Kitabı oku: «Heißes Geld», sayfa 3
LUFTDRUCK GEGEN STALIN
ALS HERMANN KAPPE an diesem kühlen Maiabend nach Hause kam, erwartete ihn statt eines schmackhaften Abendessens in einem friedlichen Heim seine aufgebrachte Frau Klara, die sich erst nach dringender Mahnung dazu herbeiließ, ein paar Spiegeleier in die Pfanne zu schlagen. Auch wenn er im Präsidium einen relativ ruhigen Tag verbracht hatte, hasste Kappe es, zum Feierabend mit nichtigen, oder schlimmer noch, unabänderlichen Angelegenheiten behelligt zu werden. Genau das hatte Klara jedoch vor.
«Was sagst du dazu, dass wir künftig für die Zone einen Passierschein benötigen?», erkundigte sie sich erregt. «Der soll auch noch Geld kosten! In unserer Währung!»
«Umsonst ist der Tod», äußerte Kappe unbedacht. Es war natürlich die falsche Antwort. Seit er vor vierzehn Tagen ohne Klaras angebliche Lieblingseinkaufstasche samt Thermosflasche aus Uraltbesitz und erst vor zwei Jahren angeschafftem Regencape aus der Waldbühne zurückgekehrt war, hing der Haussegen in der Wartburgstraße schief. Da kam es auf eine unbedachte Bemerkung mehr nicht an.
«Dich scheint das ja nicht zu erschüttern!», keifte Klara. «Verstehst du nicht, was das bedeutet? Die Kommunisten wollen dich daran hindern, deine eigene Verwandtschaft in Wendisch Rietz zu besuchen! Willst du dir das gefallen lassen?»
Allein ihr Ton reizte zum Widerspruch. Kappe knurrte: «Erwartest du, dass ich mir ein Luftdruckgewehr kaufe und gegen Stalin und Ulbricht in den Krieg ziehe?»
Ihn regten die Zonenmaßnahmen genauso auf wie seine Frau. Nur nützte das absolut nichts. Und was seinen Geburtsort Wendisch Rietz anging, so war ihm die Fahrt dorthin offiziell schon länger verwehrt. Als Polizist und Beamter hatte er im Osten, wo die Gefahr einer Verhaftung lauerte, nichts zu suchen. Er war kein ängstlicher Mensch, verspürte aber wenig Neigung, der dortigen Polizei, möglicherweise ehemaligen Kollegen, oder gar den Russen in die Hände zu fallen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach dem Krieg in der zerstörten und gespaltenen Hauptstadt auszuharren, statt sich irgendwo in Süd- oder Westdeutschland ein sicheres Plätzchen zu suchen, wie es etliche von den oberen Rängen bei der Polizei längst getan hatten. Ein Gedanke, der so schnell verging, wie er gekommen war. Kappe hing nun mal mit Haut und Haaren an seiner Arbeit, und die konnte er sich an keinem anderen Ort vorstellen als in Berlin, wenigstens in den übriggebliebenen drei Fünfteln. Leben wollte er erst recht nirgendwo anders. Und Klara sicher auch nicht.
«Das Schönste kommt erst noch!», sagte Klara, ohne seine rhetorische Frage zu beachten. «Man kann nicht einmal mehr in den Osten telefonieren! Sie haben die Leitungen unterbrochen. Das kam am Vormittag in den Nachrichten.»
Auch das wusste Kappe bereits und fand es empörend. Die Stadt wurde immer weiter auseinandergerissen. Dennoch erkundigte er sich mit ruhiger Stimme: «Wen willst du denn im Osten anrufen?» Dabei kannte er die Antwort. Immerhin wohnte ihr Kronprinz, der älteste Sohn Hartmut, in Ost-Berlin. Der hatte sich ausbedungen, weder zu Hause noch etwa über seinen Dienstapparat angerufen zu werden. Kappe hielt sich daran, so schwer es ihm auch fiel. Klara hingegen und Hartmuts Frau Inge hatten längst einen Dreh gefunden, das Verbot zu umgehen. Der Tankstellenbesitzer, der unter Hartmuts Familie im gleichen Aufgang wohnte, besaß einen der in Ost-Berlin seltenen privaten Telefonanschlüsse. Über den ließ sich Inge erreichen, und von dort konnte diese wiederum ihre Schwiegermutter anrufen, wenn etwas Dringendes anlag. Bis gestern jedenfalls.
