Kitabı oku: «Kālī Kaula», sayfa 3
Kapitel 1
Dakṣas Fest
Es war einmal:
In der Zeit vor der Zeit nahm die höchste Śakti (Parāśakti) drei Formen an: Sarasvatī, die Brahmās Frau wurde, Lakṣmī, die Viṣṇus Gefährtin wurde, und Gaurī, die Goldene, die Geliebte von Śiva. Dann geschah das Übliche. Wie so oft erscheint da ein Asura oder Dānava, der zu ehrgeizig wird. Asuras und Dānavas gehörten in der Vorzeit zu den respektablen Götterfamilien, wurden aber mit dem Beginn des modernen Hinduismus in dämonische Gegen-Götter verwandelt. Wie die Götter (Devas) hat das Volk der Dämonen den Wunsch nach Befreiung, und manchmal nehmen sie die spirituelle Disziplin sehr ernst. Dies war der Fall bei den Halāhalas, einer besonders ehrgeizigen Gruppe von Dānavas. Sie trieben die Askese bis ins Extreme, sie übten sich in Beschränkungen, sie praktizierten Tag und Nacht hindurch, und schließlich musste Brahmā, der Schöpfer, ihnen spirituelle Kräfte gewähren. Was keine besonders weise Idee war. Brahmā ist allerdings bekannt für unbedachte Taten, egal, wie oft sie die Götter in Schwierigkeiten bringen. Die Halāhalas sagten Brahmā ‘Danke!’ und machten sich auf, das Universum zu erobern. Bald beherrschten sie die drei Welten des Himmels, der Erde und der Unterwelt, sie erstürmten sogar den Berg Kailāsa, stürzten Śiva und besetzten die Regionen in der Unterwelt. Angesichts solcher Katastrophen rüsteten sich Viṣṇu und Śiva zum Krieg. Brahmā tat nichts dergleichen. Er lehnte sich lediglich zurück und hoffte, dass die Anderen die Dinge schon in Ordnung bringen würden. Und die Götter taten es. Viṣṇu zog in Begleitung seiner himmlischen Truppen in die Schlacht und Śiva ebenso, dessen Truppen nicht ganz so himmlisch waren. Der Krieg dauerte 60.000 Jahre. Als der letzte Halāhala in die Flucht geschlagen war, kehrten die Götter müde, erschöpft und angeschlagen zu ihren Gemahlinnen zurück. Sie nahmen ihre Rüstungen ab, legten ihre Waffen beiseite, nahmen ein Bad und einen guten Trunk und begannen zu prahlen. ‘Wir haben sie geschlagen’, verkündete Viṣṇu. ‘Wir haben sie völlig vernichtet!’ erklärte Śiva. ‘In allen Welten kann niemand gegen uns bestehen!’
‘Keiner von euch bringt ohne uns irgendetwas zustande!’ erwiderten die Gemahlinnen. ‘Wer gab euch die Kraft zu kämpfen? Wer könnte je ohne Śakti kämpfen?’ ‘Nun kommt schon’, sagten die Götter. ‘Wir haben das doch ganz gut erledigt, oder?’ Die Göttinnen brachen in Gelächter aus. ‘Sicher’, erwiderten die Devīs, ‘und nun werdet ihr erfahren, wie weit ihr ohne uns kommt.’
Und ohne ein weiteres Wort verschwanden Lakṣmī und Gaurī.
