Kitabı oku: «Zielobjekt Null », sayfa 4
Er wusste aus Unterhaltungsausschnitten, die er belauscht hatte, dass heute Nacht drei Nachtschwestern auf der chirurgischen Station tätig sein würden. Darunter war auch Elena, mit zwei anderen Schwestern, die auf Bereitschaft waren, sollten sie benötigt werden. Das bedeutete, dass es mit ihnen und den beiden Polizeiwachen mindestens fünf Personen gab, mit denen er fertig werden musste, maximal aber sieben.
Keiner der Krankenhausmitarbeiter mochte es, sich um ihn kümmern zu müssen, da sie wussten, wer er war, und sie schauten daher nur sehr unregelmäßig nach ihm. Jetzt, da Elena gerade bei ihm gewesen und wieder gegangen war, wusste er, dass er zwischen sechzig und neunzig Minuten Zeit hatte, bevor sie zurückkommen würde.
Sein linker Arm wurde von einer einfachen Krankenhausschlinge in Position gehalten, welche Fachleute häufig als „Vierpunkter“ bezeichneten. Es war eine weiche, blaue Manschette um sein Handgelenk mit einem engen, weißen, zugeschnallten Nylonriemen, der mit dem anderen Ende stramm am Stahlgeländer seines Bettes befestigt war. Aufgrund des Ausmaßes seiner Verbrechen war seine rechte Hand mit Handschellen gefesselt worden. Die Wachen außerhalb seines Zimmers unterhielten sich auf Deutsch. Rais hörte aufmerksam zu; der Linke, Luca, schien sich zu beklagen, dass seine Frau zu dick wurde. Rais spottete; Luca war selbst alles andere als durchtrainiert. Der Andere, ein Mann namens Elias, war jünger und sportlich, trank Kaffee allerdings in Mengen, die für die meisten Menschen tödlich wären. Jede Nacht, zwischen neunzig Minuten und zwei Stunden nach Schichtbeginn, rief Elias den Nachtwächter an, damit er zur Toilette gehen konnte. Während er fort war, ging Elias für eine Zigarette nach draußen, was also mit der Toilettenpause bedeutete, dass er gewöhnlich für acht bis elf Minuten abwesend war. Rais hatte die letzten Nächte damit verbracht, leise die Sekunden zu zählen, die Elias abwesend war. Es war ein sehr enges Zeitfenster, aber eines, auf das er nun vorbereitet war.
Er griff unter seiner Bettdecke nach der geschärften Klammer und hielt sie zwischen den Fingerspitzen seiner linken Hand. Dann warf er sie vorsichtig in einem Bogen über seinen Körper. Sie landete geschickt in der Handfläche seiner rechten Hand. Als Nächstes käme der schwierigste Teil seines Plans. Er zog an seinem Handgelenk, sodass die Handschellenkette gespannt war und während er sie so hielt, drehte er seine Hand und drückte die geschärfte Spitze der Klammer in das Schlüsselloch der Handschelle, die am Stahlgeländer befestigt war. Es war schwierig und umständlich, aber er war schon einmal aus Handschellen entkommen; er wusste, dass der Verriegelungsmechanismus im Inneren so konstruiert war, dass ein Universalschlüssel fast jedes Paar öffnen konnte, und wenn man die inneren Funktionen eines Schlosses kannte, dann bedeutete es einfach nur, dass man die richtigen Bewegungen machen musste, um die Metallstifte im Inneren zu lösen.
Er musste die Kette jedoch straff halten, damit die Manschette nicht gegen das Geländer klapperte und seine Wächter alarmierte.
Er brauchte fast zwanzig Minuten. Drehen, wenden, er machte eine kurze Pause, um seine schmerzenden Finger zu entlasten und versuchte es erneut, aber schließlich klickte das Schloss und die Handschelle öffnete sich. Rais löste sie vorsichtig vom Bettgestell.
Eine Hand war frei.
Er streckte die Hand aus und löste schnell die Manschette an seinem linken Arm.
Beide Hände waren frei.
Er versteckte die Klammer unter seiner Bettdecke und nahm die obere Hälfte des Stiftes heraus, die er so in seiner Hand hielt, dass nur die scharfe Spitze herausragte. Außerhalb seines Zimmers stand der jüngere Wächter plötzlich auf. Rais hielt den Atem an und tat so, als schliefe er, als Elias hineinsah.