Kappe hatte zu den Telefonaten geschwiegen, wie zu so vielem. Innerlich seufzte er tief, wenn er an die beiden Söhne dachte: Karl-Heinz, der mit seinen undurchsichtigen Geschäften früher oder später auffliegen musste, und Hartmut, den roten Kommissar, der demnächst zum Major aufsteigen sollte. Nicht mal die Nationalsozialisten hatten es fertiggebracht, bei der Kripo militärische Dienstränge einzuführen!
Der Gedanke an Hartmut versetzte Kappe jedes Mal einen Stich. Einerseits war es anerkennenswert, dass der Sohn Karriere machte. Nur um welchen politischen Preis! Ergebnislose Debatten lagen hinter ihnen, gebracht hatten sie nichts. Offiziell durften sie keinerlei Kontakt mehr miteinander haben – doch wer wollte das kontrollieren in einer Stadt, in der man für ein paar Groschen der jeweiligen Währung unbeschadet in die andere Hälfte gelangen konnte! Wie es nun weitergehen sollte, vermochte Kappe sich nicht vorzustellen. Jedenfalls würde er den Jungen auf absehbare Zeit nicht zu Gesicht bekommen, geschweige denn seine Stimme hören.
Blieb als einzige Verbindung die unverbesserliche Klara, die es sich nicht nehmen ließ, die bedürftige junge Familie im Osten einmal in der Woche mit Bananen oder einem halben Pfund guter Margarine zu beglücken und sich an der heranwachsenden Enkeltochter zu erfreuen. Dass die zur Erinnerung an Lenins Frau Nadja hieß, gefiel den Großeltern weniger.
«Sie haben sogar Leitungen nach Westdeutschland gekappt!», wusste Klara zu berichten. «Wahrscheinlich wollen die uns aushungern.»
Kappe sah sie von der Seite an. In den letzten Jahren hatte sie zugelegt. Ein bisschen am Essen zu sparen würde ihrer Figur kaum schaden. Dass Klara anderer Meinung war, ahnte er. Anscheinend erwartete sie sogar sein Lob, als sie erklärte: «Vorsichtshalber habe ich ein paar Konserven eingekauft: Mehl, Nudeln und Zucker und so was. Das Nötigste eben. Den ganzen Tag war ich unterwegs und habe geschleppt.»
Entgeistert starrte Kappe sie an. «Du fällst auch auf jede blöde Tatarenmeldung rein!», schnaubte er. «Hast du vergessen, was damals bei der Blockade passiert ist? Glaubst du, die Amerikaner geben uns ohne weiteres auf und lassen uns am langen Arm verhungern?»
«Bei denen weiß man nie!», verteidigte sich Klara pikiert. «Wenn die sich nun plötzlich mit den Russen einigen und uns an den Osten verkaufen?»
Kappe schüttelte den Kopf. So weit war es in der eigenen Familie gekommen! «Klara», sagte er mit Bestimmtheit, obwohl ihm derlei Phrasen nicht lagen, «hier in Berlin wird die freie Welt verteidigt. Wir sind ein Brückenkopf, eine Insel im roten Meer. So etwas gibt man unter keinen Umständen auf! Verstehst du das?»
Klara blieb bei ihren Zweifeln, das sah er ihr an. «Du müsstest mal hören, was die Leute reden», sagte sie. «Sogar vor der Wechselstube haben sie heute angestanden!»
Das Wort Wechselstube machte Kappe hellhörig. Misstrauisch erkundigte er sich: «Was hast du denn in einer Wechselstube verloren?» Dort wurde die wertbeständige West- gegen die schlappe Ostmark getauscht. Gegenwärtig stand der täglich wechselnde Kurs bei mehr als 1:4.
Klara errötete, was Kappes bösen Verdacht hinreichend verstärkte. Das Plakat an den Litfaßsäulen stand ihm lebhaft vor Augen: Herr Schimpf und Frau Schande kaufen im Osten ein.
Kappe war es gewohnt, Menschen zu vernehmen und auf geringfügige Reaktionen zu achten. Bei der eigenen Ehefrau widerstrebte ihm das, zumal sich Klara widerborstig gebärdete. Es verging einige Zeit, bis er kleckerweise erfuhr, dass Klara die Besuche bei Hartmuts Familie nutzte, um sich im Osten frisieren zu lassen. Sie pflegte ein paar Westmark zum günstigen Wechselkurs umzutauschen und in den östlichen HO-Läden «ein bisschen was» einzukaufen, um den ehrbaren Oberkommissar Hermann Kappe mit zusätzlichen Fleisch- und Wurstrationen zu überraschen.
«Bist du denn des Teufels!», donnerte der. «Du unterstützt dieses Zonenregime mit seinen Wucherpreisen, die für die eigene Bevölkerung zu hoch sind, und bringst mich in eine Situation, die mich die Stellung kosten kann! Möchtest du morgen in der Abendzeitung lesen: Altgedienter Kripokommissar versorgt sich im Osten?»
