Kitabı oku: «Katzmann und das schweigende Dorf», sayfa 3

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Jetzt saß Fialla in der Tinte. «Alle Ermittlungen fallen unter das Amtsgeheimnis!», sagte er hitzig und wollte sich abwenden.

«Ich wollte eigentlich nur wissen, in welcher Form ich durch meine bloße Anwesenheit Ihre Ermittlungen behindere», fragte Konrad. «Ich unterhalte die denkbar besten Beziehungen zur sächsischen Kriminalpolizei. Wenn ich Ihnen da in irgendeiner Weise behilflich sein kann …»

Alles, was Fialla dazu einfiel, war eine ärgerliche Handbewegung. «Danke. Nicht notwendig», schnarrte er und kugelte davon.

FÜNF

AN KONRAD KATZMANN hatte Siegfried zuallerletzt gedacht, als es darum ging, in aller Eile die Traueranzeigen zu verschicken. Jetzt kam ihm der alte Freund gerade recht. Weshalb hatten die Katzmanns nicht auf Annis Liste gestanden? Gewiss, in diesen Zeiten war nicht einmal mehr die Post zuverlässig. Alles war durcheinandergeraten. In der Druckerei in Altenburg hatten sie dem Vater ein falsches Geburtsdatum verpasst und alles neu drucken müssen, und die Leiche war überhaupt erst in letzter Minute für die Beisetzung freigegeben worden. Bis nach Leipzig oder Weimar hatten die Medizinmänner Ferdinands Körper verschicken wollen. Geöffnet und wieder zugenäht hatte ihn dann doch der amtliche Doktor in Altenburg und dabei nichts anderes feststellen können als das, was die Familie bereits an jenem schwarzen Donnerstag in der guten Stube herausgefunden hatte: Ein tiefer Stich mit einem etwa drei Zentimeter breiten Messer hatte das Leben des kerngesunden und gerade erst 53-jährigen Hofbesitzers jäh beendet.

Erst vierzehn Tage zuvor hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, und Siegfried fühlte sich unbehaglich, als er Konrad davon erzählte. Der junge Geisler, der bei Hainich schon einiges auf das große Unglück getrunken hatte, war froh gewesen, dem sich allmählich lockernden Leichenschmaus zu entkommen und mit Konrad zum Geisler’schen Hof, der nun der seine war, zurückzukehren. Wegen der Anreise der Verwandten zur Trauerfeier war ausnahmsweise der gewaltige Kachelofen in der guten Stube geheizt worden. Dort saßen sie nun warm und gemütlich beim Schein der einzigen Glühbirne, und Siegfried schüttete sein Herz aus. Von Zeit zu Zeit machte er lange Pausen und starrte sinnend aus dem Fenster, vor dem sich die Dämmerung auf das Tal senkte.

Anfangs kam er nicht los von dem väterlichen Geburtstag. Beinahe den ganzen Abend hatten sie alle miteinander gestritten, und es hatte nicht viel gefehlt, dass es zwischen dem alten Heinrich und Ferdinand zum endgültigen Zerwürfnis gekommen wäre. Er selber, der sonst kaum aufbegehrende Sohn, hatte sich zu Ferdinands Erbitterung den Ansichten des Großvaters angeschlossen. Lydia hatte sich wie immer aus allem herausgehalten und nur ab und an eine spöttische Bemerkung bezüglich ihrer Mitgift eingeworfen, die die Stimmung eher aufgeheizt hatte. Schließlich hatte Mutter Anni sich mit ungewohnter Schärfe eingemischt und das Ende jeglicher Zänkerei gefordert. Es gäbe da noch ganz andere Themen, über die es sich zu streiten lohne, hatte sie mit deutlicher Drohung geäußert, und Ferdinand hatte eingelenkt. Gemeinsam hatte man noch einen Schnaps getrunken, und alle waren schließlich friedlich ins Bett gegangen.

Gelöst waren die Probleme damit nicht. Die Stimmung im Haus war auch in den folgenden Tagen wie das nasse Märzwetter über der Flur geblieben: nahe dem Gefrierpunkt. Großvater Heinrich hatte seinen Groll in sich hineingefressen und ihn ganz gegen seine Art mitunter an den Hühnern oder sonst einem widerspenstigen Tier ausgelassen. Ferdinand war allen aus dem Wege gegangen und hatte verbissen vor sich hin gearbeitet. Siegfried hatte wortlos seine Pflichten erledigt, bemüht, keinen Anlass zu Klagen zu bieten. Selbst Lydia hatte sich in dieser Zeit verändert, von ihrer üblichen Lebenslust war nichts mehr zu spüren. Unverändert geblieben waren nur das unbeschwerte Küken Gunther und die Großmutter Ernestine in ihrem Küchenreich, das sie zäh und beharrlich gegen die Schwiegertochter Anni verteidigte, seit deren zunehmende Gelenkbeschwerden ihre Arbeitsmöglichkeiten im Stall und auf dem Feld immer stärker einengten.