„Rufst du bitte Francis an“, sagte Elias auf Deutsch. „Ich muss pissen.“
„Sicher“, sagte Luca gähnend. Er kontaktierte den Nachtwächter, der normalerweise hinter der Rezeption im ersten Stock stationiert war, über sein Funkgerät. Rais hatte Francis schon öfter gesehen; er war ein älterer Mann, Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, und relativ schmal gebaut. Er trug eine Waffe, aber seine Bewegungen waren langsam.
Es war genau das, worauf Rais gehofft hatte. Er wollte in seinem Genesungszustand nicht gegen den jüngeren Polizeibeamten kämpfen müssen.
Drei Minuten später tauchte Francis in seiner weißen Uniform mit schwarzer Krawatte auf und Elias eilte zur Toilette. Die beiden Männer vor der Tür begrüßten sich, als Francis sich mit einem schweren Seufzen auf Elias’ Plastikstuhl niederließ.
Es war an der Zeit zu handeln.
Rais rutschte vorsichtig zum Ende des Bettes hinunter und stellte seine nackten Füße auf die kalten Fliesen. Es war einige Zeit vergangen, seit er seine Beine benutzt hatte, aber er war zuversichtlich, dass seine Muskeln nicht zu verkümmert waren, um zu tun, wofür er sie brauchte.
Er stand vorsichtig auf, leise – und seine Knie knickten ein. Er griff zur Unterstützung nach der Bettkante und warf einen Blick zur Tür hinüber. Niemand kam; die Unterhaltungen wurden fortgesetzt. Die beiden Männer hatten nichts gehört.
Rais stand außer Atem und zitternd da und machte ein paar leise Schritte. Seine Beine waren schwach, aber er war immer stark gewesen, wenn es nötig war und jetzt gerade musste er stark sein. Sein Krankenhausgewand mit offenem Rücken wehte um ihn herum. Das obszöne Outfit würde ihn nur behindern, also zog er es aus und stand nun splitternackt im Krankenhauszimmer.
Mit der Stiftspitze in seiner Faust stellte er sich hinter die geöffnete Tür und stieß ein leises Pfeifen aus.
Beide Männer hatten es offensichtlich gehört, da man das Quietschen ihrer Plastikstuhlbeine auf dem Fußboden hören konnte, als sie von ihren Stühlen aufstanden. Lucas Körper füllte den Türrahmen, als er in den dunklen Raum hineinschaute.
„Mein Gott“, flüsterte er, als er eilig ins Zimmer trat und das leere Bett bemerkte.
Francis kam ihm mit seiner Hand am Holster seiner Pistole hinterher.
Sobald der ältere Wächter über die Türschwelle getreten war, sprang Rais nach vorn. Er rammte die Spitze des Stiftes in Lucas Hals und drehte sie, wobei er einen Teil seiner Halsschlagader aufschlitzte. Reichlich Blut spritze aus der offenen Wunde, es traf sogar die Wand auf der gegenüberliegenden Seite.
Er ließ den Stift los und stürzte sich auf Francis, der Schwierigkeiten hatte, seine Waffe aus der Halterung zu befreien. Öffnen, aus der Halterung ziehen, entsichern, zielen – die Reaktion des älteren Mannes war langsam und es kostete ihn kostbare Sekunden, die er nicht hatte.
Rais verpasste ihm zwei Schläge, den Ersten direkt unter den Bauchnabel nach oben, unmittelbar gefolgt von einem Schlag auf den Solarplexus. Der eine drückte Luft in die Lunge, während der andere die Luft hinausdrückte und der plötzliche Effekt dessen auf den verwirrten Körper, war verschwommene Sicht und manchmal Bewusstlosigkeit.
Francis taumelte, er konnte nicht atmen und sank auf seine Knie. Rais wirbelte hinter ihm herum und brach dem Wächter mit einer sauberen Bewegung den Hals.
Luca hielt sich mit beiden Händen den Hals, während er verblutete; ein Gurgeln und leichtes Keuchen stiegen in seiner Kehle auf. Rais sah zu und zählte die elf Sekunden, bevor der Mann das Bewusstsein verlor. Wenn der Blutfluss nicht gestoppt würde, dann wäre er in weniger als einer Minute tot.
Er entledigte beide Wachen schnell ihrer Waffen und legte sie auf das Bett. Die nächste Phase seines Plans würde nicht leicht werden; er musste sich unbemerkt zur Abstellkammer den Gang hinunterschleichen, in dem es frische Kittel gab. Er konnte das Krankenhaus schlecht in Francis’ erkennbarer oder in Lucas nun blutgetränkter Uniform verlassen.
Er hörte eine männliche Stimme den Flur entlangkommen und erstarrte.