«Du nimmst immer alles so ernst …», war alles, was Klara zu ihrer Verteidigung einfiel. Ein bisschen kleinlaut klang sie zwar, doch Kappe zweifelte, ob sie die Schändlichkeit ihres Verhaltens wirklich einsah. Prompt sagte sie als Nächstes: «Das ist ja wie im Osten! Die dürfen offiziell auch nicht bei uns einkaufen.»
Bevor Kappe endgültig explodierte, klingelte es zu Klaras Glück. Das unterbrach den Streit zumindest für den Augenblick.
Es war Karl-Heinz, der – rein zufällig – an ebendiesem Abend und zu Klaras Freude in der Wartburgstraße auftauchte, «um mal nach den beiden Alten zu sehen», wie er sich burschikos ausdrückte und Kappe damit zusätzlich aufbrachte. Der eigene, betont unauffällige Abgang aus der Waldbühne war ihm noch in schlechter Erinnerung, und nicht einmal die mitgebrachte Flasche Bourbon tröstete ihn darüber hinweg, vom eigenen Sohn als Alter abqualifiziert zu werden. Der Junge war ihm fremd geworden. Bis auf die sehr gelegentlichen Besuche von Sportveranstaltungen verband sie beide kaum noch etwas. Im Vorjahr hatten sie gemeinsam das erste Nachkriegsrennen auf der Avus genossen, das ausgerechnet ein Ostdeutscher mit dem schönen Namen Paul Greifzu gewonnen hatte. Auf der Sportseite mit den Ergebnissen aus der Waldbühne und vom Karlshorster Sandbahnrennen hatte Kappe gelesen, Greifzu sei bei einer Testfahrt tödlich verunglückt.
Klara, von dem seltenen Besuch schier überwältigt, tat, als könne sie sich weder Pralinen noch Parfüm leisten und sei auf die Großzügigkeit des Jungen angewiesen, dem sie gar nicht genug danken konnte. In Windeseile zauberte sie das verspätete Geburtstagsgeschenk für ihn herbei, nicht ohne schmollend anzumerken, dass es sich wirklich nicht gehöre, einen solchen Ehrentag, und noch dazu den 25., ohne die Familie zu feiern. «Nicht einmal ans Telefon bist du gegangen!», stellte sie vorwurfsvoll fest.
Karl-Heinz nuschelte etwas von dringenden Geschäften. Kappe fragte nicht nach. Er gab sich alle Mühe, den verkorksten Abend nicht noch mehr zu verderben, und öffnete die Flasche. Ihm schwante, dass der Sohn keineswegs gekommen war, um den Eltern eine nachträgliche Geburtstagsfreude zu bereiten.
Sie stießen an. Klara war der Whisky zu stark. In ihr Lamento über das neue Grenzregime der Zone und die gekappten Telefonverbindungen stimmte Karl-Heinz nur bedingt ein. In einem Halbsatz gab er allerdings zu, dass sich die Unterbrechung nachteilig auf seine Geschäfte auswirken könnte. Der Streik der Drucker hingegen, der die gesamte Presse der Bundesrepublik und West-Berlins gerade für zwei Tage lahmlegte, amüsierte ihn. «In den Zeitungen steht doch sowieso bloß Käse!»
Sie tranken, und sie redeten. Was Karl-Heinz mit seinem Besuch wirklich bezweckte, merkte Kappe erst nach einer ganzen Weile, als der ungeratene Sprössling das Gespräch wie zufällig auf seines Vaters Arbeit und die Kriminalität in der Stadt brachte. Kappe hatte nicht die Absicht, sich dazu zu äußern, und ließ den Jungen reden. In mancher Beziehung war der so leicht zu durchschauen wie ein Glas Wasser. Doch der Vergleich hinkte. Klares Wasser war Karl-Heinz fremd, wie die geübte Bewegung beim Trinken verriet. Auch die plötzliche Bewunderung für den dreisten Tresorraub im Osten bewies eine eher trübe Auffassung, zu der Kappe schwieg.
Karl-Heinz schien das Thema zu faszinieren. Er wollte wissen, wie eng – wenn überhaupt – die Polizei in einem solchen Fall mit den Kollegen im Osten zusammenarbeitete. Kappe beantwortete das mit einer Gegenfrage: «Warum fragst du nicht deinen Bruder? Bei denen ist das Geld doch geklaut worden.»
