Kitabı oku: «Katzmann und das schweigende Dorf», sayfa 2

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DREI

WACHTMEISTER ARTHUR FIALLA war eine schwergewichtige Persönlichkeit, deren Statur in keinem Verhältnis zur Bedeutung seines amtlichen Charakters stand. Er war klein und dick, ja rund, und er war der zuständige Kreispolizeiposten in Rohnsdorf. Lange herzogliche Jahre hindurch hatte er die Position ohne Beanstandung bekleidet, die sogenannte Revolution ebenso verständniswie klag- und folgenlos über sich ergehen lassen, sah man von der allgemeinen Geldentwertung ab, und er hatte sich plötzlich als Kreispolizeiposten im kurzlebigen Freistaat Sachsen-Altenburg wiedergefunden, der mit seiner Gebietsregierung nach knapp anderthalb Jahren im Land Thüringen aufging. Bis zum April ’22 sollte der neue Verwaltungsaufbau endgültig abgeschlossen sein, aber es sah nicht danach aus.

Radelte Fialla auf seinem Fahrrad durch die Dörfer des Amtsbezirks, ging ihm der Ruf voraus: «Itze gimmt Guchelblitz», was der Wahrheit nahekam. Auch Kugelblitze bewegten sich eher gemächlich, bevor sie explodierten.

Neben seinem dicken, in abgegriffenes Schweinsleder gebundenen Notizbuch verfügte Kugelblitz Fialla über ein allmählich nachlassendes Gehör, ein immer noch scharfes Auge und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Jenen verregneten Donnerstag, dessen war Fialla sicher, würde er für alle Zeiten in allen Einzelheiten in seinem Erinnerungsfundus speichern.

Natürlich kam die Schreckensnachricht, der er anfangs kaum Glauben schenken wollte, aus Wulkersbach. Meienberg, Guckenheim und Wulkersbach, die östlichen Grenzdörfer seines Amtsbereichs erfreuten sich seines besonderen Verdrusses, gelangte er doch angesichts der Wegverhältnisse und der kaum je nachlassenden Schmerzen in seinem geschwollenen Knie nur selten in diese Ortschaften, deren Bewohner er gerade deswegen anhaltender Gesetzesbrüche verdächtigte: Betrug bei den vorgeschriebenen Abgaben, heimliches Schlachten und Buttern, Schleichhandel aller Art und was die trüben Nachkriegszeiten sonst mit sich brachten.

Als ihn daher an jenem Donnerstagmittag die Telephonglocke aus tiefstem Nachdenken über den beklagenswerten Zustand des Gemein- und Polizeiwesens im Landkreis Altenburg riss und eine aufgeregte Stimme ihm mitzuteilen versuchte, der Gutsbesitzer Ferdinand Geisler aus Wulkersbach, seit nunmehr zwei Tagen aus seiner Wirtschaft abgängig, sei ermordet im Grenzwald vor Berkersbach aufgefunden worden, brauchte er einige Zeit, die volle Tragweite des Geschehens zu erfassen.

Umständlich schnallte er das Koppel mit der Dienstwaffe 08 um den gewichtigen Leib, schlüpfte mit Hilfe seiner Frau Ottilie, die nicht einmal die Hälfte seines Gewichts auf die Waage brachte, unter die Regenpelerine, befestigte den Säbel an dem von den Jahren wie von den Wegverhältnissen gezeichneten Fahrrad, auf das er sich mit einiger Mühe schwang, und schlug den von tiefen Spurrinnen durchzogenen Weg gen Wulkersbach ein.

Es regnete ohne Unterlass. Triefend verschnaufte Fialla an der Dorfpappel. Sollte er sich gleich ins Dorf hinunter begeben, aus dessen Gasthof ihn die Meldung erreicht hatte, um eventuelle Zeugen zu hören, oder erst den Tatort und den Toten in Augenschein nehmen?

Er war lange genug Polizist und kannte seine Pflichten. Seufzend setzte er seinen feuchten Weg in Richtung Rauber fort, den er in mäßigem Schritttempo nach zwanzig Minuten erreichte. Von einem Tatort oder einem Toten war weit und breit nichts zu entdecken, sah man von den frisch eingegrabenen Pferde-, Wagen- und Rangierspuren eines Fuhrwerks ab, mit dem man möglicherweise den Toten abtransportiert hatte - wenn es wirklich einen gab.