Die Götter waren sprachlos. Sie begannen zu weinen. Sie beweinten ihren Verlust, sie verloren ihre göttliche Ausstrahlung, sie taumelten wie Verrückte durch die Welt. Ihre Kraft (Śakti) verschwand und damit auch ihre Funktion im Universum. Als Brahmā dies sah, wurde er sehr besorgt. Er wusste, dass in nicht allzu langer Zeit ein weiterer Haufen von Dānavas erscheinen würde, und er wusste noch besser, dass er, allein auf sich gestellt, keine Chance gegen sie hätte. In seiner Furcht schloss er die Augen, wandte sich nach Innen und sank hinab in den heiligen, leeren Raum des Herzens. In der alles erschaffenden Höhle der Absoluten Realität erfuhr er, dass die Höchste Energie (Parāśakti) wütend auf die Götter war und ihren Segen von ihnen genommen hatte. Und Brahmā wurde klar, dass er für drei arbeiten musste. Wenn Viṣṇu verrückt und Śiva verwirrt war, musste er deren Ämter als Bewahrer und Zerstörer übernehmen – und, als Schöpfungsgott, lag ihm das überhaupt nicht. Die anderen Götter waren genauso erschüttert. Dann lud der uralte Gott Dakṣa die Gottheiten, Seher und himmlischen Asketen zu einem Beschwichtigungsritus ein. Sie gingen zu den Hängen des Himalaya und sangen 100.000 Jahre lang ‘Hrīṁ’, bis die höchste Göttin erschien. Parāśakti manifestierte sich in ihren Herzen in Form von Sein, Intelligenz und Glück. Sie hielt die Schlinge und den Elefantentreibstock; ihre anderen beiden Hände beschrieben die Zeichen, die Furcht vertreiben und Segen spenden. Die Götter und Weisen priesen sie, und endlich antwortete sie auf ihre Sorgen.
‘Hört’, sprach die Göttin, die in der Form von Mahāmāyā/Bhuvaneśvarī erschienen war, ‘der Wahnsinn der Götter wird bald vergehen. Lakṣmī wird wiederkehren, wenn der Milchozean gebuttert wird, sie wird mit dem Elixier der Unsterblichkeit wieder entstehen. Gaurī wird bald wiedergeboren, und es wird in Dakṣas Familie sein.‘ Die Versammlung war begeistert, dies zu hören, vor allem der alte Dakṣa, der in den vedischen Zeiten ein Hauptgott gewesen war, dessen Bedeutung aber im Laufe der Jahre stark verblasst war.
Nun ging der Seher Durvāsā eines Tages zum Fluss Jambū, um zu meditieren. Vielleicht war es kein Glückstag. Er sah die höchste Śakti auf der Flussbank. Um seine Sinne unter Kontrolle zu halten (war die Göttin nackt?), rezitierte er ihr Bīja ‘Hrīṁ’, und dies gefiel der Göttin. Sie näherte sich dem Seher und gab ihm eine Girlande aus Jasmin, so süß, dass zahlreiche Bienen um die Blüten schwärmten. In seinem Glück legte sich der Seher die Girlande auf den Kopf und ging, Dakṣa zu besuchen. ‘Was für eine wunderbare Girlande ist das?’ fragte Dakṣa. ‘Möchtest Du sie haben?’ erwiderte Durvāsā großzügiger als für ihn gut war. ‘Alles in den drei Welten mag einem gegeben werden, der Śakti ergeben ist.’ ‘Ich nehme sie mit Freuden an’, sagte Dakṣa. Er nahm die Blüten und legte sie auf sein Kopfkissen. In jener Nacht duftete der Jasmin so süß, dass der alte Gott nicht schlafen konnte. Begehren ergriff ihn, Hitze und Sehnsucht. Er wälzte sich auf seinem Lager umher, der Schlaf entfleuchte, und schließlich erhob er sich und hatte Verkehr. Bald darauf gebar Dakṣas Frau eine Tochter. Alle Götter ließen Blüten vom Himmel herab regnen, die Sonne schien hell, und die Flüsse begannen wieder zu fließen. Das Mädchen wurde Satī (die Tugendhafte) genannt, und ihre Wesensart war die des höchsten Brahman (Allbewusstsein) und der Wahrheit selbst.