So direkt auf seinen Bruder angesprochen, zog Karl-Heinz ein saures Gesicht. «Ihr wisst ja, was ich von dem halte», murrte er und hob das Glas.
Das Gleiche wie er von dir, wäre es Kappe beinahe entfahren. Klara zuliebe schwieg er, obwohl sie solche Rücksichtnahme heute kaum verdient hatte.
«Ein paar Millionen haben die erbeutet!», äußerte sie jetzt, und auch aus ihren Worten klang so etwas wie Bewunderung.
«Deine S-Bahn-Groschen», bestätigte Kappe bitter. «Und das Gehalt für die halbe Reichsbahn.»
Karl-Heinz grinste. «Ich finde, das schadet denen gar nichts!»
Kappe hatte nichts anderes von seinem Jüngsten erwartet. Er blickte ihn nur vorwurfsvoll an.
«Was unternehmt ihr denn, um den Panitzke und seinen Komplizen zu finden?», bohrte Karl-Heinz weiter.
Kappe hob die Schultern. «Das ist Aufgabe der Fahndung. Damit habe ich glücklicherweise nichts zu tun.»
Das klang endgültig, doch Karl-Heinz ließ sich nicht von dem Thema abbringen. «Angenommen, du erkennst Panitzke oder seinen Kumpanen auf der Straße, würdest du sie verhaften?»
«Mit Vergnügen!», bestätigte Kappe. «Nur werden sie mir den Gefallen nicht tun und einfach so durch die Stadt spazieren.»
Karl-Heinz gab sich wissend. «Angeblich weiß ja keiner, wo die beiden stecken. Aber in gewissen Kreisen sind Gerüchte im Umlauf …», sagte er vieldeutig.
Kappe missfiel das. «In was für Kreisen verkehrst du denn?», fragte er.
«Nur in den besten!», entgegnete Karl-Heinz fröhlich. «Demnächst werde ich ins Baugeschäft einsteigen.»
«Durchs Fenster oder durch die Wand?», erkundigte sich Kappe spöttisch. Großtuerei war ihm von jeher verhasst. Der Junge hatte nicht einmal einen Beruf erlernt.
Das fiel sogar Klara ein. Mahnend sagte sie: «Du verstehst doch überhaupt nichts vom Baugeschäft, Junge!»
«Mehr, als ihr denkt! Zum Beispiel braucht man Kies, wenn man bauen will.»
«Na ja, nachher für die Wege», gab Klara zu. «Das sieht sehr hübsch aus mit so kleinen Kieselsteinen.»
«Ach Mama!» Karl-Heinz schüttelte tadelnd den Kopf. «Heute baut man mit Beton! Und dafür braucht man ungeheure Mengen Kies. Genauso wie für den Mörtel. Wenn man in dieses Geschäft einsteigt, lässt sich Kies direkt in Kies verwandeln.» Seine Finger machten die Geste des Geldzählens. «Man braucht nur ein paar Lkws und eine Kiesgrube, mehr nicht.»
«Mehr nicht!», sagte Kappe schroff.
Es war alles andere als ein Zuspruch, doch Karl-Heinz ließ sich nicht beirren. «Ihr werdet es nicht glauben, die Grube habe ich schon!», sagte er triumphierend. «Und der erste Lkw folgt demnächst. Es mangelt nur ein bisschen an Kapital …»
Kappe sah ihn mit ernster Miene an. «Schlag dir solche Flausen aus dem Kopf!», sagte er trocken. «Und was Geld angeht, bist du bei uns sowieso an der falschen Adresse.»
«Das brauchst du nicht zu betonen. Du warst schon immer ziemlich knickrig.»
Kappe war nahe daran, über den Tisch zu langen, beschränkte sich jedoch darauf, deutlich zu erklären: «Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mein Geld stets auf ehrliche Weise verdienen musste.»
«Wahrscheinlich», stimmte Karl-Heinz leichthin zu. «Das mit der Kohle lass mal meine Sorge sein. Ich habe schon was im Auge.»
«Einen Kreditgeber? Suchst du deshalb nach Panitzke?»
Das fand Karl-Heinz erheiternd. «Zumindest versteht der was von Beton», sagte er lachend und goss sich noch einen Whisky ein.
Klara sah von einem zum anderen und begriff nicht. Kappe schon. «Karl-Heinz!», sagte er. In seiner Stimme lag ein scharfer Unterton, der dem Jungen aus der Kindheit vertraut sein musste. «Halt dich von diesen Kreisen fern, ich sage es dir im Guten!»