Der Weg beschrieb eine Kurve um das Wäldchen herum und war an dieser Stelle etwas breiter. Fialla lehnte das Rad gegen einen Baum nahe dem Grenzstein und drang in das Gehölz ein. Tatsächlich erspähte sein geübter Blick bald in einiger Entfernung eine verdächtige Vertiefung und daneben einen Reisighaufen, den jemand erst kürzlich auseinandergerissen hatte. Hatte der Tote hier gelegen? Verschiedene Stiefeleindrücke und Schleifspuren deuteten darauf hin, dass etwas Schweres bewegt worden war.

Die Grube oder Rinne zu seinen Füßen, kaum dreißig, vierzig Zentimeter tief, war halb mit fauligem Laub und Grasresten gefüllt. Fialla verspürte wenig Lust, in dem nassen Unrat herumzuwühlen. Immerhin griff er aus dem herumliegenden Gestrüpp einen stärkeren Haselzweig und fuhr damit erfolglos in der Vertiefung herum, bis er schließlich doch gegen einen festen Gegenstand stieß, den er mit einiger Mühe aus dem feuchten Unrat klaubte. Sieh an, eine Patronenhülse, dachte er im ersten Augenblick, bevor er das angelötete Rädchen und den Docht an dem fingerlangen Ding entdeckte. Ein Feuerzeug, wie es sich Soldaten im Krieg angefertigt hatten. Ferdinand Geisler, das wusste Fialla, hatte nicht im Feld gestanden.

Umständlich kramte Fialla sein Notizbuch unter der Pelerine hervor. Hoffnungslos! Der stetig fallende Regen weichte jeden mit dem Kopierstift geschriebenen Buchstaben sofort zu einem violetten Fleck auf. Also verstaute er das Buch und sah sich noch einmal gründlich um. Jedes Detail galt es sich einzuprägen, wenn schon dieses unwissende Bauernvolk hier alles zertreten und den Toten einfach davongeschleppt hatte. Denen würde er gehörig den Marsch blasen, sollte es sich wirklich um einen Mord handeln!

Er richtete sich auf und blickte zu seinem Fahrrad zurück. Bis dahin, zur Wegbiegung und zum Grenzstein, mochten es etwa sechzig Meter sein, bevor sich der Fahrweg auf zwanzig Meter an seinen Standort heranschlängelte und sich am Ende des Raubers gen Norden und damit endgültig ins Sächsische wandte.

Fialla merkte auf und versuchte, genaue Peilung zu seinem Rad aufzunehmen. Seine ausgestreckten kurzen Arme bildeten einen angenommenen rechten Winkel. Freilich guckten unter der triefenden Pelerine nur die Fingerspitzen hervor. Was er dennoch nahezu zweifelsfrei feststellte, erleichterte ihn einerseits, ließ ihn allerdings auch kommendes amtliches Ungemach befürchten: Die Grube, in der wahrscheinlich oder möglicherweise der Tote aufgefunden worden war, lag auf sächsischem Territorium.

In der Wulkersbacher Rose hing seit Vorkriegszeiten der einzige und öffentliche Telephonanschluss des Ortes an der Wand neben der Theke: ein Brett mit einer Glocke und einer gebogenen schwarzen Sprechmuschel, die sich je nach Größe des Gesprächsteilnehmers um fünf bis zehn Zentimeter in der Höhe bewegen ließ. Dazu eine Kurbel und der an einer meterlangen geflochtenen Kordel befestigte Hörer mit Griff und Aufhängung. Von hier aus hatte man Fialla verständigt.

Inzwischen wartete in der Rose ein Großteil der männlichen Dorfbevölkerung ungeduldig auf das Erscheinen der fernmündlich verständigten Amtsperson. Das eine oder andere Fläschchen Bier und ein paar Schnäpse waren angesichts des Unglücks und der Wartezeit bereits getrunken. Alle Augen richteten sich auf Fialla, als der endlich mit steinerner Miene eintrat und sofort in scharfem Ton fragte: «Wer von euch hat Ferdinand Geislers Leiche gefunden?»

Niemand antwortete. Sie hatten inzwischen genügend Zeit gehabt, ohne abschließendes Ergebnis darüber zu streiten, ob es richtig gewesen war, Ferdinand Geislers Leiche so mir nichts, dir nichts ins Geislersche Gehöft zu schaffen, wie es die fassungslose Witwe Anni von ihnen verlangt hatte. «Soll er noch länger dort draußen im Regen liegen und verrotten?», hatte sie geschrien. «Der Fialla macht ihn mir nicht wieder lebendig!»

