig gewählte Nummer, die sich außer Betrieb befindet, um. Er schob es zu ihr hinüber. “Fünf Minuten.”
“Toll. Danke. Hast du hier ein Büro?” Sie beantwortete seine gerunzelte Stirn mit: “Das ist natürlich ein privater Anruf.”
Der Junge zögerte, doch zeigte dann mit dem Daumen über seine Schulter. “Bitteschön.”
“Danke.” Sie ging in ein winziges Büro mit holzverkleideten Wänden und einem Melamintisch als Schreibtisch, der voll von Rechnungen und anderem Papierkram war. Sie öffnete die Anrufanwendung auf dem Handy, wählte die Nummer, die sie auswendig kannte und wartete, während der Anruf umgeleitet wurde. Es dauerte mehrere Sekunden und sie dachte schon es würde nicht funktionieren, dass der Anruf nicht durchginge, doch endlich klingelte es.
Jemand nahm ab. Doch die Person sprach nicht.
“Ich bin’s”, sagte sie auf ukrainisch.
“Karina?” Die Frau am anderen Ende der Leitung klang verwirrt. “Warum rufst du diese Nummer an?”
“Ich brauche Hilfe, V.”
“Was ist denn?” drängte Veronika.
Karina wusste nicht, wo sie beginnen sollte. “Es gab da ein Treffen,” sagte sie, “zwischen Kozlovsky und Harris…”
“Ich habe die Nachrichten gesehen.” Veronika atmete ein, als sie verstand. “Du? Du warst die Dolmetscherin bei dem Treffen?”
“Ja.” Karina erzählte schnell, was geschehen war, von ihrer Zeit mit den beiden Präsidenten bis zu ihrer Flucht von dem Geheimdienstagenten. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, als sie sagte: “Wenn die mich finden, dann bringen sie mich um, V.”
“Mein Gott”, hauchte Veronika. “Karina, du musst das jemandem sagen, den du kennst!”
“Ich sage es dir. Verstehst du nicht? Ich kann damit nicht an die Medien. Die werden es unterdrücken. Die werden es verleugnen. Du bist die Einzige, der ich mit dieser Information vertrauen kann. Ich muss dir die Ohrringe bringen.”
“Du hast sie?” fragte Veronika. “Du hast das Treffen aufgenommen?”
“Ja. Jedes Wort.”
Ihre Schwester dachte einen langen Augenblick nach. “FIS hat eine Verbindung in Richmond. Kannst du da hinkommen?”
Veronika, Karinas zwei Jahr ältere Schwester, war eine Top Agentin des Auswärtigen Geheimdienstes FIS, die ukrainische Version der CIA. Es war Karina kein Geheimnis, das FIS mehrere Schläfer in den Vereinigten Staaten hatte. Der Gedanke, von ihnen beschützt zu werden, war anziehend, doch sie wusste, dass sie das nicht riskieren konnte.
“Nein”, sagte sie schließlich, “die erwarten, dass ich flüchte. Ich bin mir sicher, dass sie die Flughäfen und Highways gründlich überwachen.”
“Dann sage ich ihm, dass er zu dir soll —”
“Du verstehst nicht Veronika. Wenn die mich finden, töten sie mich. Und jeden, der bei mir ist. Dafür will ich nicht verantwortlich sein.” Ihre Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Als sie da in dem dunklen Büro eines zwielichtigen Handyshops stand, holten sie die Ereignisse der letzten paar Stunden schließlich ein. Doch sie konnte sich nicht von ihren Gefühlen überrumpeln lassen. “Ich habe Angst, V. Ich brauche Hilfe. Ich brauche einen Ausweg.”
“Ich lasse es nicht zu, dass dir etwas geschieht”, versprach ihre Schwester. “Ich habe eine Idee. Ich lasse unseren Kontakt einen anonymen Hinweis an die DC Metro geben, dass das Gespräch aufgenommen wurde —”
“Was? Bist du verrückt?” schnappte Karina.
“Und ich lasse es ihn auch an die Medien weitergeben.”
“Verdammt, V. Jetzt bist du völlig ausgerastet!”
“Nein. Hör mir zu, Karina. Wenn die glauben, dass du eine Aufnahme hast, dann kannst du sie zum Verhandeln verwenden. Ohne sie bist du so gut wie tot. Auf diese Weise wollen sie dich lebendig. Und wenn der Tipp aus Richmond kommt, dann glauben sie, dass du aus der Stadt geflüchtet bist. In der Zwischenzeit arbeite ich an einem Ausweg und bringe dich da raus.”