Der Sohn gab sich unbeeindruckt. «Bleib du mal bei deiner Kripo und nähre dich redlich!» Er blickte sich ein wenig verächtlich im Wohnzimmer um, dessen Einrichtung Klaras ganzer Stolz war. «Besser als redlich werdet ihr eben nie leben», ergänzte er und fügte noch etwas hinzu, das Kappe besonders verletzte: «Ich dachte immer, Mutter hätte was Besseres verdient …»
Schweigend erhob sich Kappe, um den Raum zu verlassen.
Aber sein Sohn war noch nicht fertig. «Bevor ich es vergesse – deine beiden Kumpels wollten mir neulich in der Waldbühne ’ne olle Tasche andrehen, die angeblich dir gehört.»
«Und?», fragte Klara begierig.
Karl-Heinz lachte hämisch. «Ich habe gesagt, mein Vater sei alt genug, selbst auf seine Sachen aufzupassen.»
Kappe ließ die Zimmertür so heftig hinter sich zuknallen, dass er nicht mehr hörte, wie Klara barmte: «Das schöne Regencape hat er einfach liegenlassen!»
UMZINGELT
HILDEGUND HRIBAL war todmüde. Bei jedem Versuch herauszufinden, seit wie vielen Stunden sie nicht geschlafen hatte, geriet ihre Rechnung durcheinander. Am Pfingstmontag hatte sie jedenfalls kein Auge zugetan, und auch an den Tagen davor hatte sie keine Ruhe gefunden. Schuld daran war Wölfchen, Wolf-Dieter Grassnick, dem sie nach längerem Zaudern vertraut hatte – und der sie nun offenbar schmählich im Stich ließ.
Oder sollte ihm etwas passiert sein? Als er am Sonnabend auch nach einer Stunde nicht zu ihrer Verabredung am Bahnhof Charlottenburg erschienen war, hatte Hildegund geglaubt, er habe sie einfach mal wieder versetzt. Das war schon öfter vorgekommen. Wölfchen behauptete, seine Termine ergäben sich oft kurzfristig. «In meinem Geschäft ist alles möglich», sagte er und ließ sich die Entschuldigung für gewöhnlich etwas kosten.
Was für eine Art von Geschäft Wölfchen betrieb, wusste Hildegund nicht genau. Nicht einmal ungenau, wenn sie es recht bedachte. «Export/Import, wie es gerade kommt», lautete seine vage Auskunft. «Du musst dich damit nicht belasten. Hauptsache, es springt genug dabei heraus, oder?»
Wahrscheinlich hatte er recht. In einer Stadt mit so vielen Arbeitslosen musste man auf dem Kien sein und bei allen Gelegenheiten sofort zugreifen. Ihr lag so etwas nicht. Das war einer der Gründe, weshalb sie lieber im Osten blieb. Obwohl Wölfchen immer wieder davon anfing: «Komm endlich rüber! Hier hat eine Frau wie du ganz andere Chancen!»
Doch sie wollte nicht. Sosehr die Kaufhäuser, die Cafés und die guten Restaurants auch lockten – die Atmosphäre gefiel ihr einfach nicht. In dieser Stadthälfte gab eine Schicht von Leuten den Ton an, zu der sie nicht gehörte und für die sie ewig ein Flüchtling aus dem Osten bleiben würde. Stimmte auch nur ein Teil von dem, was sie täglich in der Masurenallee über den Westen zu hören bekam, handelte es sich sowieso nicht um ihre Welt: Unverbesserliche Nationalsozialisten, wohin man blickte, hochnäsige Alt- und Neureiche, die in klotzigen Autos herumkutschierten und sich in den teuren Cafés räkelten, dazu die aufgeheizte Frontstadtatmosphäre und die arroganten Besatzer.
Sie würde im Westen keine Arbeit finden und erst recht keine Wohnung. Und auf eine Abhängigkeit von Wölfchen wollte sie sich nicht einlassen. Die Wohnung in der Damaschkestraße hätte für sie beide gereicht – drei Zimmer mit Bad, und die Gegend zehnmal besser als die Palisadenstraße –, nur war es eben nicht ihre Wohnung. Nicht einmal seine. Er hatte sie nur zeitweise von einem Bekannten übernommen, der angeblich in Westdeutschland Geschäften nachging. Genauer ließ sich Wölfchen nicht darüber aus.
Obwohl sie sich seit gut einem halben Jahr kannten, wusste Hildegund wenig über Wölfchen und seinen Bekanntenkreis. Er sprach lieber von der Zukunft als von Vergangenheit und Gegenwart. Das Wort Heirat fiel nie, doch schien er davon auszugehen, dass ihre Beziehung von längerer Dauer sein würde. Ihr war das recht. Den Frauen ihrer Generation war keine Auswahl beschieden, und gegen Wölfchen war wirklich nichts einzuwenden.