Nein, das lag außerhalb Fiallas Befehlsgewalt. Die reichte jedoch, den Bauern in einem dröhnenden Sermon das Ungesetzliche und darüber hinaus grenzenlos Unüberlegte ihres voreiligen Handelns vor Augen zu führen. «Also, wer hat die Leiche nun gefunden?», donnerte er am Schluss seiner Ausführungen.

Wieder Schweigen. «Der kleine Gunther war’s», quäkte schließlich der Postbote, der nie den Mund halten konnte. «Der hat ihn von Anfang an im Rauber gesucht.»

«Und weshalb habt ihr ihn nicht an Ort und Stelle liegen lassen, bis der zuständige Beamte …» Er machte eine lange Pause, dehnte sie geradezu ungebührlich aus. «… aus Penig ihn in Augenschein genommen hat?»

«Aus Penig?», fragte sofort der alte Marquardt über das Gemurmel hinweg. «Der Ferdinand ist hier im Dorfe daheim.»

Fialla, der die Pelerine abgelegt und sein Notizbuch hervorgebuddelt hatte, sah sich streng um. «Seine Leiche lag in Sachsen. Punktum. Also sind die dort drüben zuständig.»

«Das könnte dir so passen, Kugelblitz!», sagte eine verächtliche Stimme aus dem Hintergrund. Der Mann gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sprechen oder sich zu verstecken.

Fialla kannte das schon. Frecher Widerspruch begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Bis vor ein paar Jahren wäre eine solche Unverschämtheit einem herzoglichen Beamten gegenüber weder möglich gewesen noch ungesühnt geblieben. Heute zog er es vor, darüber hinwegzuhören, ja gewissermaßen sogar klein beizugeben, indem er beinahe höflich hinzufügte: «Das ist sozusagen der amtliche Standpunkt, versteht ihr?»

«Greif du lieber den Mörder!», forderte die gleiche Stimme. Sie gehörte dem Hainich-Diethmar, keinem der ganz Kleinen im Dorf und Kirchenvorsteher noch dazu. Ein Mann, der gerne widersprach und überdies mit den Gesetzen mindestens so gut vertraut war wie Fialla selber. Vermutlich sogar besser.

Dem blieb nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. «Das wäre mir ein Leichtes gewesen, hättet ihr nicht alle Spuren zertrampelt wie’s liebe Vieh!»

«Da waren keine Spuren. Es strippt seit zwei Tagen, dazu das Tauwetter …» Der Rest ging in der allgemeinen Unruhe unter.

Fialla wusste, dass die Bauern wahrscheinlich recht hatten. Dennoch hob er belehrend den dicken Zeigefinger. «Das hat einzig und allein das Untersuchungsorgan zu entscheiden. Nicht ihr!»

«Aber keiner aus Penig oder Rochlitz!» Das war wieder der vorlaute Hainich.

Unaufgefordert war die Rose-Wirtin mit einem gutgefüllten Gläschen in der Hand vor Fialla aufgetaucht, nach dem er reflexartig griff, bevor er seinen Fehler erkannte. Kein Alkohol im Dienst, läutete es unter seinem Tschako. Und keinerlei Blöße vor etwaigen Zeugen! Dabei hatte der vertraute Wohlgeruch der wasserklaren Flüssigkeit bereits seine geweiteten Nasenlöcher erreicht, so dass ihm gar keine Wahl mehr blieb und er das Zeug mit einer ruckartigen Bewegung in sich hineingoss, Pflichtgefühl hin oder her.

Die Bauern registrierten es mit zustimmendem Gemurmel. Gleich war man sich ein wenig näher, und Fialla vermerkte insgeheim als eventuelle Ausrede, dass ohne ein solches Exempel altdeutsch-völkischer Gemeinschaft keinerlei Zeugenaussage von der widerspenstigen Dorfbevölkerung zu erwarten gewesen wäre.

Das Ergebnis seiner Befragung blieb dennoch dünn. Niemand aus dem Kreis der Gutsbesitzer und Abspannbauern, der offenen Freunde und heimlichen Feinde, Neider und Konkurrenten, Schwäger, Cousins und weitläufigeren Verwandten, die sie ja alle waren, wollte sich vor den Augen und Ohren von so viel Zeugen, und noch dazu vor dem schwatzhaften Postboten und der Rose-Wirtin, zu eventuellen Hintergründen der schrecklichen Tat oder auch nur zur Person oder Familie des Toten äußern.