Satī wuchs heran, und bald war sie alt genug, um Śiva zu heiraten. Der bloße Gedanke daran machte Dakṣa wahnsinnig. Er wollte seine Tochter nicht hergeben, er wollte nicht, dass die inkarnierte Göttin sein Haus verließ, und das Letzte, was er wollte, war, sie mit einem Gott zu verheiraten, der nackt herumlief, Dope rauchte und Askese auf Bergen und in Dschungeln übte, wo keine vernünftige Person jemals sein wollte. Śiva, der Unreine, der Schädelträger, der irre Tänzer am Rande der Wirklichkeit. Dakṣa hasste Śiva, er hasste den Gedanken daran, dass seine Tochter ihn verlassen würde, aber im Grunde konnte er nichts dagegen tun. So wurde Śiva trotz manch wütender Debatte an Dakṣas Hof eingeladen. Dort heiratete der mit Asche beschmierte Gott der Asketen die schöne Satī, dann gingen die beiden und bezogen ihr Heim auf den höchsten Bergen. Manche sagen, sie machten 100.000 Jahre lang Liebe.
Eines Tages erfuhr Satī, dass ihr Vater ein großes Fest ausrichtete. Alle Götter waren eingeladen, die Gandharvas würden singen, die Apsarase würden tanzen, und es würde Trinken, Spaß und Belustigung geben. Jede wichtige Gottheit war eingeladen, außer Śiva und ihr selbst. Nun war Satī aber ganz und gar nicht froh darüber, so übergangen zu werden. Sie war immer noch verärgert, weil ihr Vater so ein Problem aus ihrer Hochzeit gemacht hatte, und nun noch ärgerlicher, weil er ihren Mann und sie so kränkte. ‘Ich werde zu diesem Fest gehen’, erklärte Satī, ‘ob wir nun eingeladen sind oder nicht.’
‘Ist es das wert?’ erwiderte Śiva, der sich im Dschungel wohler fühlte als in der gehobenen Gesellschaft. ‘Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen es uns schön?’
‘Wir werden hingehen!’ schrie Satī. ‘Und wenn Du nicht mitkommst, dann gehe ich allein! Ich werde meinem Vater schon zeigen, was ich von ihm halte!’
‘Du bringst Dich in Schwierigkeiten’, sagte Śiva voraus. ‘In Deiner Stimmung wird es Schwierigkeiten für alle geben.’
‘Ich werde hingehen’, erklärte Satī, ‘ob es Dir gefällt oder nicht.’
Und so geschah es. Es war tatsächlich ein schlechter Tag, als Satī zum Haus ihres Vaters kam, ihr Gesicht rot vor Wut. Dakṣa hatte schon so etwas erwartet. Als er erfuhr, dass seine Tochter gekommen war, weigerte er sich, sie zu begrüßen und ihr Ehre zu bezeigen. Das war ein Fehler.
In ihrer Wut verwandelte sich Satī in Kālī. Ihr Antlitz wurde schwarz, sie verfluchte ihren Vater, das Fest und die Opfergaben, und zuletzt verbrannte sie sich selbst in yogīschem Feuer. Sie verschloss die neun Tore ihres Körpers, ihr Geist wurde zu Feuer, ihr Körper brach zusammen, und ihr befreiter Geist entschwebte. Dann betrat Śiva die Szene. Als er seine Frau tot sah, durchfuhr ihn rasender Zorn und manifestierte Dämonen, Monster und böse Geister. Kreischend vor Freude fielen sie über den heiligen Boden her. Sieh Śiva in seiner Wut! Die Gäste schrien, als ihre Opfer zerstört, verbrannt, zertrampelt, ausgelöscht, geschändet wurden, und Dämonen auf den Tischen tanzten. Mit einem Schlag enthauptete Śiva den Vater seiner Braut. Er nahm den Kopf einer Opferziege und steckte ihn auf Dakṣas Hals, so dass Dakṣa von jenem Tage an so aussieht wie der Bock, der er wirklich war. Dann wurde das Heiligtum zerstört, ganz und gar zerstört, und nichts blieb, wie es war. Und Śiva hob den Körper seiner Frau auf. Ihre Leiche tragend, taumelte er vom Ort der Verwüstung und Vernichtung fort und kehrte in die Einsamkeit der Berge zurück.