Niemand außer ihr selbst machte Anni jemals einen Vorwurf wegen der Behinderung - als Bauerntochter wusste sie am besten, was man auf einem Hof wie dem Geisler’schen von einem kranken oder nutzlosen Esser hielt, und das bestimmte ihre Befindlichkeit seit langem. Die restlichen Leute auf dem Hof, allen voran die derbe Magd Elsa, gingen ihr lieber aus dem Weg. Nicht einmal die eigene Schwester Gerda, die mit ihrem Angetrauten Gerwald in den ursprünglich für Siegfried und seine nicht vorhandene Familie ausgebauten Stuben über dem Schweinestall wohnte, hatte ein besonders inniges Verhältnis zu ihr, was an Gerdas Arbeitsunfähigkeit infolge ihrer Fettsucht liegen mochte, vielleicht auch an Gerwalds Überheblichkeit und Ungeschick. Der hatte zeitweise in der Patentpapierfabrik in Penig gearbeitet und hielt sich für einen halben Ingenieur. In schlechten Zeiten diente er auf dem Hof als Knecht und Mädchen für alles. Die schlechten Zeiten hielten seit 1917 an, seit Gerwald mit einem Nervenleiden behaftet vom rumänischen Kriegsschauplatz zurückgekehrt war. Als leiblicher Schwager der Hofeigentümerin gab er sich gerne für so etwas wie der Geisler’sche Gutsinspektor aus. Seinem Kommando beugten sich allerdings nur der gutmütige Trottel Gottlieb und gelegentlich der ebenfalls kriegsbeschädigte Bernhard Gräfe, ein entfernter Geisler’scher Cousin, der neben Gottliebs Knechtskammer über dem Pferdestall schlief. Von Elsa, der resoluten weizenblonden Mittdreißigerin, die seit zwölf Jahren dem Gesinde vorstand und kaum ein anleitendes Wort für die Arbeit brauchte, genügte eine einzige Schimpfkanonade, um Gerwald den nötigen Respekt beizubringen und ihr auf ewig Gerdas tödliche Feindschaft einzutragen.

So sah es also auf dem Gehöft der Geislers aus, einem großzügig angelegten Vierseitenhof, wie es sie in der Gegend zahlreich gab. Konrad kannte den Hof wie seine Westentasche. Das langgestreckte Wohngebäude stammte aus dem Jahr 1796, im Kern ein stabiler Fachwerkbau mit einem tiefen Keller unter der quadratischen Küche, mit roten Sandsteinbögen im Kuhstall am anderen Ende und zwei geräumigen Oberböden. Dem imposanten Gebäude gegenüber erhob sich die mächtige hölzerne Scheune mit Bansen, Tenne und zwei Einfahrten, einer der bevorzugten Spiel- und Versteckplätze der Kindheit. Die Nordseite des Hofes schloss ein Stallgebäude mit Heuboden, Taubenschlag, Schafstall und einem Kartoffelkeller ab, über dem im Winkel neben der Scheune die Kutschenremise lag, nur von außen zugänglich, wie die uralte Feldscheune an der Toreinfahrt. In der Remise stand neben zwei Kutschen auch der zweispännige Schlitten für den gewöhnlich schneereichen Winter.