Es war der andere Wächter, Elias. So schnell? Angst breitete sich in Rais’ Brust aus. Dann hörte er eine zweite Stimme – die von Nachtschwester Elena. Anscheinend hatte Elias seine Zigarettenpause ausfallen lassen, um mit der hübschen jungen Krankenschwester zu plaudern, und nun kamen sie beide den Flur entlang in die Richtung seines Zimmers gelaufen. Sie würden das Zimmer in wenigen Augenblicken erreichen. Er hätte es vorgezogen, Elena nicht zu töten. Aber wenn er die Wahl zwischen ihm oder ihr hatte, dann würde sie sterben müssen.
Rais nahm eine der Waffen vom Bett. Es war eine Sig P220, ganz in schwarz, .45 Kaliber. Er nahm sie in seine linke Hand. Ihr Gewicht fühlte sich willkommen und vertraut an, so wie eine ehemalige Geliebte. Mit seiner Rechten griff er nach der offenen Seite der Handschellen. Und dann wartete er.
Die Stimmen im Flur verstummten.
„Luca?“, rief Elias. „Francis?“ Der junge Polizist löste den Verschluss seines Holsters und positionierte seine Hand über der Pistole, als er den dunklen Raum betrat. Elena schlich hinter ihm hinein. Elias’ Augen weiteten sich entsetzt beim Anblick der beiden toten Männer.
Rais schlug den Haken der geöffneten Handschellen in die Seite des Halses des jungen Mannes und riss dann seinen Arm nach hinten. Das Metallstück bohrte sich in sein Handgelenk und die Wunde an seinem Rücken brannte, aber er ignorierte den Schmerz, als er die Kehle des jungen Mannes von seinem Hals riss. Eine beträchtliche Menge Blut spritze auf den Arm des Killers.
Mit seiner linken Hand drückte er die Sig gegen Elenas Stirn.
„Schrei nicht“, sagte er schnell und leise. „Rufe niemanden. Bleib still und du wirst leben. Mache auch nur ein einziges Geräusch und du wirst sterben. Verstanden?“
Ein leises Quieken entwich Elenas Lippen, als sie das Schluchzen unterdrückte, das in ihr aufstieg. Sie nickte, als Tränen in ihre Augen stiegen. Sie nickte noch immer, als Elias mit seinem Gesicht flach auf den gefliesten Boden fiel.
Er sah sie von oben bis unten an. Sie war zierlich, aber ihre Kleidung war etwas ausgeleiert und der Bund war elastisch. „Zieh dich aus“, sagte er zu ihr.
Elenas Mund fiel vor Entsetzen auf.
Rais lächelte. Er konnte die Verwirrung jedoch verstehen; er war schließlich immer noch nackt. „Ich bin keins dieser Monster“, versicherte er ihr. „Ich brauche Kleidung. Ich werde nicht noch einmal fragen.“
Die junge Frau zitterte, zog ihr Oberteil und dann ihre Hose über ihre weißen Schuhe aus, während sie neben Elias’ Blutlache stand. Rais nahm die Kleidungsstücke entgegen und zog sie etwas unbeholfen einhändig an, während er die Sig auf das Mädchen gerichtet hielt. Die Kleidung war eng, die Hose etwas zu kurz, aber es würde reichen. Er steckte die Pistole in den hinteren Hosenbund und nahm die andere Waffe vom Bett.
Elena stand in ihrer Unterwäsche da und umklammerte ihre Körpermitte. Rais bemerkte es; er hob sein Patientengewand auf und reichte es ihr. „Bedecke dich. Dann lege dich ins Bett.“ Als sie tat, wie er ihr befohlen hatte, fand er einen Schlüsselbund an Lucas Gürtel und öffnete seine andere Handschelle. Dann schlang er die Kette um das Stahlgeländer des Bettes und fesselte Elenas Hände damit.
Er legte die Schlüssel auf die äußerste Kante des Nachttisches, außerhalb ihrer Reichweite. „Jemand wird kommen und dich befreien, nachdem ich gegangen bin“, sagte er zu ihr. „Aber zunächst habe ich ein paar Fragen. Du musst ehrlich zu mir sein, denn wenn du es nicht bist, dann komme ich zurück und bringe dich um. Verstehst du?“
Sie nickte verzweifelt und Tränen rollten über ihre Wangen.
„Wie viele andere Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“
„B-bitte verletzen Sie sie nicht“, stammelte sie.
„Elena. Wie viele Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“, wiederholte er.