«Sprich mit dem Siegfried. Besser noch mit dem alten Heinrich», riet man Fialla, der nicht mehr erfuhr, als dass Ferdinands jüngster Sohn Gunther den seit zwei Tagen vermissten Vater im Rauber gesucht und endlich in jener mit Laub und Reisig überdeckten Senke gefunden hatte. Auf seinen gellenden Alarm und die klagenden Vorwürfe der Witwe hin sei eine Gruppe entschlossener Männer hinaus zum Rauber gefahren, um die Leiche zu bergen. Erst in der Geisler’schen guten Stube, wo man sie aufzubahren gedachte, sei die Stichverletzung im Rücken entdeckt worden, die vermutlich zu Ferdinand Geislers Tod geführt hatte. Und erst dann war jemand in die Rose geeilt, um die Polizei zu verständigen.

An Vermutungen über den Täter fehlte es nicht: herumziehende Zigeuner, verdächtige Waffenschmuggler, versprengte Reste der Hoelz’schen Banden aus dem Vogtland - auf gar keinen Fall jemand aus dem Dorf. In Wulkersbach gab es keine Mörder.

VIER

IN HAINICHS GEHÖFT wurde Konrad fündig. Beide Torflügel standen weit offen, und im Hof rings um den eingemauerten Dunghaufen ergingen sich schwarz gekleidete Männer und festlich gewandete Kinder. Hoffnungsvoll hatte Konrad das Motorrad in der Feldscheune an Geislers Zufahrt stehenlassen und sich mit Harry auf den Weg gemacht. Irgendwer würde ihm schon verraten, wer da eventuell zu Tode gekommen war und wo sich die Trauergemeinde aufhielt. Immerhin erklärte die Beerdigung einer angesehenen Persönlichkeit - eines Gutsbesitzers oder seiner Frau - die Abwesenheit der Dorfbewohner. Dabei musste keineswegs der örtliche Gottesacker gemeint sein, mit den umliegenden Dörfern war man in Wulkersbach auf vielfältige Weise verwandt und verschwägert.

Inständig hoffte Konrad, dass es nicht den alten Heinrich Geisler oder dessen Frau Ernestine getroffen hatte, beide hoch in den Siebzigern, wenn nicht älter, und ihm vertraut wie nahe Verwandte.

Deshalb fühlte er sich erleichtert, als er in Hainichs stattlichem Vierseitenhof als Erstem just dem alten Heinrich Geisler in die Arme lief, in einen weiten schwarzen Anzug gehüllt und mit einer zutiefst bekümmerten Miene. «Gunnrahd», rief der Alte wie ein Ertrinkender, der einen Balken erspäht, «dass du gekommen bist!»

Also doch die unermüdliche und nahezu stumme Ernestine, die wahre Seele der Familie Geisler! Konrad schüttelte die knochige Hand des Alten und sprach ihm sein Beileid aus. Beinahe hätte er ihn umarmt, doch erschien ihm das unschicklich. Zu derlei Vertraulichkeiten neigten die Wulkersbacher nicht.

Heinrich Geisler nickte kummervoll mit seinem weißen Haupt, und die gelblichen Spitzen seines Kaiser-Wilhelm-Schnauzers zitterten dabei. «Woher weißt du es überhaupt? Hat es sich bis Dresden rumgesprochen?»

Konrad wollte ihm nicht erläutern, dass er ja nicht einmal sicher war, um wen es sich bei dem oder der Dahingeschiedenen überhaupt handelte, und dass er rein zufällig hier aufgetaucht war. Er fragte nur diplomatisch: «Wie ist es denn dazu gekommen?»

Aus wässrigen Augen sah ihn der Alte fest an. «Ein Mord!», sagte er voll tiefer Trauer und Abscheu und stieß seinen Knotenstock erregt auf das Hofpflaster. «Ein ruchloser, blutiger Mord! Genau wie seinerzeit …»

Konrad erinnerte sich dunkel an eine Mordgeschichte, die mit dem Rauber zusammenhing. «Wie ist es denn passiert?», wollte er wissen. Direkt nach dem Namen des Opfers wollte er nicht fragen, dazu war es zu spät. Oma Ernestine konnte es kaum sein.

Heinrich Geisler, trotz seines Alters noch immer eine stattliche Erscheinung, hob die knochigen Schultern. «Hinterrücks erstochen. Im Rauba», stieß er dumpf hervor. Wiederum zitterten die Enden seines mächtigen Schnurrbartes. «Gehr nur rein», sagte er. «Die werden sich alle freuen, dich zu sehen.»