Zwischen dem Haupt- und dem südlichen Wohnstallgebäude, in dem sich der Schweinestall und der Stall für die sechs Pferde befanden, führte die Gartenpforte über einen kiesbestreuten Weg hinaus auf die abschüssige Weide. Aus ihrer Küche und dem Wohnzimmer genossen Gerda und Gerwald einen weiten Blick über Dorf und Tal bis fast nach Meffersdorf. Im Hof, und damit zu Gerdas Ärger unmittelbar unter den Fenstern ihres Schlafzimmers über dem Schweinestall, befand sich der morgens und abends frisch dampfende Misthaufen. Vor den Häusern war er säuberlich mit quadratischen Sandsteinplatten umrahmt, von der grob gepflasterten Hofseite aus mit Laufbrettern befahrbar und in der Ecke mit einer Saugeinrichtung für die Jauche versehen. Die hatte Ferdinand noch vor dem Krieg installieren lassen, zusammen mit der Jauchepumpe draußen vor der Futterkammer am Kuhstall. Darüber waren Siegfried und er ganz einer Meinung gewesen, im Gegensatz zu Heinrich, der von derlei neumodischem Kram wenig hielt und sich gegen den Elektrizitätsanschluss wehrte. Auch dabei hatte sich Ferdinand mit Siegfrieds Unterstützung durchgesetzt. Die Elektrizität versprach nicht nur das weniger gefährliche Licht im Haus und in den Ställen, sie lieferte auch Kraft für Pumpen und Maschinen. Ferdinand war nun mal fürs Moderne und Praktische gewesen. Insgeheim hatte er von einer elektrisch angetriebenen Dreschmaschine geträumt. Im Dorf besaß nur der reiche Marquardt ein fahrbares, von einer Lokomobile betriebenes Dreschwerk, das er nur äußerst ungern und gegen entsprechend hohe Arbeitsleistungen der Bittsteller verlieh.

Der Motor für die elektrische Dreschmaschine anstelle des alten, von zwei Pferden angetriebenen und höchst anfälligen Ungetüms von Göpelwerk, für den Ferdinand bereits den Platz im Mittelteil der Scheune vorgesehen hatte, war einer der Streitpunkte der letzten Monate gewesen. Mit seinem ganzen Altersstarrsinn hatte sich Heinrich gegen Ferdinands Absicht gestemmt, am besten gleich und sofort alles Bargeld in eine solche Maschine und in weitere, einen Garbenaufzug beispielsweise oder gar einen Trecker, zu stecken, zusätzliches Vieh zu kaufen oder das Geld wenigstens in amerikanische Dollar umzutauschen. Das war dem Alten entschieden zu weit gegangen. Immerhin hatten die Amerikaner im Krieg zu den Feinden gehört, und von denen nahm man nichts, schon gar nicht ihr Geld.

Selbst Siegfried hatte seinen Vater einen Schwarzseher genannt. Er hatte Ferdinands Beziehungen zu diesem ominösen Rogowski in Penig missbilligt, über den allerlei Gerüchte im Umlauf waren. Der geschickte Händler malte den Landwirten die Schreckensbilder einer kommenden Inflation, wie er das nannte, an die Wand und versuchte, ihnen Vieh und allerlei anderes zu verkaufen, solange die Papiermark noch einen gewissen Wert besaß. Von der Goldmark war nur noch in der Theorie die Rede.

Dabei war die schleichende Geldentwertung auch in Wulkersbach seit langem spürbar, aber deren Ende war nach Siegfrieds Meinung abzusehen. Die Preise würden sich spätestens nach der nächsten Ernte stabilisieren, und alles kam ins Lot. Außerdem brauchte man das Geld, um die lange Durststrecke bis zur Ernte oder wenigstens bis zum Verkauf des ersten Gemüses und Obstes zu überbrücken.

«Wir werden nicht verhungern», hatte Ferdinand abgewehrt. Irgendeine Idee war ihm im Kopf herumgespukt, doch er hatte mit niemandem darüber gesprochen.

Am Dienstag voriger Woche war er dann plötzlich verschwunden. Anfangs hatte das keinen beunruhigt. Er hatte so seine Eigenheiten, und dazu gehörte eine gelegentliche Abwesenheit. Nur Anni war noch verbissener herumgelaufen, als sie ihn nirgends finden konnte. Die Pferde hatten alle im Stall gestanden, kein Fuhrwerk hatte gefehlt. Also musste er sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben. Wohin? Erst am Abend hatten sie begonnen, sich das zu fragen, denn dass Ferdinand über Nacht ausblieb, war bis dahin kaum je vorgekommen.

Als er auch am Mittwochmorgen noch nicht heimgekehrt war und ihnen die Stallarbeit am Morgen alleine überließ, hatte sich allgemeine Unruhe ausgebreitet. Üblicherweise wurde beim Frühstück der endgültige Arbeitsablauf für den Tag festgelegt. An jenem Morgen hatten alle wie verlorene Kinder herumgesessen, bis sich Heinrich besonnen und das Kommando übernommen hatte.