„Z-zwei …“, schniefte sie. „Thomas und Mia. Aber Tom macht gerade Pause. Er wird vermutlich unten sein.“
„Okay.“ Das Namensschild, welches an seiner Brust befestigt war, hatte die ungefähre Größe einer Kreditkarte. Es hatte ein kleines Foto von Elena und einen schwarzen Magnetstreifen, der über die Länge der Rückseite verlief. „Ist dies nachts eine abgeschlossene Station? Und deine Karte, ist sie der Schlüssel?“
Sie nickte und schniefte wieder.
„Gut.“ Er steckte die zweite Pistole in seinen Hosenbund und kniete sich neben Elias Leiche. Dann zog er ihm beide Schuhe aus und rutschte mit seinen Füßen hinein. Sie waren etwas eng, aber gut genug, um zu fliehen. „Eine letzte Frage. Weißt du, was Francis fährt? Der Nachtwächter?“ Er deutete auf den toten Mann in weißer Uniform.
„I-ich bin mir nicht sicher. Einen … einen Geländewagen, glaube ich.“
Rais griff in Francis’ Taschen und zog einen Schlüsselbund hervor. Daran war ein elektronischer Anhänger; das würde helfen, das Fahrzeug zu finden. „Danke für deine Ehrlichkeit“, sagte er zu ihr. Dann riss er einen Streifen von der Ecke des Bettlakens ab und stopfte ihn in ihren Mund.
Der Flur war leer und hell beleuchtet. Rais hielt die Sig hinter seinem Rücken versteckt in der Hand, als er den Gang entlangschlich. Er führte zu einem breiteren Bereich mit einer u-förmigen Krankenschwesternkabine und dahinter zum Ausgang der Station. Eine Frau mit runden Brillengläsern und einem braunen Bobschnitt saß mit dem Rücken zu ihm am Computer.
„Drehen Sie sich bitte um“, sagte er zu ihr.
Die erschrockene Frau wirbelte herum und sah ihren Patienten/Gefangenen in einem Krankenhauskittel, mit einem blutbeschmierten Arm und einer Waffe, die auf sie gerichtet war. Sie bekam keine Luft und ihre Augen weiteten sich.
„Sie müssen Mia sein“, sagte Rais. Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, korpulent und hatte dunkle Ringe unter ihren großen Augen. „Hände hoch.“
Sie hob die Hände.
„Was ist mit Francis passiert?“, fragte sie leise.
„Francis ist tot“, antwortete Rais leidenschaftslos. „Wenn Sie ihm folgen wollen, tun Sie ruhig etwas Unüberlegtes. Wenn Sie leben wollen, hören Sie aufmerksam zu. Ich werde durch diese Tür gehen. Sobald sie sich hinter mir schließt, werden Sie langsam bis dreißig zählen. Dann gehen Sie in mein Zimmer. Elena lebt, aber sie braucht Ihre Hilfe. Danach können Sie das tun, wozu Sie in einer solchen Situation ausgebildet wurden. Verstehen Sie?“
Die Krankenschwester nickte einmal kräftig.
„Habe ich Ihr Wort dafür, dass Sie diese Anweisungen befolgen werden? Ich bevorzuge es, Frauen nicht zu töten, wenn ich es vermeiden kann.“
Sie nickte wieder, diesmal langsamer.
„Gut.“ Er ging um die Schwesternkabine herum, zog die Karte von seinem Kittel und schob sie durch den Kartenschlitz an der rechten Seite der Tür. Ein kleines Licht wechselte von rot auf grün und das Schloss klickte. Rais drückte die Tür auf, warf Mia, die sich nicht bewegt hatte, einen weiteren Blick zu und sah dann zu, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Und dann rannte er los.
Er eilte den Flur entlang und steckte dabei die Sig zurück in seine Hose. Er rannte die Treppe hinunter in den ersten Stock, nahm zwei Stufen auf einmal, und stürmte dann aus einer Seitentür in die Schweizer Nacht hinaus. Kühle Luft wusch wie eine reinigende Dusche über ihn und er nahm sich einen Augenblick Zeit, um frei zu atmen. Seine Beine schwankten und drohten, nachzugeben. Das Adrenalin seiner Flucht ließ rasch nach und seine Muskeln waren immer noch ziemlich schwach. Er zog Francis’ Schlüsselanhänger aus der Kitteltasche und drückte den roten Alarmknopf. Der Alarm eines SUVs ertönte und die Scheinwerfer blinkten. Er stellte ihn schnell ab und rannte hinüber. Sie würden nach diesem Auto suchen, das wusste er, aber er würde sich nicht für sehr lange darin aufhalten. Er würde es bald loswerden müssen, neue Kleidung finden und am Morgen zur Hauptpostfiliale gehen, wo er alles hatte, was er brauchte, um unter einer falschen Identität aus der Schweiz zu fliehen. Und sobald er konnte, würde er Kent Steele finden und töten.