Dennoch hatten das Leben und ihre Mutter sie gelehrt, skeptisch zu bleiben. Den Spruch vom Spatz in der Hand kannte sie. Aber nein, bei Wölfchen handelte es sich eher um einen ausgewachsenen Adler – um den viele sie beneideten. Hildegund wusste die Blicke der Frauen zu deuten. Im Augenblick hätte sie sich jedoch am liebsten irgendwo verkrochen und den Kopf unter den Flügel gesteckt.
Volker Ratzmanns Stimme riss sie aus dem Sekundenschlaf. «Hier sind die Namen aller im Hause Befindlichen. Schreib die Liste schnell ab, der Chef muss sie weitergeben!»
Hildegund sah zu Ratzmann auf. Die Schmarre unter dem Auge trug er wie einen Orden. «Mit Provokateuren abgerechnet!», hatte seine stolze Erklärung gelautet. Dabei hatte er ihr verschwörerisch zugezwinkert und tatsächlich nicht mehr verraten. Hünicke, der wusste, wie man mit solchen Dingen umging, hatte ihn zum Schweigen gebracht. «Kein Wort über den Vorfall! Darum kümmern sich andere Genossen.»
Jemand wie Hünicke fehlte jetzt. Jemand, der ein bisschen Optimismus und Heiterkeit verbreitete. Auf so einen stumpfen Wichtigtuer wie Ratzmann konnte Hildegund verzichten! Dass er sie duzte, war in dieser besonderen Situation selbstverständlich. «Jedem von euch muss klar sein, dass wir an vorderster Front stehen!», hatte der Chefkommentator Kledwitz knapp geäußert. Wurde man an der Front eigentlich jemals abgelöst?
Im Gegensatz zu anderen Männern, die endlos über ihre Kriegserlebnisse oder die Gefangenschaft redeten, sprach Wölfchen nie darüber. «Es war schauerlich! Da kriegst du nur Alpträume!» Er selbst hatte oft welche, wenn er neben ihr schlief und sie ihn beobachtete. Das kam nicht so häufig vor, wie er es sich wünschte. Er ging gerne mit ihr aus, wenn er bei Kasse war. Sie genoss das zwar, fühlte sich aber ob seiner Großzügigkeit ein wenig unbehaglich. Hinzu kam die Angst, Kollegen aus dem Funk zu begegnen. Wie sollte sie sich erklären, falls jemand sie mit Wölfchen in einem West-Berliner Lokal sah? Sie kannte die inquisitorischen Fragen: Nur ein Bekannter? Woher kennst du den? Wo arbeitet der?
Natürlich war sie selbst schon auf die befremdliche Idee gekommen, dass ihr Wölfchen ein Agent sein könnte. Die Heimlichtuerei um seine Arbeit wäre damit zu erklären gewesen. Dennoch war es Unsinn! Wölfchen hatte weder mit den Amerikanern noch mit geheimnisvollen Organisationen zu tun, über die der Osten täglich die wildesten Meldungen verbreitete. Vielleicht traf manches davon tatsächlich zu, doch Wölfchen interessierte sich nicht die Bohne für den Osten. Erst recht nicht für ihre Arbeit im Funkhaus. Noch nie hatte er versucht, sie auszufragen. Wahrscheinlich, weil er es selbst nicht mochte, wenn er mit persönlichen Fragen behelligt wurde.
Dabei hatte sie ihn im Osten kennengelernt. Wölfchen war ihr im Flur ihres Wohnhauses begegnet, als sie mit einem Eimer Kohlen aus dem Keller kam. Ein so gepflegter und elegant gekleideter Mann passte nicht in diese Bruchbude. Er sah verdammt gut aus, wie er ihr in den Weg trat und höflich den Hut zog. Über ihre standhafte Weigerung, ihm den Eimer zu überlassen, lächelte er nur und nahm ihr die schwere Last aus der Hand. Wenn es darauf ankam, konnte er sehr beharrlich sein. Genau wie sie. In die unaufgeräumte Wohnung ließ sie ihn selbstverständlich nicht, dankte ihm nur an der Tür, lehnte aber nicht eindeutig ab, als er ein Treffen an einem freundlicheren Ort vorschlug.
Als sie anschließend in den Spiegel blickte, entfuhr ihr ein Schreckenslaut: Die Haare zerzaust, die Schminke verlaufen, und das Gesicht mit Kohlenstaub verschmiert! Was konnte ein gepflegter Mann wie der an so einer Frau finden?