Erst hinterher war Siegfried eingefallen, dass es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Er war der Nächste in der Rangfolge, nicht der Altenteiler Heinrich, der noch dazu auf die unpassende Idee gekommen war, beiläufig an die Uraltgeschichte vom Mord im Rauber zu erinnern.

«Auch damals haben sie auf den Vater gewartet und geglaubt, er wäre nach Altenburg gegangen …», hatte er düster gesagt, aber nur der kleine Gunther schien die Sache ernst zu nehmen.

«Wenn er nach Altenburg wollte, hätte er eine bessere Joppe angezogen», hatte Anni eingewandt.

Und Siegfried hatte geantwortet: «Kannst ja anspannen und nach Beiern fahren. Der dicke Schmiech wird sich erinnern, ob er ihm eine Fahrkarte verkauft hat.» Schmiech war der Bahnhofsvorsteher von Beiern-Langenleuba, der sechs Kilometer entfernten Station an der Bahnstrecke in die Kreisstadt.

Ferdinand war auch am Mittwoch nicht wiederaufgetaucht. Vergebens hatte Anni auf das Postauto gehofft, das gelegentlich Passagiere mitnahm. Ferdinand hatte es nicht benutzt.

In der Rose, die zugleich die Wulkersbacher Poststation und einen Kramladen für allerlei nützliches und unnützes Zeug beherbergte, hatte Anni ihre Einkäufe erledigt und zur Verwunderung der Witwe Jungnickel ein Telephongespräch zur Bahnstation angemeldet. Anni war sich der Gefahr bewusst gewesen, der sie den Familienruf aussetzte, denn die Rose-Wirtin hatte natürlich gehörig die Ohren gespitzt bei Annis Frage nach Ferdinands eventuellem Fahrkartenkauf. Zu allem Überfluss hatte auch der Liebscher-Melchior herumgelungert, der hinkende Postbote mit der Fistelstimme, den alle Welt Tante Droll nannte. Zwar war den beiden die Antwort aus Langenleuba entgangen, doch hatte Annis Gesicht eine allzu deutliche Sprache gesprochen. Zwei Stunden später hatte jeder Wulkersbacher gewusst, dass der Geisler-Ferdinand Hof und Familie mit unbekanntem Ziel und anscheinend auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte.

Die Geislers waren die Allerletzten gewesen, die davon erfuhren. Am meisten hatte sich die Magd Elsa über das Gerücht empört, bis Anni sie mit einem langen Blick und der Bemerkung zum Schweigen gebracht hatte: «Du meinst wohl, er hätte sich mit dir beraten, bevor er sich davonmacht?»

Elsas ohnehin gesunde Gesichtsfarbe war um einen Schein dunkler geworden, und Siegfried hatte sich verpflichtet gefühlt, ihr beizustehen. «Was soll das jetzt, Mutter?», hatte er gefragt, obwohl er natürlich ebenso wie alle anderen am Tisch wusste, was gemeint war. Elsa, ein paar Jahre älter als er, war eine handfeste Person und kein Kind von Traurigkeit, wie gemunkelt wurde. Anni war es nie gelungen, einen Beweis für die Untreue ihres Mannes zu finden oder sich gar damit durchzusetzen, Elsa vom Hof zu jagen.

«Finde erst mal eine Magd wie die!», hatte sogar Heinrich jedes Mal lebhaft widersprochen. Der Alte liebte es ja selber, hinter Elsa die enge Stiege zum Heuboden hinaufzusteigen oder ihr wohlwollend über den prallen Hintern zu streichen. Außerdem hatte er natürlich recht: Die Magd arbeitete unermüdlich wie ein Pferd, schaffte inzwischen zehnmal mehr als Anni mit ihren geschwollenen Gelenken. Die hatte nach Gunthers Geburt nach und nach ihren Widerstand gegen die mutmaßliche Nebenbuhlerin aufgegeben, zumal der heranwachsende Spross Tante Elsa abgöttisch liebte.

Siegfried hörte auf zu reden und schwieg nachdenklich. Noch immer war er nicht bei dem Mord angelangt, dessen Einzelheiten Konrad weit mehr interessierten als all die Familienintimitäten, die ihm nicht sämtlich neu waren.