KAPITEL VIER
Reid hatte gerade die Einfahrt verlassen, um sich mit Maria zu treffen, als er auch schon Thompson anrief, um ihn zu bitten, das Haus der Lawsons zu überwachen. „Ich habe entschieden, den Mädchen heute Abend ein wenig Unabhängigkeit zu geben“, erklärte er. „Ich werde nicht allzu lange weg sein. Aber trotzdem, halten Sie bitte Ihre Augen und Ohren offen.“
„Selbstverständlich“, stimmte der alte Mann zu.
„Und, ähm, wenn es irgendeinen Grund zur Beunruhigung gibt, gehen Sie bitte sofort zu ihnen hinüber.“
„Das werde ich, Reid.“
„Sie wissen schon, wenn Sie sie nicht sehen können oder so, können Sie an die Tür klopfen oder das Festnetztelefon anrufen …“
Thompson kicherte. „Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Und sie auch. Sie sind Teenager. Sie brauchen ab und zu etwas Freiheit. Genießen Sie Ihr Date.“
Mit Thompsons wachsamem Auge und Mayas Entschlossenheit, sich selbst als verantwortungsbewusst zu beweisen, dachte Reid, dass er beruhigt sein und wissen konnte, dass die Mädchen in Sicherheit waren. Natürlich wusste er, dass dies nur ein weiterer seiner mentalen Ausflüge war. Er würde den gesamten Abend daran denken müssen.
Er musste die GPS-Karte auf seinem Handy aufrufen, um den Ort zu finden. Er kannte sich in Alexandria und der Umgebung noch nicht aus, nicht so gut wie Maria, mit der Nähe zu Langley und dem CIA-Hauptquartier. Und trotzdem hatte sie einen Ort ausgewählt, an dem sie noch nie zuvor gewesen war, wahrscheinlich, um sozusagen Ausgleich zu schaffen.
Auf der Fahrt dorthin verpasste er zwei Ausfahrten, obwohl die GPS-Stimme ihm mitteilte, welche Strecke er wann nehmen musste. Er dachte an die merkwürdigen Erinnerungen, die er nun zwei Mal gehabt hatte – zum ersten Mal, als Maya ihn fragte, ob Kate über ihn Bescheid wusste, und dann noch einmal, als er das Parfum roch, welches seine verstorbene Frau geliebt hatte. Es nagte an ihm und lenkte ihn so sehr ab, dass er, selbst als er versuchte, auf die Anweisungen zu hören, schnell wieder abgelenkt wurde.
Der Grund dafür, dass es ihm so seltsam vorkam, war, dass jede andere Erinnerung an Kate so lebhaft in seinem Kopf war. Im Gegensatz zu Kent Steele hatte sie ihn nie verlassen; er erinnerte sich daran, als er sie traf. Er erinnerte sich daran, als er mit ihr ausging. Er erinnerte sich an Ferien und den Kauf ihres ersten Hauses. Er erinnerte sich an ihre Hochzeit und die Geburten seiner Kinder. Er erinnerte sich sogar an ihre Streitereien – zumindest dachte er, dass er das tat.
Die reine Vorstellung, irgendeinen Teil von Kate zu verlieren, erschütterte ihn. Der Gedächtnisunterdrücker hatte bereits einige Nebenwirkungen gezeigt, wie beispielsweise die gelegentlichen Kopfschmerzen, die durch eine hartnäckige Erinnerung ausgelöst wurden – es war ein experimentelles Verfahren und die Methode der Entfernung war alles andere als operativ verlaufen.
Was, wenn mehr als nur meine Vergangenheit als Agent Null von mir genommen wurde? Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Es war ein beunruhigender Gedanke; es dauerte nicht lange, bis er überlegte, ob er möglicherweise auch Erinnerungen an die Zeit mit seinen Mädchen vergessen haben könnte. Und noch schlimmer war es, dass es keinen Weg für ihn gab, die Antwort darauf zu finden, ohne sein volles Gedächtnis wiederherstellen zu können.
Es war alles zu viel und er spürte, wie sich erneut Kopfschmerzen bemerkbar machten. Er schaltete das Radio ein und drehte es laut auf, um sich abzulenken.
Die Sonne ging unter, als er auf den Parkplatz des Restaurants fuhr – ein „Gastropub“ mit dem Namen „Der Weinkeller“. Er war ein paar Minuten zu spät dran. Er stieg schnell aus dem Auto und ging zur Vorderseite des Gebäudes.