“Das ist zu heikel, um jemanden von dir zu schicken, der mich abholt”, sagte Karina. “Ich will nicht, dass jemand wegen mir kompromittiert oder getötet wird.”
“Aber du kannst das nicht alleine schaffen, sestra.” Veronika war einen Moment lang still, bevor sie hinzufügte, “Ich glaube, ich weiß, wer helfen kann.”
“FIS?” fragte Karina.
“Nein. Ein Amerikaner.”
“Veronika —”
“Ein ehemaliger CIA Agent.”
Das war es. Ihre Schwester war tatsächlich von Sinnen und Karina ließ es sie wissen.
“Vertraust du mir?” fragte Veronika.
“Vor einer Minute hätte ich noch ja gesagt…”
“Vertrau mir jetzt, Karina. Und vertraue diesem Mann. Ich sage dir, wo du hin musst und wann du da sein musst.”
Karina seufzte. Welche Wahl hatte sie schon? V. hatte recht. Sie konnte nicht alleine dem Geheimdienst, den Russen und jedem anderen, den sie hinter ihr herschickten, aus dem Weg gehen. Sie brauchte Hilfe. Und sie vertraute ihrer Schwester, auch wenn dieser Plan ihr aberwitzig vorkam.
“OK. Wie erkenne ich diesen Mann?”
“Wenn der immer noch gut ist, dann erkennst du ihn nicht, “ erwiderte Veronika, “aber er wird dich erkennen.”
Kapitel fünf
Sara inspizierte sich im Badezimmerspiegel, während sie ihren Zopf zurechtzog. Sie hasste ihr Haar. Es war zu lang, sie hatte es seit Monaten nicht mehr schneiden lassen. Die Spitzen waren gespalten. Etwa sechs Wochen zuvor hatte sie es Camilla mit einer Tönung aus der Drogerie rot färben lassen. Auch wenn es ihr damals gefiel, so sah man jetzt ihre hellblonden Wurzeln, die sich an den ersten Zentimetern zeigten. Das sah einfach nicht gut aus.
Sie hasste das dunkelblaue Poloshirt, das sie zur Arbeit tragen musste. Es war ihre eine Nummer zu groß und auf der linken Brust stand “Swift Thrift”. Die Buchstaben waren ausgeblichen, die Ecken vom vielen Waschen zerfranst.
Sie hasste ihre Arbeit beim Secondhandladen, wo es ständig nach Mottenkugeln und abgestandenem Schweiß roch und sie vorgeben musste, nett zu unhöflichen Kunden zu sein. Sie hasste es, dass sie als Sechzehnjährige ohne High School Abschluss nicht mehr als neun Dollar die Stunde verdienen konnte.
Doch sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie war fast unabhängig.
Die Badezimmertür ging plötzlich auf, wurde von der anderen Seite aufgestoßen. Tommy hielt inne, als er sie vor dem Spiegel stehen sah.
“Was zum Teufel, Tommy!” rief Sara. “Ich bin hier drin!”
“Warum hast du die Tür nicht abgeschlossen?” erwiderte er.
“Sie war doch zu, oder nicht?”
“Beeil dich! Ich muss pinkeln!”
“Raus jetzt!” Sie drückte die Tür zu und ließ den älteren Jungen hinter ihr fluchen. Das Leben in einer Wohngemeinschaft war alles andere als glamourös, doch sie hatte sich in dem letzten Jahr, seit sie hier wohnte, daran gewöhnt. Oder war es schon länger? Dreizehn Monate oder so, berechnete sie.
Sie legte etwas Wimperntusche auf und inspizierte sich erneut. Das reicht, dachte sie. Trotz Camillas Bemühungen trug sie nicht gerne viel Makeup. Und außerdem wuchs sie immer noch.
Sie ging gerade rechtzeitig aus dem Bad, das zur Küche hinaus öffnete, um zu sehen, wie Tommy sich von der Spüle abwandte und seinen Hosenstall zumachte.
“Oh Gott”, zuckte sie zusammen, “bitte sag mir, dass du nicht gerade in die Spüle gepinkelt hast.”
“Du hast zu lange gebraucht.”
“Gott, du bist widerlich.” Sie ging auf den alten beigen Kühlschrank zu und nahm eine Flasche Wasser heraus – ganz sicher tränke sie jetzt kein Leitungswasser, so viel stand fest – und als sie ihn wieder schloss, bemerkte sie die Tafel.