Siegfried, der von Anfang an voraussetzte, Konrad würde die Nacht in Wulkersbach verbringen, hatte dem Wandschrank eine Flasche und zwei Gläser entnommen und immer wieder nachgeschenkt, wobei Konrad sich zurückhielt. Er war müde, fast so müde wie Harry, der zusammengerollt zu seinen Füßen schlief, ohne sich der Ehre bewusst zu sein, dies als fremdes Tier in der guten Stube tun zu dürfen. Man wohnte hier mit den Kühen unter einem Dach, allein schon der Wärme über dem Kuhstall wegen, die gute Stube aber war ein geradezu geheiligter Ort, den die Kinder nur zu Weihnachten betraten und die Erwachsenen auch nur an hohen Feiertagen. Ferdinand hatte versucht, Ausnahmen einzuführen, indem er sich gelegentlich mit schriftlichen Arbeiten in den einzigen Raum zurückzog, in dem ihn niemand störte, was Heinrich stets missbilligte. Er glaubte fest daran, besser rechnen zu können als der Sohn und Erbe, entbehrte aber seit langem eine passende Brille, die ihm das Lesen kleiner Buchstaben und Zahlen ermöglicht hätte. Kam die Zeitung ins Haus, versuchte er meist vergeblich, sich an den Überschriften zu orientieren.

Im Wandschrank der guten Stube, zu dem nur Ferdinand den Schlüssel besaß, wurde der bessere Schnaps aufbewahrt. Dort lagerte auch die Stahlkassette mit dem Bargeld. Einer Bank oder Sparkasse Geld anzuvertrauen kam in Wulkersbach niemandem in den Sinn - wusste man denn in so unruhigen Zeiten, was dort damit geschah? Seit dem Verschwinden der Silber- und Goldmünzen galt nur noch das Papiergeld der Reichsbank, der Sächsischen Bank in Dresden, des Leipziger Kassenvereins und der Chemnitzer Stadtbank. Deren Hundertmarkscheine waren nicht mehr viel wert. Zum ersten Mal tauchten sogar Tausender auf. Besonders ungern nahm man sogenannte Darlehnskassenscheine und windiges Notgeld in Zahlung.

Heinrichs Misstrauen, angeheizt durch die Anschaffungspläne des Sohnes, war immerhin groß genug gewesen, bereits am Tag nach Ferdinands Verschwinden den erheblichen Bargeldbestand zu überprüfen. Wie sich herausstellte, besaß Heinrich nicht nur einen zweiten Schlüssel für den Wandschrank, sondern insgeheim auch einen für die altertümliche Kassette. Und die war leer, sah man von der Feuerpolice und einem dünnen Geldbündel ab, das vermutlich nicht einmal ein Zehntel des vorher Vorhandenen ausmachte und wenigstens für die nächsten Wochen ausreichte. Auch acht über alle bösen Zeiten hinweg gehortete Goldstücke waren noch vorhanden.

Opa Heinrich hatte derbe Verwünschungen ausgestoßen und war gar nicht mehr losgekommen von der alten Geschichte, die vor hundert Jahren im Rauber passiert war. Davon beeindruckt, war der kleine Gunther am nächsten Tag nach der Schule hinaus zum Rauber gelaufen und hatte dort den toten Vater gefunden.

An diesem Punkt der weitschweifigen Erzählung angelangt, wurde Siegfried unterbrochen. Der Hofhund bellte, Harry knurrte, und gleich darauf kam Lärm im Hof auf, Schritte tappten über den Flur vor der Stube. Die Familie kehrte vom Leichenschmaus heim, und mit der Ruhe im Haus war es vorbei.

«Was ist das für eine alte Geschichte mit dem Rauber?», wollte Konrad dennoch wissen.

Siegfried winkte ab. «Am besten gebe ich dir die ganze Leichenpredigt», sagt er. «Da steht alles drin.»

SECHS

«DAS WIRD JA IMMER BESSER! Jetzt schaffen die Thüringer schon ihre Leichen über die Grenze, nur um uns die Arbeit aufzubürden!» Der ehemals königlich-sächsische Polizeiinspektor Kretzschmar, seit Neuestem Inspektor der sächsischen Landeskriminalpolizei bei der Amtshauptmannschaft Rochlitz in der Kreishauptmannschaft Leipzig, warf das amtliche Schreiben der Altenburger Kollegen mit angeekelter Miene auf die eichene Tischplatte. Friedrich-Karl Habicht, Unteroffizier a. D., Träger des EK II und glücklich, so nahe seiner Heimatstadt Waldheim, wo er einen Posten in der Strafanstalt ausgeschlagen hatte, als Kriminaloberassistent untergekommen zu sein, musste den Kopf noch schräger legen als gewöhnlich, um die Schrift zu entziffern. Seit seiner schweren Verwundung in Flandern wich sein narbenversehrter Hals erheblich von der Lotrechten ab, was ihm den Beinamen «Der schiefe Fritz» eingetragen hatte.