Damit hinkte er in Richtung Abort davon, nicht ohne die Mahnung zu hinterlassen: «Bind den Hund hier draußen an!» Was Konrad zu Harrys Leidwesen umgehend tat. In solchen Dingen war man im Dorf empfindlich. Ein Hund gehörte nicht in eine Trauergemeinde.

Während des Gesprächs mit dem alten Geisler hatte sich niemand genähert, jetzt begrüßten die Männer im Hof Konrad. In seiner ledernen Motorradkluft kam er sich reichlich deplaciert vor, doch das half nun nichts. Er musste hinein in Hainichs Heuboden, der vor langen Zeiten einmal der Tanz- und Festsaal des Dorfes gewesen war. Den hatten sie also extra ausgeräumt für die Trauerfeier oder vielmehr für den Leichenschmaus zu Ehren des Ermordeten. Er wusste noch immer nicht, um wen es sich handelte.

Im Eingang begegnete ihm Robert Börner, einer der engsten Gefährten seiner Kindheits- und Jugendtage in Wulkersbach. Beinahe erschrocken erkannte er Konrad. «Mensch, Feierhänd, desderwegen schickt dich extra deine Zeidung her?», fragte er erstaunt.

Wie alle im Ort sprach Robert den kehligen, schwer verständlichen Dialekt der Gegend, der stärker als das gewöhnliche Sächsisch die Konsonanten aufweichte und die Vokale verfälschte. Eine Form des Osterländisch-Vorvogtländisch-Erzgebirgischen mochte das sein. Jedes Dorf redete in einer anderen Variante. Die meisten davon verstand Konrad ganz gut. Er hieß hier eben Gunnrahd und unter den alten Freunden Feierhänd.

Er zog Robert zur Seite. «Unsinn!», sagte er. «Ich bin eigentlich ganz zufällig hier und weiß nicht mal, was wirklich passiert ist. Erzähl mal!»

Robert sah sich um, als fürchte er, jemand könne ihn dabei beobachten, ein Geheimnis zu verraten. «Der Ferdinand», murmelte er, «ist draußen am Rauber erstochen worden. Hat euer Blatt das nicht gemeldet?»

«Kann sein …» Lokale Schreckensmeldungen - und deren gab es genug in diesen schlimmen Zeiten - las Konrad nicht sonderlich aufmerksam, solange sie nicht die Umgebung von Dresden betrafen. Der Name Wulkersbach aber wäre ihm aufgefallen. Das Dorf war so etwas wie eine zweite Heimat. Er war ein schwächliches Kind gewesen, mit dem die Mutter sich der gesunden Landluft und der frischen Milch wegen auf dem Hof ihrer entfernten Cousine Anni und deren Mann Ferdinand einquartierte, in der Hoffnung, Konrads beängstigende Erstickungsanfälle wirksam zu kurieren. Mit den Jungen im Dorf, die den Großstädter anfangs bis zu Tränen der Wut hänselten, hatte ihn nach erstaunlich kurzer Zeit eine feste Kameradschaft verbunden, die er seiner gründlichen Kenntnis der grünen Bände eines gewissen Karl May verdankte. Im Dorf las man außer der Bibel kaum ein Buch, doch die Abenteuer des angeblichen Weltenbummlers aus dem nahen Hohenstein-Ernstthal, der noch dazu im benachbarten Waldenburg studiert hatte, waren auch bis zu den Wulkersbacher Jung-Apatschen gedrungen.

Großmütig hatten sie Konrad als kränkliches Bleichgesicht mitspielen lassen, das sie am Marterpfahl zu quälen gedachten. Bald jedoch hatte dieses städtische Greenhorn ihnen tausenderlei Fehler in ihren dürftigen Stammesriten nachgewiesen und sie anschließend mit nie gelesenen Abenteuern aus Leben und Werk Old Shatterhands vertraut gemacht. Der zu jener Zeit in den Zeitungen heftig geschmähte und von seinen Verehrern noch verbissener verteidigte Kara ben Nemsi hatte damals noch gelebt. Seitdem hatte Konrad jede Zeile von und über den großen Märchenerzähler von Radebeul gelesen und gesammelt und damit vor den staunenden Apatschen geglänzt.