Vor dem ersten Rendezvous in der HO-Gaststätte am Alex arbeitete sie stundenlang an sich – und blieb dennoch unzufrieden. Er hingegen fand sie außergewöhnlich attraktiv. Das sagte er zumindest. Es klang überzeugend. Er war charmant und wusste sich zu benehmen.
Sie verstanden sich von Anfang an und stritten sich nie. Nur als sie sich harmlos erkundigte, was er eigentlich in ihrem Haus gesucht habe, erschien eine kleine Unmutsfalte auf seiner Stirn. Er murmelte etwas von einem alten Kriegskameraden, dem er sich verpflichtet fühle, und wechselte schnell das Thema. Dank der Portiersfrau Sielaff wusste Hildegund ohnehin, bei wem er gewesen war: bei Mikulla, einem gebrechlichen alten Mann, der mit seiner Frau im vierten Stock wohnte. Als Hildegund der Sielaff gegenüber den Kriegskameraden Mikulla erwähnte, hatte die nur hämisch gelacht. «Der ist in keinem Krieg gewesen. Der hat immer nur gesessen.»
Weshalb fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein? Vor einem halben Jahr war der alte Mikulla verhaftet worden, im Zusammenhang mit einem Tresoreinbruch, wie es hieß. Das war geradezu lachhaft, dachte man an die klapprige Figur, die es nur mit Mühe schaffte, die eigene Wohnungstür aufzuschließen. Woher kannte Wölfchen den Alten wirklich? Hildegund hatte nicht darüber nachgedacht. Auch nicht darüber, dass Wölfchen sich schon seit Monaten nicht mehr in Ost-Berlin mit ihr traf. Hing das miteinander zusammen? Er hatte gesagt, er wolle vorsichtshalber dem SSD aus dem Wege gehen. SSD – so hieß der gefürchtete Staatssicherheitsdienst im Osten. Weshalb musste Wölfchen den fürchten?
Diese Fragen gingen Hildegund im Kopf herum, während sie die blöde Liste mit den 63 Namen tippte, von denen ihr die wenigsten etwas sagten. Chef vom Dienst war in dieser Nacht Alois von Kledwitz, eine imposante Erscheinung, dem in vielerlei Hinsicht ein gewisser Ruf vorausging. Kledwitz kam aus dem Westen und war sogleich zum Chefkommentator aufgestiegen, ein Posten, um den ihn manche im Haus beneideten. Es wurde viel über ihn geredet, und er trug seinerseits bereitwillig dazu bei, den Klatschmäulern Stoff zu liefern. Kledwitz war ein gutaussehender Mann Mitte dreißig, dessen Formulierungskunst und schneidende Ironie ebenso auffielen wie seine elegante Kleidung. Wie ein exotischer Dandy schritt er durchs Haus, ein Hündchen im Schlepptau. Kein anderer wäre auf die Idee gekommen, sein Haustier mit ins Funkhaus zu bringen. «Hast du den Hund von Kledwitz heute schon gesehen?», lautete die beliebte Frage hämischer Geister.
Was die Damenwelt betraf, war von Kledwitz kein billiger Charmeur. Er wusste, wie man mit Frauen umging. Obwohl Hildegund seine Propagandasprüche missfielen, konnte sie sich seiner männlich-herben Ausstrahlung nicht völlig entziehen. Jedenfalls empfand sie seinen Blick, der mitunter länger an ihr hängenblieb, als es sich schickte, nicht als unangenehm.
Den Dienst am Pfingstmontag hatte Kledwitz ohne seinen Hund angetreten. Die Nacht versprach wegen des Feiertags ruhig zu werden. Erst am Dienstag würde das ermüdende Gezänk im Äther wieder anheben. Viel Schreibarbeit war nicht zu erwarten, allenfalls eine kurze Zeitungsschau, wenn das Neue Deutschland und die West-Berliner Morgenblätter eingetroffen und ausgewertet waren, oder eine ironische Morgenbetrachtung, die Kledwitz nicht ausgerechnet einem Redakteur vom Dienst wie Ratzmann überlassen würde.
Der riss ihr jetzt ungeduldig beinahe die Blätter aus der Maschine und verschwand eilig.
Hildegund stützte den Kopf in beide Hände und überließ sich wieder ihren trüben Gedanken. Sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte, ihr fiel kein Grund ein, der Wölfchens Verhalten erklärte. Zwischen ihnen hatte es keinen Streit gegeben, kein böses Wort war gefallen.