Habicht war gewiss kein unauffälliger, dafür aber ein emsiger und gewissenhafter Kriminalbeamter, den allein schon seine grenzenlose Neugierde für den Beruf geradezu prädestinierte. Außerdem war der schiefe Fritz, wie Habicht wusste, der erste preußische König gewesen, ein kleiner Mann mit einem Buckel, doch immerhin ein König.

Hier in Rochlitz residierte der bullige Inspektor Kretzschmar als König und gebärdete sich entsprechend. Die eigentliche Arbeit blieb dem Oberassistenten. Also las der lieber gleich, was die thüringische Polizei ausführlich mitzuteilen hatte über einen Mord im Grenzbereich Berkersbach, dicht bei Penig an der Mulde. Der Tatort lag einerseits gut zwanzig Kilometer von Rochlitz entfernt, was gewisse Unbequemlichkeiten mit sich bringen würde, andererseits bot der Fall ein zumindest tageweises Entkommen aus dem Dunstkreis des unleidlichen Vorgesetzten. Seit Habicht Front und Lazarett überlebt hatte, neigte er dazu, sich auch über kleine Vergünstigungen zu freuen. Außerdem liebte er es, mit der Eisenbahn zu fahren. Sein Vater war ein niederer Beamter der königlich-sächsischen Staatseisenbahn gewesen und hatte dem Sohn das wache Interesse für alles vermacht, was mit Rädern, Schienen und Bahnhöfen zusammenhing. Die Stadt Penig selbst, am Kilometer 18,51 der Muldenthalbahn von Glauchau nach Wurzen gelegen, lockte ihn wenig. Eine sächsische Kleinstadt wie hundert andere. Die Bahnfahrt dorthin jedoch versprach allerlei Reizvolles.

Entsprechend enttäuscht vernahm er deshalb, was Kretzschmar abschließend brummte: «Also rufen Sie mal in Penig an, und machen Sie denen Beine. Angeblich geht es um einen gewissen vagierenden Händler …», er blickte auf das Papier, «… namens Franz Rogowski. Hört sich verdächtig polnisch an!»

«Jawoll!» Habicht schlug die Hacken zusammen. «Wäre sowieso an der Zeit, dass da unten mal jemand nach dem Rechten sieht …», fügte er im Abgehen ganz beiläufig hinzu - und hatte richtig gerechnet.

Kretzschmar blickte sinnend auf und hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. «Daran habe ich auch schon gedacht …» Er musterte den Untergebenen von Fuß bis Kopf, ob das wohl der richtige Mann für eine solche Aufgabe sei, und entschied sich positiv. Ein anderer war sowieso nicht vorhanden.

Also stieg Fritz Habicht in der Dämmerung des nächsten Morgens in ein Abteil des ungeheizten Frühzugs nach Glauchau. Vor ihm lag eine Entfernung von exakt 20,30 Kilometern. Über Narsdorf wären es siebenhundert Meter mehr gewesen, aber die Nebenstrecke war nicht halb so interessant. Sein Zug überquerte bereits kurz hinter dem Narsdorfer Abzweig das Tal der Zwickauer Mulde und fuhr über den langen Rochlitzer Viadukt. Rechts ragte das Schloss aus dem Frühnebel über dem Fluss. Die anderen Passagiere nahmen keine Notiz davon. Sie dösten vor sich hin oder lasen Zeitung. Habicht hätte gerne ein wenig mit seinen Eisenbahnkenntnissen geglänzt, spürte aber, dass sie dafür nicht das passende Publikum abgaben.

Die hohen steinernen Brückenbögen galten als das besondere Merkmal der sächsischen und thüringischen Eisenbahnen. Er freute sich schon auf den Anblick des gewaltigen Göhrener Viadukts mit seinen 21 Bögen. Vorher aber hielt der Zug in Steudten und in Wechselburg, wo die Bahnlinie ins Chemnitztal abzweigte. Die war erst zwanzig Jahre alt und der Hochwassergefahr wegen mehrfach projektiert worden, wie Habicht sich erinnerte.