Großes Übel befiel die Welt. Wie jemand, der von Sinnen, sprachlos und wahnsinnig ist, ging Śiva in Einsamkeit dahin, den toten Leib seiner Gefährtin auf den Schultern. Zwischen den frostigen Gipfeln der höchsten Berge, entlang der eisverkrusteten Ränder der größten Flüsse und in der Dunkelheit des Bergwaldes, zwischen Kiefern, Fichten und Rhododendron. Wo immer er ging, fielen seine Tränen nieder, und er fand keinen Ort, um den Körper seiner Frau zur Ruhe zu betten.
Bald begannen sich die Götter zu sorgen. Wenn Śiva weg war, was würde nun aus ihnen allen werden? Götter haben Verpflichtungen; sie müssen die Gebete ihrer Verehrer anhören, sie müssen Opfergaben entgegennehmen und denjenigen, deren Karman reif ist, Glück und Befreiung gewähren. Sie müssen die Ordnung der Welt erhalten und die dämonischen Asuras unter Kontrolle halten. Viṣṇu allein war zu der Arbeit nicht imstande, und Brahmā konnte nur wenig Beistand bieten. So gingen die Götter zu Śiva und baten ihn, den Körper seiner Frau zurückzulassen. Doch Śiva war so vom Kummer überwältigt, dass er sie nicht verstehen konnte. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Frau tot war und verweste, er kümmerte sich nicht um seine Verehrer oder um die kosmische Ordnung, noch wollte er den Devas zuhören.
So schmiedeten die Götter einen klugen Plan. Wenn Śiva jeden Tag umherwanderte, die Leiche von Satī auf seinem Rücken, saß Viṣṇu im Hinterhalt. Wann immer der Gott des Tanzes von Tränen überwältigt wurde, warf Viṣṇu sein Cakra. Der Diskus jagte schneller als ein abgeschossener Pfeil durch die Luft, schneller als ein Lichtstrahl, und schnitt ein Glied von Satīs Leiche ab. So wanderte Śiva, aber mit jedem Tag wurde seine Last leichter. Tag für Tag zog er seine Runde durch Indien, und jeden Tag fiel ein Teil der Göttin ab und in Vergessenheit. Das Gesicht der Göttin fiel auf Kāśī, die Yoni auf Kāmarūpa, ihre Füße auf Devīkūṭa, ihre Hüften auf Uḍḍīyāna; in 108 Teile wurde ihr Körper zertrennt. Jeder Teil der Göttin wurde zu einem geweihten Ort (Pīṭha), einer Stätte der Verehrung, einem Sitz der Macht, und einem Pilgerziel, an dem sich Bewusstsein und Energie manifestieren. Schließlich wurde Śivas Schritt wieder fest, und sein Blick klärte sich. Er sah das weite Land Indiens unter seinen Füßen, die majestätischen schneebedeckten Berge im Norden, die ockerfarbenen Wüsten im Westen, die Dschungel und Sümpfe im Osten und den funkelnden blauen Ozean im Süden, wo Inseln wie Smaragde lagen und Wale in den Wellen spielten. Śiva hielt inne und staunte. Der Bann war gebrochen, Satī war gegangen, aber überall im Land waren heilige Stätten aufgetaucht. Wo immer ein Teil von Satī herabgefallen war, lud ein Pīṭha die Pilger, Einheimischen und Asketen zur Verehrung der Göttin ein, die ganz Indien geworden war. Man sagt, dass 108 heilige Stätten aus den Teilen von Satī geboren wurden, doch für diejenigen, die Augen haben, um zu sehen, erstreckt sich die Göttin über das ganze Land. Satī, weit davon entfernt, tot zu sein, war zur Gänze der Welt geworden.