Dann blieb er stehen.
Maria Johansson stammte aus der dritten Generation schwedisch-amerikanischer Einwanderer und ihre CIA-Tarnung war, dass sie eine zertifizierte Wirtschaftsprüferin aus Baltimore war – obwohl Reid der Meinung war, dass sie ein Model für Titelblätter oder Poster hätte sein sollen. Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als er. Ein Meter achtzig, lange, glatte, blonde Haare, die schwerelos auf ihre Schultern fielen. Ihre Augen waren schiefergrau und ihr Blick irgendwie intensiv. Sie stand bei etwa zwölf Grad Celsius vor der Tür. Sie trug ein einfaches, dunkelblaues Kleid mit tiefem V-Ausschnitt und ein weißes Tuch über den Schultern.
Sie entdeckte ihn, als er sich näherte, und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Hallo. Lange nicht gesehen.“
„Ich … wow“, platzte es aus ihm heraus. „Ich meine, ähm … du siehst toll aus.“ Es kam ihm in den Sinn, dass er Maria noch nie zuvor geschminkt gesehen hatte. Der blaue Lidschatten passte zu ihrem Kleid und ließ ihre Augen fast leuchtend erscheinen.
„Du siehst auch nicht schlecht aus.“ Sie nickte zustimmend über seine Kleiderwahl. „Sollen wir reingehen?“
Danke Maya, dachte er. „Ja. Natürlich.“ Er griff nach der Tür und öffnete sie. „Aber bevor wir das tun, habe ich eine Frage. Was zur Hölle ist ein „Gastropub“?“
Maria lachte. „Ich glaube, es ist, was wir früher eine Kneipe genannt haben, nur mit vornehmerem Essen.“
„Verstehe.“
Das Restaurant war gemütlich, wenn auch ein wenig klein, mit gemauerten Innenwänden und freiliegenden Holzbalken an der Decke. Die Beleuchtung bestand aus hängenden Edison-Glühbirnen, die für ein warmes und gedämpftes Ambiente sorgten.
Wieso bin ich nervös?, dachte er, als sie sich setzten. Er kannte diese Frau. Sie hatten zusammen eine internationale Terrororganisation davon abgehalten, Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen zu ermorden. Aber das hier war anders; es war kein Auftrag oder Diensteinsatz. Das hier war zum Vergnügen und irgendwie machte das einen Unterschied.
Lerne sie kennen, hatte Maya zu ihm gesagt. Sei interessant.
„Also, wie läuft es auf der Arbeit?“, fragte er schließlich. Er stöhnte innerlich über seinen halbherzigen Versuch.
Maria lächelte. „Du solltest wissen, dass ich darüber nicht wirklich reden kann.“
„Stimmt“, sagte er. „Natürlich.“ Maria war eine aktive CIA-Feldagentin. Selbst wenn er selber auch aktiv wäre, wäre sie nicht in der Lage, Details eines Einsatzes mit ihm zu besprechen, an dem er nicht ebenfalls beteiligt war.
„Und bei dir?“, fragte sie. „Wie ist der neue Job?“
„Nicht schlecht“, gab er zu. „Ich bin in einer Nebenstelle, es ist also vorläufig nur Teilzeit, ein paar Vorlesungen die Woche. Ein paar Benotungen und so weiter. Aber nichts besonders Spannendes.“
„Und die Mädchen? Wie geht es ihnen?“
„Ähm … sie kommen zurecht“, sagte Reid. „Sara redet nicht darüber, was passiert ist. Und Maya hat eigentlich gerade …“ Er stoppte sich selbst, bevor er zu viel sagte. Er vertraute Maria, aber gleichzeitig wollte er nicht zugeben, dass Maya sehr genau erraten hatte, was es war, worin Reid involviert war. Seine Wangen wurden rosig, als er sagte: „Sie neckt mich. Darüber, dass dies hier ein Date ist.“
„Ist es das nicht?“, fragte Maria ausdruckslos.
Reid spürte, wie sein Gesicht wieder rot wurde. „Ja, ich denke, das ist es.“
Sie lächelte wieder. Es schien so, als würde sie seine Unbeholfenheit genießen. Bei der Arbeit, als Kent Steele, hatte er bewiesen, dass er selbstbewusst, fähig und gesammelt sein konnte. Aber hier, in der realen Welt, war er nach zwei Jahren Enthaltsamkeit genauso unbeholfen, wie jeder andere.