Er kannte jede Einzelheit des imposanten Göhrener Viadukts, der das Muldenthal überspannte und nun endlich auftauchte. Inzwischen war es richtig hell geworden. Am liebsten hätte Habicht das Fenster geöffnet, doch das verbot sich bei der geringen Außentemperatur. Außerdem war zu seiner angenehmen Überraschung in Steudten eine junge Dame zu den fünf Männern im Coupé gestiegen, hatte sich jedoch sofort in ein abgegriffenes Leihbibliotheksbuch vertieft und schien ebenfalls nicht daran interessiert zu erfahren, dass die 68 Meter hohe Brücke mit ihren zwei Etagen 1,2

Millionen Taler gekostet hatte, insgesamt 512 Meter lang war und fast ausschließlich aus einheimischem Granit bestand. Über die Brücke verlief die Eisenbahnverbindung von Leipzig nach Chemnitz.

Viel zu schnell für Habichts Geschmack erreichte der Zug Lunzenau, schnaufte eine Weile im Bahnhof herum und zuckelte weiter über die nächste Flussbrücke und durch den fast dreihundert Meter langen Tunnel nach Rochsburg. Die Burg ragte dem Bahnhof gegenüber hinter einer Flussschleife über das Muldeufer. Wie beinahe alle Adelssitze in der Gegend gehörte sie den Schönburgern. Habicht überlegte, ob der gräflichen oder der fürstlichen Linie, und kam zu keiner Entscheidung.

Der Name des nächsten Bahnhofs war einer der Gründe, weshalb Habicht ebendiese Strecke und keine andere gewählt hatte: Amerika. Wieder einmal bedauerte er es, keinen Photoapparat bei sich zu führen, um das Stationsschild zu photographieren. Noch besser wäre es gewesen, er stünde neben dem Schild. Kretzschmar jedoch hatte die Anschaffung eines solchen Kastens nutzlosen Humbug genannt. Ein Kriminaler hätte gefälligst brauchbare Skizzen anzufertigen, das genüge allemal. Technischer Krimskrams war ihm verhasst. Selbst das Telephon gebrauchte er nur mit großer Scheu.

Habicht wusste es besser, hielt sich aber klugerweise zurück. An der Front hatte er begriffen, wie wertvoll die Luftbilder der Flieger sein konnten, wie notwendig die Fernsprechverbindungen und die drahtlosen Funksprüche. Auch auf der Polizeischule in Hainichen urteilte man keineswegs so konservativ wie der Herr Inspektor Kretzschmar. Immerhin ging der auf das Pensionsalter zu. Das blieb Habichts einzige Hoffnung.

Das Wort Amerika erwähnte man in Kretzschmars Gegenwart besser nicht. Seit vor fünfzig Jahren ein schwarzes Schaf aus seiner Familie dorthin entschwunden war, hielt er Amerika für das Land der notorischen Verbrecher und Nichtstuer, Aufschneider und Galgenvögel. Die kleine Industrieansiedlung am Muldehang kannte er kaum dem Namen nach, dass es hier sogar einen Bahnhof gab, wusste er vermutlich nicht. Habicht hingegen hatte sich für den seltsamen Ortsnamen interessiert, der entstanden war, weil die Spinnereiarbeiter früher von Penig her nur «über den großen Teich», über die Mulde nämlich, zu ihrem Arbeitsplatz gelangt waren. Wie sie sich bei dem öfter auftretenden Hochwasser beholfen hatten, war nicht überliefert.

Die Mulde führte auch jetzt reichlich Wasser, im Erzgebirge schmolz der Schnee. Als Habicht in Penig zu Fuß die Brücke überquerte, bot der Fluss ein eher friedliches Bild. Über die Brücke rasselte trotz der frühen Stunde beachtlicher Verkehr. Die Straße von Chemnitz nach Leipzig führte mitten durch die Stadt, in der Karl May einst seinen ersten erfolgreichen Betrug bewerkstelligt hatte.

Im Juli 1864, wie Habicht wusste. Die Eisenbahn hatte es damals noch nicht gegeben. Niemand hatte den flüchtigen Betrüger verfolgt.

Von der Brücke war es nur ein Katzensprung hinüber zum Markt, an dem das Rathaus lag, in dem wiederum die Polizeidienststelle ihren Sitz hatte. Habicht hatte es vorgezogen, sich am Vortag telephonisch anzumelden. Wer weiß, ob der ausgemergelte Oberwachtmeister sonst schon ansprechbar gewesen wäre. Habicht begann den Tag gerne früh, die ständigen Schmerzen in Schulter und Genick ließen ihn nie lange schlafen.