Sie zuckte erneut zusammen.
An der Kühlschranktür hing eine magnetische Tafel mit sechs Namen in schwarzer Schrift, alle Mitbewohner. Unter jedem Namen stand eine Nummer. Alle sechs waren für einen Teil der Miete verantwortlich und teilten sich auch die Rechnungen monatlich. Konnten sie ihren Teil nicht zahlen, dann hatten sie drei Monate Zeit, um ihre Schulden zu tilgen, sonst mussten sie ausziehen. Die Nummer unter Saras Namen war die größte.
Die Wohngemeinschaft war wirklich nicht der schlimmste Ort in Jacksonville. Das alte Haus brauchte ein paar Reparaturen, doch es war kein Desaster. Es gab vier Schlafzimmer, drei von ihnen waren von jeweils zwei Personen bewohnt und das vierte wurde als Aufbewahrungs- und Arbeitszimmer benutzt.
Ihr Vermieter, Mr. Nedelmeyer, war ein deutscher Typ, Anfang vierzig, der mehrere Immobilien wie diese in der Jacksonville Innenstadt besaß. Er war ziemlich entspannt, wenn man es sich genau überlegte. Er bestand sogar darauf, dass sie ihn einfach,Nadel’ nannten, was in Saras Ohren wie ein Name für einen Drogenhändler klang. Doch mit Nadel konnte man einfach umgehen. Es war ihm egal, ob Freunde über Nacht blieben oder ob sie hin und wieder eine Party veranstalteten. Drogen waren ihm egal. Er hatte nur drei Hauptregeln: wirst du verhaftet, dann fliegst du raus. Kannst du nach drei Monaten nicht bezahlen, dann fliegst du raus. Greifst du einen Mitbewohner an, dann bist du draußen.
Während sie da auf die Tafel am Kühlschrank starrte, machte Sara sich um die zweite Regel Sorgen. Doch dann hörte sie eine Stimme in ihrem Ohr, die sie über Regel drei beunruhigte.
“Was ist denn los kleines Mädchen? Hast du Angst wegen der großen Nummer da unter deinem Namen?” Tommy lachte, als ob er einen tollen Witz erzählt hätte. Er war neunzehn, schlaksig und knöchern und hatte auf beiden Armen Tätowierungen. Er und seine Freundin Jo teilten sich eines der Schlafzimmer. Keiner von ihnen arbeitete. Tommys Eltern schickten ihm jeden Monat Geld, mehr als genug, um ihre Ausgaben in der Wohngemeinschaft zu decken. Den Rest gaben sie für Kokain aus.
Tommy hielt sich für einen knallharten Typen. Doch er war nur ein Vorstadtkind in den Ferien.
Sara drehte sich langsam um. Der ältere Junge war fast dreißig Zentimeter größer als sie und stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. “Ich glaube”, sagte sie langsam, “du solltest ein paar Zentimeter zurücktreten.”
“Ansonsten?” grinste er bösartig. “Willst du mich schlagen?”
“Natürlich nicht. Das wäre gegen die Regeln.” Sie lächelte unschuldig. “Aber weißt du, kürzlich nahm ich ein kleines Video auf. Du und Jo, wie ihr Kokain vom Kaffeetisch geschnupft habt.”
Ein verängstigter Blick huschte über Tommys Gesicht, doch er blieb hart. “Na und? Nadel ist das egal.”
“Das hast du recht, ihm ist das egal.” Sara flüsterte weiter. “Aber Thomas Howell, der bei Binder & Associates arbeitet? Dem ist das vielleicht nicht egal.” Sie lehnte ihren Kopf zur Seite. “Das ist dein Papa, stimmt’s?”
“Woher…?” Tommy schüttelte seinen Kopf. “Das würdest du nicht wagen.”
“Vielleicht nicht. Liegt ganz an dir.” Sie ging an ihm vorbei, rempelte ihn rau mit ihrer Schulter dabei an. “Hör auf, in die Spüle zu pinkeln. Das ist widerlich.” Dann ging sie nach oben.
Sara hatte Virginia mehr als ein Jahr zuvor als eine verängstigte, naive Fünfzehnjährige verlassen. Nur wenig mehr als ein Jahr war vergangen, doch sie hatte sich verändert. Im Bus von Alexandria nach Jacksonville hatte sie sich zwei Regeln auferlegt. Die erste Regel besagte, dass sie niemanden um nichts bitten würde, am wenigsten ihren Vater. Und sie hielt sich daran. Maya half ihr hin und wieder ein wenig aus und Sara war dankbar – doch sie bat nie darum.