Einstimmig war er in den Wulkersbacher Stamm aufgenommen worden, dessen Jagdgründe im bachdurchflossenen Grenzwald kaum ein Erwachsener je gestört und in dem der strohblonde Rainer bis zu seinem frühen Tod unangefochten die alte Schmetterhand gespielt hatte. Siegfried Geisler, der dunkellockige Sohn von Ferdinand und Anni, die Konrad der Einfachheit halber Tante Anni nannte, hatte ebenso unangefochten den Winnetou dargestellt. Der lang aufgeschossene Robert Börner, Spross der zweitreichsten Bauernfamilie im Ort, war Old Surehand gewesen, und der Rest der zumeist kindlichen Dorfjugend hatte das Fußvolk dargestellt. Für Konrad war nach einigem Hin und Her nur Old Firehand aus Winnetou Band 4 geblieben, womit er sich großmütig abgefunden hatte.

Leider war den Bauernlümmeln selten genug Zeit zum Indianerkampf geblieben, und den Gesindekindern erst recht nicht. Immerhin hatte sich ein harter Kern von vier, fünf Jungen gehalten, die Blutsbrüderschaft miteinander geschlossen und feierlich geschworen hatten, sich gegenseitig ein Leben lang beizustehen. An jenem Tag, mindestens zwei Jahre nach Rainers Tod, war Robert der Ehrentitel Old Shatterhand zuerkannt worden, worauf Konrad zu Old Surehand aufsteigen sollte, es jedoch vorgezogen hatte, Old Firehand zu bleiben. Jochen Hainich, nur ein Jahr jünger als Konrad, war der neue Surehand geworden. Der Franke-Alfred hieß natürlich Hobble-Frank, wenn auch nicht Heliogabalus Morpheus mit Vornamen wie sein Urbild, und der untersetzte Gerstner-Ludwig war Sam Hawkens - wenn ich nicht irre, hi-hi-hi.

Das alles ging Konrad durch den Sinn, während er in seiner Lederkluft ein wenig verloren vor Hainichs Heuboden stand, auf dem die Apatschen einst herumgetobt hatten und in dem das Dorf nun Ferdinand Geisler die allerletzte Ehre erwies.

Für einen Augenblick verfluchte Konrad die Idee seines zufälligen Besuchs. So viele seines Jahrgangs waren an der Marne und sonst wo in Europa gefallen - in seiner engeren Umgebung war der Tod eher ein seltenes Ereignis geblieben. Jetzt seinem Freund Siegfried und seiner lieben Tante Anni entgegenzutreten und ihnen sein Beileid auszusprechen war eine höchst unangenehme Vorstellung. Ganz zu schweigen von Siegfrieds Schwester Lydia, mit der ihn ein besonderes Verhältnis verband. Vielmehr verbunden hatte. Sie war hoffentlich längst über die Enttäuschung hinweg, die er ihr - wie mancher anderen, wenn auch nicht in Wulkersbach - bereitet hatte.

Doch das half nun nichts, er musste hinein in den hohen Saal mit der gewaltigen U-förmigen Tafel, an der die Familie Geisler saß, dem Torflügel gegenüber, in dem Konrad einen Moment verharrte. Heinrich Geislers freien Platz hätte man leicht für den von Ferdinand halten können. Die Geislers ohne Ferdinand - das war eine befremdliche Vorstellung. Konrad wurde bewusst, welch eine starke Persönlichkeit Tante Annis Mann gewesen war.

Gunther, Annis und Ferdinands zwölfjähriger Nachkömmling, entdeckte ihn zuerst und stürzte mit einem unangemessenen Freudenschrei auf ihn los. «Dr Gunnrahd!», jauchzte er, bevor ihm der Ernst des Augenblicks wieder zum Bewusstsein kam und er mit betretener Miene Konrads Hand schüttelte. Der tat, was er sich bei Opa Heinrich nicht getraut hatte: Er umarmte den Jungen und drückte ihn fest an sich. An der Tafel erhob sich Siegfried langsam und ungläubig von seinem Platz zwischen seiner apathisch vor sich hin starrenden Mutter und der auffallend munteren Großmutter Ernestine. Lydia, zur Linken der Witwe, senkte den Blick auf den Tisch, als wolle sie den unerwarteten Ankömmling vorerst nicht bemerken.

Erst als Konrad auch ihr kondolierte, blickte sie ihm plötzlich fest in die Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Schimmernd dunkles Haar umrahmte ihr rosiges Gesicht mit den traurigen Mandelaugen. Sie war noch genauso hübsch, wie Konrad sie in Erinnerung hatte, und die schwarze Kleidung stand ihr. Sie war zweifellos die Dorfschönste von Wulkersbach und erstaunlicherweise noch immer nicht fest gebunden, denn auf dem Platz neben ihr saß Annis Schwager Gerwald Seidel, mit dem Konrad eine ebenso herzliche Abneigung verband wie mit dessen umfangreicher Frau Gerda. Die beiden nickten ihm nur hoheitsvoll zu, nachdem sie seine Begegnung mit Lydia mit Argusaugen verfolgt hatten.