Oberwachtmeister Klopsch war ein von frühzeitigem Haarausfall gezeichneter, vigilanter Sachse, mit allen Wassern gewaschen, nie um eine Ausrede verlegen, allzeit bereit, dem Gesprächspartner zum Munde zu reden. Von dem Mord hatte er gehört, so etwas sprach sich auch über die Landesgrenze hinweg herum, obwohl er selber in seinem Leben noch nie in Wulkersbach oder einem der anderen thüringischen Nester gewesen war. Wozu auch? Der Ärger in der Sechstausendseelenstadt hielt ihn genügend in Trab, und seit im Lande die Sozis an der Macht waren - kurzer Kontrollblick zu Habicht, der reagierte nicht –, schien sowieso der Teufel los. Die kleinen Leute waren unruhig, weil es ihnen schlechtging, die großen, weil sie sich vor den kleinen fürchteten. Die Arbeiter bei Glaser, der örtlichen Kattunfärberei, wurden immer aufsässiger, die Spezialisten vom Patentpapier verhielten sich zurückhaltender, und gemaust und betrogen wurde mehr als je zuvor. Aber ein Mord? So was hatte es bei uns in Bähnsch, wie er den Ortsnamen aussprach, seines Wissens seit Jahrzehnten nicht gegeben. «Ich will nicht sagen, seit’m Prinzenraub - aber so ungefähr gommts hin.»

Der Altenburger Prinzenraub gehörte zum grenzüberschreitenden Osterländischen Heimaterbe, das Habicht geläufig war. Der Täter, Kunz von Kaufungen, stammte aus dem nur wenige Kilometer von Penig entfernten gleichnamigen Ort. Im sächsischen Freiberg hatte man ihn enthauptet: vor 467 Jahren, wie Habicht blitzschnell errechnete. Die beiden Prinzen überlebten und wuchsen zu Stiftern der ernestinischen und albertinischen Linien des Kurfürstenhauses heran. Die Albertiner blieben Kurfürsten, bis Napoleon sie zu Königen machte, die Ernestiner herrschten in den Fürsten- und Herzogtümern Thüringens, von denen schließlich drei und ein Großherzogtum übrig blieben, sämtlich das Wort Sachsen im Namen führend, so dass jeder patriotisch Denkende allein deswegen das neue Nachbarland als ursächsisches Gebiet betrachten musste. Dass der Stammvater des englischen Königshauses Albert von Sachsen-Coburg-Gotha hieß, war dabei nicht vergessen.

Die Genealogie der europäischen Fürstenhäuser war Habichts zweites Steckenpferd neben der Eisenbahn. Beide allerdings kamen natürlich erst hinter der Kriminalistik, die ihm Beruf und Berufung bedeutete.

Klopsch dagegen erwies sich als ein tumber Büttel, der es nicht einmal für nötig befunden hatte, den grenznahen Tatort der gegenwärtigen Bluttat aufzusuchen. «Wozu denn? Es hat die ganze Zeit gejaucht vom Himmel, vorher und nachher - was soll ich da im Schlamm rummährn? Wer weeß, ob die den ham nich andernorts erstochen und schieben uns de Leiche zu!»

Das Argument kannte Habicht von seinem Vorgesetzten. Er ging nicht darauf ein. Vielmehr erkundigte er sich nach dem im Altenburger Schreiben genannten Händler Franz Rogowski.

Klopsch lief rot an. «Was woll’n Sä denn ausgerechnet von däm?»

Habicht horchte auf. «Er ist also hierorts polizeibekannt?» Der Oberwachtmeister zögerte. «So kann man das eigentlich nicht sagen …»

«Sondern?»

Klopsch hob seine knochigen Schultern in einer ungewissen Bewegung. «Wie soll man das ausdrücken …»

Habicht sah ihn durchbohrend an. «Na, möglichst präzise, bitte! Was ist mit dem Mann los?»

«Nichts. Nichts Besonderes.» Eilfertig schüttelte Klopsch sein kahles Haupt. «Er macht Geschäfte. Weiter nichts.»

«Mit wem macht er Geschäfte?»

Da Klopsch nicht sofort antwortete, keimte in Habicht ein Verdacht. «Auch mit Ihnen?», fragte er scharf.

Wieder errötete Klopsch. «In diesen Zeiten … Jeder muss heutzutage zusehen, wo er bleibt …»

«Also ein Schleichhändler», stellte Habicht nüchtern fest.

«Was bietet er denn an?»

«Nej nej, so is das nich! Der macht eigentlich nur so größere Geschäfte, Maschinen oder so ä was …»

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