Die zweite Regel bestand darin, dass sie sich von niemandem etwas sagen ließe. Sie hatte schon zu viel mitgemacht. Sie hatte Dinge gesehen, über die sie niemals sprechen könnte. Dinge, die sie Nachts immer noch nicht schlafen ließen. Dinge, die sich ein Typ wie Tommy niemals vorstellen könnte. Sie war nicht wie andere Teenager, voller Angst. Sie hatte ihre eigene Vergangenheit überwunden.
Oben angelangt öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer, das sie und Camilla teilten. Es war wie ein Zimmer im Studentenwohnheim eingerichtet: zwei Doppelbetten, die an entgegengesetzten Wänden standen, mit einem Gang und einem geteilten Nachttisch dazwischen. Sie hatten eine kleine Kommode und einen Schrank, den sie ebenfalls teilten. Ihre Mitbewohnerin lag noch im Bett. Sie lag wach auf dem Rücken und scrollte durch die sozialen Netzwerke auf ihrem Handy.
“Hey”, gähnte sie, als Sara eintrat. Camilla war achtzehn und zum Glück sehr angenehm. Sie war die erste Freundin, die Sara in Florida gewann. Es war ihre Internetanzeige für eine Mitbewohnerin, die Sara überhaupt hierher gebracht hatte. Sie verstanden sich gut. Camilla brachte ihr sogar bei, zu fahren. Sie brachte ihr bei, wie man Wimperntusche auflegte und welche Kleidung ihrem schmalen Körper gut stand. Sara hatte eine Menge neues Vokabular und Angewohnheiten von ihr gelernt. Fast wie eine große Schwester.
Fast wie eine große Schwester, die dich nicht mit einem Mann alleine lässt, den du nicht aushältst.
“Hey du. Steh auf, es ist schon fast zehn.” Sara nahm ihre Handtasche vom Nachttisch und schaute nach, ob sie alles hatte, was sie brauchte.
“Es wurde gestern Nacht bei mir spät.” Camilla arbeitete als Bedienung und Barkeeper bei einem Fischrestaurant. “Aber schau mal, ich hab das Bündel hier bekommen.” Sie zeigte ihr ein dickes Bündel Bargeld, das Trinkgeld der letzten Nacht.
“Toll”, murmelte Sarah, “ich muss zur Arbeit.”
“Cool. Ich habe heute Abend frei. Soll ich dir wieder das Haar machen? Sieht ein bisschen zerzaust aus.”
“Ja, ich weiß, sieht Scheiße aus”, erwiderte Sara verärgert.
“Aua, feindlich.” Camilla zog die Stirn in Falten. “Wer hat dir denn die Laune versauert?”
“Tut mir leid. War nur Tommy, der sich wie ein Esel benimmt.”
“Vergiss den Typen. Das ist doch ein Angeber.”
“Ich weiß”, seufzte Sara und rieb sich über ihr Gesicht. “OK. Ich gehe zur Maloche.”
“Wart mal. Du bist ganz schön nervös. Willst du ein Pillchen?”
Sara schüttelte ihren Kopf. “Nein, ist schon in Ordnung.” Sie ging zwei Schritte auf die Tür zu. “Scheiß drauf, her damit.”
Camilla grinste und setzte sich im Bett auf. Sie griff nach ihrer eigenen Tasche und zog zwei Dinge heraus – eine orangefarbene Rezeptflasche ohne Etikette und einen kleinen Plastikzylinder mit einer roten Kappe. Sie schüttelte eine längliche, blaue Xanax aus der Flasche, ließ sie in die Tablettenmühle fallen, drehte die rote Kappe fest zu und zerdrückte dabei die Tablette zu Pulver. “Hand her.”
Sara streckte ihre rechte Hand aus, mit der Innenfläche nach unten, und Camilla schüttelte das Puder auf die fleischige Brücke zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Sara hielt ihre Hand an ihr Gesicht, verschloss ein Nasenloch und schniefte.
“Gutes Mädchen.” Camilla schlug ihr sanft auf den Hintern. “Jetzt aber raus hier, bevor du noch zu spät kommst. Bis heute Abend.”
Sara machte das Friedenszeichen, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie konnte das bittere Puder in ihrer Kehle schmecken. Es dauerte nicht lang, bis es wirkte, doch sie wusste, dass eine Tablette sie kaum durch den halben Tag brächte.