Ihr Misstrauen alarmierte Konrad. Ahnte oder wusste etwa doch jemand in der Familie von jener Episode, die Lydia und ihn verband? Im Allgemeinen kannte Konrad kaum Gewissensbisse, was seine vergangenen Affären anging. Ausgerechnet heute und in diesem Fall jedoch war ihm die romantische Geschichte mit Lydia, die Jahre zurücklag, ein wenig peinlich. Lydia war sechs Jahre jünger als ihr Bruder Siegfried - und damit auch sechs Jahre jünger als er selber. Damals mochte sie sechzehn, siebzehn gewesen sein, eine erblühende Rose unter den unauffälligen Dorfmädchen, denen die schwere Landarbeit ein frühes Altern versprach. Schade, dass Siegfried und Konrad damals längst aus dem Alter begeisterter Apatschenkrieger heraus gewesen waren, die dunkellockige Lydia hätte allemal die ideale Nscho-Tschi abgegeben, Winnetous liebreizende Schwester, deren Namen in Wulkersbach niemand hätte aussprechen können.

Auch ohne Winnetou war Konrad seinerzeit ihrer jugendlichen Anmut erlegen, ohne in den Folgejahren größere Gedanken daran zu verschwenden. Unter den Gutsbesitzern auf dem Lande spielten dynastische und erbrechtliche Gründe bei der Wahl der Ehepartner allemal eine größere Rolle als kurzfristige Liebeleien. Vermutlich war Siegfried deshalb zum Ärger der gesamten Familie noch immer unverheiratet und auf dem besten Wege, sein Leben als eigenwilliger Hagestolz zu verbringen. Das jedenfalls prophezeite ihm seine Mutter Anni seit Jahren, nachdem er zwei gute Partien aus Wulkersbach und dem benachbarten Guckenheim glatt ausgeschlagen hatte - beides Bauerntöchter mit erheblicher Mitgift und Erberwartung, jedoch nach Siegfrieds Urteil zu unansehnlich, ja geradezu hässlich.

Nun war er von heute auf morgen zum Gutsbesitzer aufgestiegen. Eine Rolle, an die er sich schwer gewöhnen würde, solange Großvater Heinrich das Regiment auf dem Hof zu führen versuchte und Mutter Anni jede seiner Handlungen an denen des Ermordeten maß. Das waren die größten Bedenken, von denen er Konrad erzählte, als der endlich seinen Saalrundgang beendet und sich mit dem Freund und entfernten Verwandten in eine ruhige Ecke zurückgezogen hatte. Der Raum mit den hohen, nur notdürftig von Staub und Spinnweben befreiten Fenstern und dem Musikpodium, auf dem große Planen das vorjährige Heu kaum verdeckten, wirkte auf Konrad wie eine Filmkulisse.

Siegfried machte einen todunglücklichen Eindruck. «Wenn wenigstens der Gunther erwachsen wäre», sagte er. «Das ist der geborene Landwirt. Und er kann rechnen. Besser als ich jedenfalls.»

«Du würdest auf dein Erbe verzichten?», fragte Konrad erstaunt.

Siegfried sah ihn an. «Lieber heute als morgen», entgegnete er melancholisch. «Wenn ich an den kommenden Streit denke, graut’s mir.»

«Worüber werdet ihr streiten? In eurer Familie ging es doch immer ganz einträchtig zu …»

«Einträchtig!» Um Siegfrieds Mund zeigte sich ein ungutes Lächeln. «Hast du schon mal Eintracht erlebt, wenn’s ums Geld geht?»

Dazu schwieg Konrad vorsichtshalber.

«Es ist nämlich keins da», fuhr Siegfried bitter fort. «Kaum ein Pfennig, wenn du’s genau nimmst. Sogar das hier» - er wies mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Tafel - «geht erst mal auf Kredit.»

Konrad verstand nicht. Den Geislers war es immer gutgegangen, und Ferdinand hatte als ein gescheiter Landwirt gegolten.

«War die letztjährige Ernte so schlecht?», erkundigte er sich.

Wieder lachte Siegfried mit diesem unguten Zug um den Mund. «Die war so gut wie selten», sagte er. «Glücklicherweise haben wir noch was davon in der Kammer, trotz der Zwangswirtschaft. Aber das Bargeld …» Er streckte die Handfläche aus und pustete darüber. «Das ist fort. Auf Nimmerwiedersehen.»