Seltsamerweise reagierte er nicht auf ihre Anrufe. Zudem war es in den letzten Tagen nicht mehr möglich, aus dem Osten mit ihm zu telefonieren. Die Leitungen aus dem Funkhaus ins West-Berliner Netz blieben zwar in Betrieb, doch das Telefonieren war kurzerhand untersagt worden. Diese Möglichkeit hatte Hildegund sowieso nur selten genutzt. In der Telefonzentrale konnte jedes Gespräch kontrolliert werden. Wer weiß, wer da mithörte.
Weil nach dem endlosen Sonntag, den sie trotz des warmen Wetters in ihrer Wohnung verbracht hatte, am Montagnachmittag noch immer keine Nachricht von ihm vorlag, war sie kurz entschlossen zwei Stunden früher zum Nachtdienst losgefahren und vom Bahnhof Charlottenburg in die Damaschkestraße gegangen, wo sie vor der verschlossenen Wohnungstür stand. Einen Schlüssel hatte Wölfchen ihr nie anvertraut, angeblich besaß er selbst nur einen. Die Nachbarin, bei der sie eine Nachricht zu hinterlassen versuchte, konnte oder wollte ihr keine Auskunft geben. «Ich kümmere mich nicht um die Leute, die hier ein und aus gehen», äußerte sie sibyllinisch. Wer außer Wölfchen ging hier ein und aus? Sie selbst kam selten hierher. Das fiel ihr erst nachträglich auf. Anscheinend war ihre Beziehung keineswegs so eng gewesen, wie sie es sich erträumt hatte.
Im Funkhaus war ihr stiller Zorn auf den ungetreuen Wolf einer steigenden Unruhe gewichen. Gleich zu Dienstbeginn hatte sie trotz des Verbots noch einmal in der Damaschkestraße angerufen, aber erneut niemanden erreicht. Sie war entschlossen, es am Dienstagmorgen nach Dienstschluss noch einmal zu versuchen. Irgendwann musste Wölfchen doch wiederauftauchen!
Der Nachtdienst verlief anfangs wie erwartet. Dass von Kledwitz sie in ein langes Gespräch verwickelte, war ihr nur recht, zumal er ein amüsanter Plauderer war und es vermied, auf politischen Themen rumzureiten. Hildegund begleitete ihn in die Kantine, wo er sie großzügig zu einer Bockwurst und einem Gläschen einlud. Sie konnte schlecht ablehnen. Vielleicht wollte sie das auch gar nicht. Immerhin lenkte Kledwitz sie von ihren Sorgen ab und verhinderte, dass ihr Ratzmann auf die Nerven ging.
Gegen zwei hatte ihr Kledwitz dann angeboten, sich zur Ruhe zu begeben. Das hatte sie auch getan. Möglichkeiten dazu bestanden überall im Haus, und müde war sie auch. Dennoch schlief sie nicht ein. Wölfchen ging ihr nicht aus dem Kopf.
Eineinhalb Stunden mochten vergangen sein, als Hildegund durch das angekippte Fenster ungewohnte Geräusche vernahm. Vor dem Haus rollten schwere Fahrzeuge an, Metall schepperte dumpf auf das Pflaster, knappe Kommandos in englischer Sprache ertönten. Erschrocken erhob sich Hildegund und trat ans Fenster. In der Morgendämmerung sah sie Uniformierte, die Tonnen aufstellten und Stacheldraht ausrollten.
In fliegender Hast zog sie sich an und stürzte zurück zum Chefzimmer. Im Sekretariat standen von Kledwitz und Ratzmann am Fenster. «Die sperren tatsächlich das Funkhaus ab!», sagte Kledwitz mit grimmiger Miene. Er wirkte gelassen.
Hildegunds Herz dagegen klopfte bis zum Hals. Beklommen fragte sie: «Was haben die mit uns vor?»
«Schwer zu sagen, was sie mit dieser Provokation beabsichtigen», meinte Kledwitz. Beruhigend legte er den Arm um ihre Schulter, was Hildegund angesichts der Lage nicht unangenehm war. «Auf keinen Fall dürfen wir denen Munition für weitere Angriffe liefern», sagte er und drückte ihr noch einmal ermutigend die Schulter, bevor er verschwand, um sich mit dem Chef des sowjetischen Wachkommandos im Hause abzustimmen. Der Hauptmann kommandierte nur ein Dutzend mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten, angesichts der vor dem Haus aufgezogenen Militärtruppe eine bescheidene Streitmacht. Die Briten hielten mit ihrem dichten Drahtverhau allerdings Abstand vom Gebäude. Hinter ihnen bildete die Stumm-Polizei, benannt nach dem im Osten verhassten West-Berliner Polizeipräsidenten, eine zweite Bewachungslinie. Nach Angriff sah das nicht aus, nur nach Einsperren.
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