Draußen war es selbst für Oktober noch sehr heiß, so wie die Spätsommer, die sie manchmal in Virginia hatten. Doch sie gewöhnte sich an das Wetter. Sie mochte den Sonnenschein, der fast das ganze Jahr währte, es gefiel ihr, so nah am Strand zu sein. Das Leben war nicht immer toll, doch es war viel besser, als es vor zwei Sommern war.
Sara war kaum aus der Tür, als ihr Handy in ihrer Tasche klingelte. Sie wusste schon, wer es war, eine der wenigen Personen, die sie überhaupt anrief.
“Hi!” antwortete sie, während sie lief.
“Hallo.” Mayas Stimme klang leise, angestrengt. Sara bemerkte gleich, dass es ihr wegen irgendetwas nicht gut ging. “Hast du eine Minute Zeit?”
“Äh, ein paar. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit.” Sara blickte um sich. Sie lebte in keinem schlechten Viertel, doch es wurde ein wenig rauer, als sie sich dem Secondhandladen annäherte. Sie hatte niemals selbst ein Problem gehabt, doch sie achtete immer aufmerksam auf ihr Umfeld und hielt den Kopf beim Gehen erhoben. Ein Mädchen, das durch ihr Telefon abgelenkt war, konnte ein mögliches Ziel sein. “Was gibt’s?”
“Ich, äh…” Maya zögerte. Es war sehr ungewöhnlich, dass sie verdrossen war und sich zögerlich verhielt. “Ich habe gestern Abend Papa gesehen.”
Sara hielt an, aber sagte nichts. Ihr Magen zog sich instinktiv zusammen, als ob sie sich auf einen Schlag vorbereitete.
“Es… lief nicht gut.” Maya seufzte. “Ich habe ihn zum Schluss angeschrien und bin rausgerannt —”
“Warum erzählst du mir das?” wollte Sara wissen.
“Was?”
“Du weißt, dass ich ihn nicht sehen will. Dass ich nichts von ihm hören will. Ich will nicht mal an ihn denken. Also warum erzählst du mir das?”
“Ich dachte, du wolltest es vielleicht wissen.”
“Nein”, sagte Sara nachdrücklich. “Du hattest eine schlechte Erfahrung und du willst mit jemandem darüber sprechen, von dem du annimmst, dass er dich versteht. Es interessiert mich nicht. Ich bin mit dem durch. OK?”
“Ja”, seufzte Maya. “Ich glaube, ich auch.”
Sara zögerte einen Moment. Sie hatte ihre Schwester nie so geschlagen gehört. Doch sie beharrte auf ihrer Position. “Gut. Mach mit deinem Leben weiter. Wie läuft es in der Akademie?”
“Da läuft’s super”, antwortete Maya, “ich bin die Klassenbeste.”
“Natürlich bist du das. Du bist brillant.” Sara lächelte, als sie weiterging. Doch gleichzeitig bemerkte sie Bewegung auf dem Bürgersteig in der Nähe ihrer Füße. Ein Schatten, der sich lang in der Morgensonne hinzog, hielt mit ihr Schritt. Jemand lief nicht weit hinter ihr.
Du bist paranoid. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen Fußgänger für einen Verfolger hielt. Es war eine bedauerliche Nachfolge ihrer Erlebnisse. Trotzdem ging sie langsamer, als sie sich der nächsten Kreuzung annäherte, um die Straße zu überqueren.
“Aber ernsthaft”, sagte Maya durch das Telefon. “Geht es dir gut?”
“Oh, ja.” Sara hielt inne und wartete auf die Ampel. Der Schatten tat das gleiche. “Mir geht’s gut.” Sie hätte sich umdrehen können, um ihn anzusehen, ihn wissen lassen, dass sie es bemerkt hatte, doch sie hielt ihre Augen nach vorn gerichtet und wartete, bis die Ampel auf grün schaltete, um herauszufinden, ob er folgen würde.
“Gut. Das freut mich. Ich versuche, dir in den nächsten Wochen was zu schicken.”
“Das musst du nicht tun”, sagte ihr Sara. Dann schaltete die Ampel um. Sie ging schnell über die Straße.
“Ich weiß, dass ich das nicht muss. Ich will es. Also, ich lasse dich jetzt zur Arbeit gehen.”
Ich habe morgen frei.” Sara erreichte die andere Straßenseite und ging weiter. Der Schatten hielt mit ihr mit. “Sprechen wir dann?”
“Unbedingt. Hab dich lieb.”
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