„Und wie geht es dir?“, fragte sie. „Wie schlägst du dich?“
„Mir geht es gut“, sagte er. „Prima.“ Sobald er es gesagt hatte, bereute er es. Hatte er nicht gerade von seiner Tochter gelernt, dass Ehrlichkeit die beste Strategie war? „Das ist eine Lüge“, fügte er sofort hinzu. „Ich schätze, es läuft nicht so gut. Ich beschäftige mich selbst mit allen möglichen unnützen Aufgaben und erfinde Entschuldigungen, denn, wenn ich lange genug aufhöre, um mit meinen Gedanken alleine zu sein, erinnere ich mich an ihre Namen. Ich sehe ihre Gesichter, Maria. Und ich kann nicht anders, als zu denken, dass ich nicht genug getan habe, um es zu verhindern.“
Sie wusste genau, wovon er sprach – von den neun Personen, die in der einen erfolgreichen Explosion, welche Amun in Davos auslösen konnte, ums Leben gekommen waren. Maria griff über den Tisch und nahm seine Hand. Ihre Berührung schickte ein elektrisches Kribbeln seinen Arm hinauf und schien seine Nerven etwas zu beruhigen. Ihre Finger waren warm und weich in seiner Hand.
„Das ist die Realität, der wir ausgesetzt sind“, sagte sie. „Wir können nicht jeden retten. Ich weiß, dass du nicht all deine Erinnerungen als Null zurückhast, sonst wüsstest du das.“
„Vielleicht will ich es gar nicht wissen“, sagte er leise.
„Ich verstehe dich. Wir versuchen es trotzdem. Aber zu denken, dass du die Welt vor jedem Unheil bewahren könntest, wird dich verrückt machen. Neun Leben wurden genommen, Kent. Es ist passiert und es gibt keinen Weg zurück. Aber es hätten Hunderte sein können. Es hätten Tausende sein können. So musst du das sehen.“
„Was ist, wenn ich das nicht kann?“
„Dann … suche dir vielleicht ein gutes Hobby? Ich stricke.“
Er konnte nicht anders, als zu lachen. „Du strickst?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Maria strickte. Dass sie Stricknadeln als Waffe nutzte, um einen Feind lahmzulegen? Mit Sicherheit. Aber tatsächliches Stricken?
Sie hielt ihr Kinn hoch. „Ja, ich stricke. Lach nicht. Ich habe gerade eine Decke fertiggestrickt, die weicher ist, als alles, was du je in deinem Leben gefühlt hast. Mein Punkt ist: suche dir ein Hobby. Du brauchst etwas, um deine Hände und deinen Geist zu beschäftigen. Wie steht es um dein Gedächtnis? Gibt es da irgendwelche Verbesserungen?“
Er seufzte. „Nicht wirklich. Ich schätze, es gab nicht viel, womit ich es hätte auffrischen können. Es ist immer noch irgendwie durcheinander.“ Er legte die Speisekarte zur Seite und legte seine Hände auf den Tisch. „Aber wenn du es gerade erwähnst … mir ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Ein Bruchstück von etwas kam zu mir zurück. Es ging um Kate.“
„Oh?“ Maria biss auf ihre Unterlippe.
„Ja.“ Er war für einen langen Moment still. „Die Dinge zwischen mir und Kate … bevor sie starb. Wir waren okay, oder nicht?“
Maria starrte ihn direkt an, ihre schiefergrauen Augen bohrten sich in seine. „Ja. Soweit ich weiß, war zwischen euch immer alles gut. Sie hat dich wirklich geliebt und du sie auch.“
Es fiel ihm schwer, ihrem Blick standzuhalten. „Ja. Natürlich.“ Er verspottete sich selbst. „Gott, hör mir nur zu. Ich rede tatsächlich bei einem Date über meine verstorbene Frau. Bitte erzähl meiner Tochter nichts davon.“
„Hey.“ Ihre Finger fanden wieder seine. „Es ist schon in Ordnung, Kent. Ich verstehe es. Das hier ist neu für dich und es fühlt sich komisch an. Ich bin hier auch keine Expertin … wir werden es gemeinsam erkunden.“
Ihre Finger ruhten auf seinen. Es fühlte sich gut an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich richtig an. Er kicherte nervös, aber sein Grinsen verschwand und wurde zu einem verwirrten Stirnrunzeln, als ihm ein bizarrer Gedanke aufkam; Maria nannte ihn immer noch Kent.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Nichts. Ich dachte nur gerade … Ich weiß nicht einmal, ob Maria Johansson dein richtiger Name ist.“
Maria zuckte schüchtern mit den Schultern. „Vielleicht ist er das.“
„Das ist nicht fair“, protestierte er. „Du kennst meinen.“
„Ich sage nicht, dass es nicht mein richtiger Name ist.“ Sie genoss es, mit ihm zu spielen. „Du kannst mich immer Agentin Ringelblume nennen, wenn dir das lieber ist.“
Er lachte. Ringelblume war ihr Codename, so wie seiner Null war. Es erschien ihm fast lächerlich, sich bei ihren Codenamen zu nennen, wo sie sich doch persönlich kannten – aber andererseits schien der Name Null bei vielen, die er getroffen hatte, Angst auszulösen.