«Und wohin?»

«Das musst du die Mörder fragen. Der Vater hat es bei sich getragen.»

«Wohin wollte er damit?»

Siegfried hob die Schultern. In seinem feierlichen Bratenrock wirkte er wie ein verkleideter Boxer. «Das ist immende das große Geheimnis.»

Konrad pfiff leise durch die Zähne. Immende gehörte wie egal und mancher andere Begriff zu den stehenden Redewendungen im Dorf. «Sprich mal genauer», forderte er, auf Siegfrieds Tonfall eingehend, doch der schüttelte den Kopf. Als Konrad sich umwandte, rollte geradewegs die Kugelgestalt Arthur Fiallas auf ihre Gesprächsecke zu.

«Nicht jetzt und nicht hier», sagte Siegfried nur, blieb jedoch sicherheitshalber bei Konrad stehen. Er erwartete nichts Gutes von dem Zusammentreffen Fiallas mit dem Besucher aus der Stadt.

So war es auch. Der Wachtmeister zerrte sein umfangreiches Notizbuch aus dem blauen Uniformrock und erkundigte sich barsch nach Konrads Namen und dem Grund seiner Anwesenheit. Der hielt es für unpassend, dieser kugeligen Amtsperson etwas von einem Zufall zu erzählen, der ihn hergetrieben habe. Unter Vorzeigen seiner Presselegitimation erklärte er ganz kühl: «Ich bin der Korrespondent der Leipziger Volkszeitung. Wie ich höre, hat es hier einen bisher unaufgeklärten Mord gegeben. So etwas interessiert unsere Leser.»

Fialla schnappte förmlich nach Luft. Mit der Presse hatte er wahrlich nicht gerechnet und schon gar nicht mit der Frage, die Konrad Katzmann seiner Erklärung sofort hinterherschob: «Wie weit sind denn die polizeilichen Ermittlungen gediehen?»

«Das geht Sie gar nichts an!», schnauzte Fialla zurück, und gleichzeitig fiel ihm etwas geradezu Geniales ein. «Sie befinden sich hier auf thüringischem Territorium!», donnerte er. «Wir benötigen keine Leipziger Schmieranten, die unsere Ermittlungen behindern!»

«Inwiefern?», fragte Konrad höflich.

Fiallas ohnehin gerötetes Gesicht begann zu glänzen. «Insofern, dass Leipzig bekanntlich in Sachsen liegt und hiesige Straftaten damit absolut nicht in die lokale Berichterstattung Ihres Blattes fallen!» Mit Mühe unterdrückte er weitere Bemerkungen über die politische Richtung der LVZ. In Thüringen wie in Sachsen herrschten im Augenblick nun einmal die Roten, da verkniff man sich als Beamter besser jede kritische Stellungnahme.

Scheinbar überrascht mischte sich Siegfried Geisler ein, der das Geplänkel bisher schweigend verfolgt hatte: «Nu gucke! Sind Sie plötzlich nicht mehr der Ansicht, mein Vater sei jenseits der Grenze in Sachsen aufgefunden und vermutlich auch ermordet worden? Von einem Täter, der aus Penig oder Waldenburg stammt?»

Fialla war dicht davor, die Beherrschung zu verlieren. Mit dem Sohn des Ermordeten durfte er es sich jedoch nicht verderben. Der aus Altenburg angereiste Kriminalsekretär Felgenträger hatte ihm hinter vorgehaltener Hand versichert, mindestens die Hälfte aller ländlichen Morde gehe auf Erbstreitigkeiten oder andere Familienauseinandersetzungen zurück - das gelte es in diesem Fall besonders zu beachten, da es angeblich um so viel verschwundenes Geld ging, das kein Zeuge je gesehen hatte. Von dem erfahrenen Kollegen stammte auch der Rat, am Begräbnis und dem anschließenden Leichenschmaus teilzunehmen und ein wachsames Auge auf Fremde wie Verwandte zu richten.

Anscheinend hatte der Herr Kriminalsekretär selber bei seinen Befragungen im Dorf und in der Familie nichts Bedeutungsvolles herausgefunden, und Fiallas Behauptung, der oder die Mörder müssten aus Sachsen stammen, durchaus Wohlwollen entgegengebracht. Von einem Vieh- oder sonstigen Händler namens Franz Rogowski war die Rede, den der Ermordete angeblich in Penig habe treffen wollen, und Penig lag nun einmal in Sachsen.

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22 aralık 2023
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