Ewigkeiten vergingen. Dynastien begannen und endeten, große Königreiche entstanden und fielen wieder der Vergessenheit anheim, Asuras und Devas bekämpften sich, und das Leben ging weiter wie immer. Śiva, an Einsamkeit gewöhnt, ging oft in die großen Berge, um die kalte frische Luft zu genießen, die funkelnde diamantene Schönheit der Schneefelder, und das sanfte Wachstum sich wiegender Birken in Höhen, in die nur wenige Menschen gingen. Hier im Land der Moschushirsche, Bergziegen und Schneeleoparden fand der Herr der Asketen seinen inneren Frieden. Wann immer er konnte, stieg Śiva auf seine geliebten Höhen, um die Welt und sich selbst zu vergessen. Nun hat der Himalaya einen König, den Herrn der Berge Himavat (Schneeberg). Er ist der Herrscher der Höhen und der großzügige Spender von Wasser. Von seinem Hof entspringen die großen Flüsse – Flüsse, die den Bewohnern der Ebenen Leben und Nahrung spenden. Und Himavat hatte eine Tochter. Ihr Name war Pārvatī (Berggeborene), und anders als die meisten Götter und Göttinnen liebte sie lange Wanderungen durch einsame Täler und auf Berggipfel. Eines Tages traf Pārvatī Śiva. Der Herr der Asketen saß auf einem Tigerfell, nackt bis auf die Perlenschnüre und Schlangen, die um seinen Hals und Arme geschlungen waren, seine halbgeschlossenen Augen erfüllt von der Weisheit des Unbeschreiblichen. Pārvatī sah Śiva und fühlte, wie ihr Geist in Stücke brach. Vor langer, langer Zeit war sie Gaurī gewesen, dann Satī, und die Erinnerung brach in ihr Bewusstsein wie die Lawinen, die im Sommer die Hänge herabstürzen. Scheu näherte sie sich Śiva und sprach ihn an. Śiva war jedoch weit außerhalb seiner selbst und hörte sie nicht. Pārvatī sprach noch einmal, sie kam näher, sie berührte den Asketen, und noch immer konnte sie seine Trance nicht unterbrechen. Śiva blieb unbeweglich wie eine Säule aus Stein, unaufmerksam, mit dem abwesenden Ausdruck eines Wesens, das nach innen gewandt ist. Pārvatī gab jedoch nicht auf. Die Tochter der Felsen sandte einen Ruf, ein Gebet an Kāma (Begierde), den Gott der Lust, Liebe und des Verlangens, jener alte Wesenheit, die die Schöpfung selbst hervorgebracht hatte. Kāma erschien sofort und lachte. Hier saß der Herr der Asketen, nicht ahnend des Schicksals, das Karman für ihn bestimmte. Was für ein Ziel! Das war genau die Art von Spaß, die Kāma suchte. Schnell erhob er seinen Bogen aus Blumen. Er zielte mit den fünf Pfeilen der Sinne. Er murmelte einen Mantra und schoss.
In diesem Moment erwachte Śiva. Sein drittes Auge der Absoluten Wirklichkeit öffnete sich, das Auge, das Ignoranz, Verwirrung und Verblendung zerstört. Das Feuer der Wahrheit ließ Bogen und Pfeile in Flammen aufgehen. Sein Blick traf Kāma, und Kāma sagte ‘Autsch!’ und löste sich auf. Wie ein feiner Ascheregen rieselte der Gott des Verlangens und der Lust auf den Boden und war nicht mehr.