„Was war Reidiggers Codename?“, fragte Reid leise. Es tat ihm fast weh, zu fragen. Alan Reidigger war Kent Steeles bester Freund gewesen – nein, dachte Reid, er war mein bester Freund – ein Mann mit scheinbar unnachgiebiger Loyalität. Das einzige Problem war, dass Reid sich kaum an ihn erinnerte. Alle Erinnerungen an Reidigger waren mit dem Erinnerungsimplantat verschwunden, welches Alan ihm zu organisieren geholfen hatte.
„Du erinnerst dich nicht?“ Maria lächelte freundlich bei dem Gedanken. „Alan gab dir den Namen Null, wusstest du das? Und du gabst ihm seinen. Gott, ich habe schon seit Jahren nicht an diese Nacht gedacht. Wir waren in Abu Dhabi, glaube ich. Wir kamen gerade von einem Auftrag zurück und tranken in einer versnobten Hotelbar einen Absacker. Er nannte dich Null, wie „Ground Zero“ – so wie das Explosionszentrum, weil du dazu neigst, ein Chaos zu hinterlassen. Das wurde dann zu Null und es blieb hängen. Und du nanntest ihn –“
Ein Telefon klingelte und unterbrach ihre Geschichte. Instinktiv schaute Reid auf sein eigenes Handy, welches auf dem Tisch lag, und erwartete, Mayas Nummer auf dem Bildschirm zu sehen.
„Entspann dich“, sagte sie. „Es ist meins. Ich werde es einfach ignorieren …“ Sie blickte auf ihr Handy und runzelte verblüfft ihre Stirn. „Es ist Arbeit. Eine Sekunde.“ Sie ging ran. „Ja? Mm-mmmh.“ Ihr düsterer Blick hob sich und landete auf Reid. Ihr Blick blieb dort, während sich besorgte Falten auf ihrer Stirn formten. Was auch immer an der anderen Seite gesagt wurde, es waren keine guten Neuigkeiten. „Ich verstehe. In Ordnung. Vielen Dank.“ Sie legte auf.
„Du siehst besorgt aus“, merkte er an. „Ich weiß, ich weiß, du kannst nicht über berufliche Dinge sprechen –“
„Er ist geflohen“, murmelte sie. „Der Attentäter aus Sion, der im Krankenhaus? Kent, er ist vor weniger als einer Stunde abgehauen.“
„Rais?“, sagte Reid erstaunt. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. „Wie?“
„Ich habe keine Details“, sagte sie hastig, als sie ihr Handy zurück in ihre Handtasche steckte. „Es tut mir leid Kent, aber ich muss gehen.“
„Ja“, flüsterte er. „Ich verstehe.“
Um ehrlich zu sein, fühlte er sich meilenweit von ihrem gemütlichen Tisch in diesem kleinen Restaurant entfernt. Der Attentäter, den Reid zum Sterben zurückgelassen hatte – nicht nur einmal, sondern zweimal – war immer noch am Leben und jetzt auf freiem Fuß. Maria stand auf, lehnte sich zu ihm hinunter und drückte ihre Lippen auf seine, bevor sie ging. „Wir wiederholen das hier bald wieder, versprochen. Aber jetzt ruft die Pflicht.“
„Natürlich“, sagte er. „Geh und finde ihn. Und Maria? Sei vorsichtig. Er ist gefährlich.“
„Das bin ich auch.“ Sie zwinkerte ihm zu und eilte aus dem Restaurant.
Reid saß für einen langen Moment alleine dort. Als die Kellnerin vorbeikam, konnte er noch nicht einmal ihre Worte hören; er winkte nur unbestimmt seine Hand, um ihr anzuzeigen, dass er in Ordnung war. Aber er war weit davon entfernt, in Ordnung zu sein. Er hatte noch nicht einmal das nostalgische, elektrische Prickeln gespürt, als Maria ihn küsste. Alles was er spürte, war ein Knoten der Angst, der sich in seiner Magengegend formte.