Dann sah Śiva Satī, und als ihre Augen sich begegneten, kehrte die Erinnerung zurück. Sie erkannten sich, und in diesem zeitlosen Moment hielt die Welt den Atem an. Dann erschienen die anderen Götter. Götter sind normalerweise neugierig, und wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, sind sie gern dabei, und wenn auch nur, um zu lachen. Der Anblick von Śivas und Pārvatīs Wiederkennen – ja, das war eine gute Neuigkeit! Aber was war das? Was war das für ein jämmerlicher Aschenhaufen auf dem Boden? Die Götter erkannten es, und Tränen begannen aus ihren Augen zu fließen. Hier war die Asche des Verlangens, der Lust und der Liebe. Vergangen war der Gott, dessen niemals endender Charme das Universum in Bewegung gehalten hatte. Rati (Wollust), seine Frau, kam zuerst wieder zu Sinnen. ‘Du hast ihn umgebracht!’ schrie sie Śiva an.
‘Entschuldigung, ich habe nicht gesehen, wer er war’, erwiderte der Gott der Asketen. ‘Das war nur ein Unfall …’
‘Na gut, dann lass ihn wieder auferstehen’, erwiderte Rati, und die anderen Götter stimmten zu, da sie sich vor einer öden, langweiligen Welt ohne Verlangen und Lust grausten. Śiva zuckte die Schultern. Er richtete seinen Blick auf den Aschenhaufen und ließ die Illusion der Begierde in die Welt zurückkehren. Und Kāma erhob sich, wiedergeboren aus der Asche der Enttäuschung und dem Blick des Allsehenden. Aus Śivas Ojas (Vitalität) wurde Kāma wiedergeboren, vibrierend vor Leben und froh, die Welt erneut zu umarmen. Und Kāma lachte. Von allen Göttern wusste er am besten, was jetzt kommen würde. Śiva sah Pārvatī an, und Pārvatī sah Śiva an, ihre Augen trafen sich, und Verlangen erwuchs zwischen ihnen. Als die Götter gingen, umarmten sich die beiden immer noch. Sie hatten die Ewigkeit, um sich zu vereinigen.
Anmerkung für Neugierige:
Diese Geschichte gehört zum Kern des tantrischen Mythos. Sie taucht in zahlreichen Versionen auf. In dieser vereinfachten Version habe ich Elemente aus verschiedenen Quellen vermischt, hauptsächlich aus dem DBh (7,29-31). Bevor Du in diesem Buch weiterliest, lies die Geschichte noch einmal. Dann erzähle die Geschichte ein paar Mal Dir selbst, und später allen, die freiwillig zuhören. Dies ist eine wunderschöne Tranceübung. Bei jeder Wiederholung wird die Geschichte lebendiger werden. Gib der Geschichte Leben, mach Dir große, bunte Bilder, füge Details hinzu und lege starke Gefühle hinein. Gute Geschichten brauchen ehrliche, intensive Gefühle, klares Denken und (wenn möglich) einfache Sätze. Wenn Du die Geschichte lebendig werden lässt, wirst Du feststellen, dass sie einen Zauber bewirkt. Dies ist die Geschichte einer Initiation, und Du kannst sie zu Deiner machen.
Kapitel 2
Vor dem Tantra
Lass mich Dich zu einer Reise durch die Zeit einladen. Es ist auch eine Reise durch die vereinfachte Fiktion, die die Leute Geschichte nennen, und eine Reise durch die Möglichkeiten des Glaubens und religiösen Verhaltens. Zugegeben, manche Leser werden jetzt fragen, warum wir nicht sofort mit Kālī loslegen. Das wäre machbar. Das Ergebnis wäre ein wesentlich kürzeres Buch, welches voll von Gelegenheiten für Missverständnisse wäre. Denn dummerweise kann man die Götter einer Kultur nicht verstehen, ohne vorher eben diese Kultur intensiv kennen zu lernen. Und genau hier beginnt der Tanz von Lakṣmī. Wo Kālī Befreiung bringt, offenbart Lakṣmī die Freude, Fülle und Schönheit der ganzen Welt. Die beiden gehören eng zusammen; und eine ist ohne die andere nicht zu verstehen. Und deshalb beginnen wir, indem wir Tantra ganz allgemein kontextualisieren. Die Wurzeln von Tantra reichen sehr tief. Daher beginnen wir mit dem Anfang der indischen Geschichte. Wenige Länder bieten ein solch reichhaltiges Feld der religiösen Entwicklung wie das alte Indien. Nun magst Du mit dem Thema gut vertraut sein, die Veden gelesen haben, die wesentlichen Upaniṣaden kennen und ein gutes Grundlagenwissen der Literatur des frühen Hinduismus haben. Wenn das nicht der Fall ist, wird etwas Hintergrund hilfreich sein. Das folgende Kapitel bietet eine stark vereinfachte Darstellung der religiösen Entwicklung im alten Indien bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u.Z., als die ersten bekannten Werke der tantrischen Literatur verfasst wurden. Tantra tauchte nicht aus einem Vakuum auf. Es fiel nicht fertig vom Himmel. Jeder Erneuerer, egal wie innovativ und originell, baut auf dem auf, was frühere Erneuerer erschufen. Erneuerung kann kreative Neuerfindung bedeuten. Sie kann Anpassung, Neuinterpretation und Kombination mit neuen Zutaten bedeuten, und meist beinhaltet sie eine Menge Synkretismus und bedarf des Muts zur Originalität. Es gab hunderte von tantrischen ‚Schulen‘ (wenn ich diesen irreführenden Ausdruck verwenden darf) im Laufe der Geschichte, von denen die meisten heute ausgestorben sind, und jede von ihnen nahm ihren Anfang, als ein paar unzufriedene Leute beschlossen, die Sache zu verbessern. Selbst diejenigen, die eine Tradition ablehnen, reagieren auf sie. Die Geschichte von Magie und Religion ist nicht nur eine Geschichte von Traditionen, sondern auch von kreativer neuer Erfindung und Erkenntnis. In den nächsten Seiten lernst Du die Materialien kennen, aus denen Tantra gewoben wurde. Du wirst auch die Philosophien finden, die die Tantriker aus dem einen oder anderen Grund ablehnten, und Einsicht in die menschliche Suche nach Kontakt und Einheit mit dem Göttlichen bekommen. Für alle anspruchsvollen Leser möchte ich hinzufügen, dass die nächsten Seiten nur eine kurze, simple Zusammenfassung bieten. Ich musste eine Menge faszinierendes Material auslassen und das Komplexe vereinfachen: Kurz gesagt, gibt es hier viele Halbfakten und Fehldarstellungen. Um diese offensichtlichen Mängel zu beheben, bitte ich Dich, Deine eigenen Recherchen anzustellen. Verallgemeinerungen sind Lügen, und wenn man mehrere tausend Jahre höchst komplexer Aktivitäten auf ein paar Seiten kondensieren muss, werden das Einzigartige, das Ungewöhnliche und Ausnahmen von den Regeln leicht übersehen. Es gibt Ausnahmen, erinnere Dich daran – indische Religionen sind voll davon. Aus Platzgründen kann ich auch nicht für jedes kleine Detail Quellen angeben. Im Allgemeinen halte ich mich an Glasenapp (1958), Gonda (1960) und Franz (1991). Wenn nicht anders angegeben, sind Zitate aus dem Ṛg Veda (ṚV) nach Griffiths Übersetzung angeführt und Zitate aus dem Atharva Veda nach Whitneys Wiedergabe. Die Upaniṣaden sind nach Radhakrishnans Übersetzung zitiert.
Bild 3
Mesolithische Felskunst.
Oben rechts und links: Zwei Darstellungen aus Pachmarhi, Madhya Pradesh. Das linke Bild ist ein tierisch-menschlicher Tänzer, vielleicht ein gestaltwandelnder Zauberer, die Figur auf der rechten Seite trägt eine erstaunliche Vorrichtung aus Schädeln und ein Lendentuch aus Tierfell; vielleicht ein früher Ahne der Schädel tragenden Gottheiten.
Unten: Ritual oder Tanz mit Gestaltwandlern, Bhimbetka, Madhya Pradesh.
Nach Mode und Chandra.