Kitabı oku: «Lesen in Antike und frühem Christentum», sayfa 16
Ferner sei noch auf einen Eintrag im spätantiken, aber nicht eindeutig datierbaren Lexikon von Hesychios verwiesen, der einen γραμματεύςγραμματεύς definiert als „der LeserLeser; ein BuchstabenBuch-stabe gut Sehender (ὁ ἀναγνώστηςἀναγνώστης. γράμματαγράμματα εἰδὼς καλῶς)“ (Hesych.Hesychios 891). Angesichts des unter 3.1.6 besprochenen semantischen Befundes sollte man den Bedeutungsgehalt von ὁ ἀναγνώστης hier keinesfalls auf „der VorleserVorleser“ einengen. Bei einem γραμματεύςγραμματεύς handelt es sich in den Quellen ja eindeutig um jemanden der sowohl mit dem SchreibenSchreiben als auch mit der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Rezeption als auch mit dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt von Texten betraut ist.30 Entsprechend erklärt er das Verb γραμματεύειν mit den Verben γράφειν und ἀναγινώσκειν (Hesych. 890).
Auch in der lateinischsprachigen Literatur finden sich zahlreiche Stellen, an denen Lesen visuellvisuell konzeptualisiert ist,31 sogar explizit die Reflexion, dass visuell orientiertes Lesen dem Zugang über das OhrOhr überlegen ist.32 Im Folgenden soll aber nur noch eine dieser Stellen exemplarisch besprochen werden. Seneca thematisiert in einem seiner Briefe an LuciliusLucilius den Unterschied zwischen der Rezeption eines Textes beim mündlichen Vortrag auf der einen Seite und dem Lesen eines Textes in schriftlicher Form:
„und fast immer bereitet das, was im mündlichen Vortrag aufgrund seiner Lebendigkeit gefällt, weniger Vergnügen, wenn es schriftlich vorliegt; aber auch das ist schon viel, wenn die Lektüre auf den ersten Blick fesselt, auch wenn man beim genauen Hinsehen etwas findet, woran man Anstoß nehmen kann (Sed illud quoque multum est primo aspectu oculos occupasse, etiam si contemplatio diligens inventura est quod arguat)“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 100,3, Üb. FINK).
Die Lexeme aspectus und oculus zeigen eindeutig, dass das Lesen hier visuellvisuell konzeptualisiert ist und damit auch das Lesen (legolego) der BücherBuch des Fabianus Papirius mit großer Begierde in Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 100,133 rückblickend näher als ein solches bestimmt wird. Darüber hinaus meint in diesem Kontext das Verb contemplatio (das Hinrichten des Blickes auf etwas)34 – v. a. in Zusammenhang mit diligens (aufmerksam, gründlich, gewissenhaft)35 – eine intensiveAufmerksamkeitvertieft, individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Auseinandersetzung mit einem Redemanuskript. Vorausgesetzt ist dabei auch, dass der Text iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesen wird.
Zuletzt sei nun noch auf einige Quellen verwiesen, in denen Lesen zwar nicht mit einem verbum vivendi benannt wird, die aber eindeutig zeigen, dass das AugeAugen als Leseorgan verstanden wurde. Bei Platon findet sich eine Stelle, an der BuchstabenBuch-stabe wie beim AugenarztAugen-arzt als eine Art SehtestSehtest gelesen werden (Plat.Platon polit. 2,368d). Bei PlutarchPlutarch findet sich ein ausführliches Gespräch darüber, warum ältere Menschen Texte weit von den Augen weghalten, um sie lesen zu können (Plut. symp. 1,8,1–4 [insb. mor. 625d/e]). Plinius d. Ä. zitiert, „damit es überall [scil. in seiner Naturgeschichte] gelesen wird“ (Plin. nat.Plinius der Ältere 31,3,7), ein Epigramm von Ciceros freigelassenem SklavenSklave Laurea Tullus. Darin finden sich die folgenden Zeilen: „Der Ort hat wahrlich zu Ciceros Ehre dies gespendet/als er die kräftige Wirkung der Quelle erschloß/damit, da er von der ganzen Welt ohne Ende gelesen wird (quoniam totum legiturlego sine fine per orbem),/es an Wasser nicht mangelt, welche die Augen heilen“ (Plin. nat. 31,3,8; Üb. R. KÖNIG). Plinius d. J. gibt als Grund dafür an, dass er sich der Lektüre (lectiolectio) enthalte und nur mit den OhrenOhr studiere (solis auribus studeo, vermutlich mit Hilfe eines VorlesersVorleser), weil er Rücksicht auf seine schwachen Augen nehme (Plin. ep.Plinius der Jüngere 7,21,1). Diese Stelle zeigt eindeutig, dass die Nutzung eines Vorlesers nicht der Normalfall beim Lesen war, sondern mit spezifischen Bedürfnissen zusammenhing. Martial thematisiert das Ermüden der Augen in Zusammenhang mit der Farbe des Schrifthintergrundes (Mart.Martial 16,5). Bei Aulus GelliusGellius, Aulus findet sich das (hier freilich nur als Vorwand angeführte) Motiv, dass die Augen vom ununterbrochenen StudiumStudium in der Nacht (lucubratiolucubratio) verderben, wobei aus dem Kontext deutlich wird, dass es ums Lesen geht (Gell. 13,31,10–12).36 PorphyriosPorphyrios bezeugt, dass die Sehfähigkeit PlotinsPlotin für die Lektüre seiner eigenen Texte zu stark eingeschränkt war.37
Ferner ist im Rahmen dieses Unterkapitels noch darauf hinzuweisen, dass entsprechend des inneren Hörens auch das innere SehenSehen im Kontext von Leseprozessen in der Antike belegt ist.38 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine LeseszeneLese-szene bei Dion ChrysostomosDion Chrysostomos, dem es nach seinen morgendlichen Verrichtungen nach dem Frühstück danach ist, TragödienTragödie zu lesen (καὶ μικρὸν ἐμφαγὼν ἐνέτυχον τραγῳδίαις τισίν; Dion Chrys. or. 52,1), die er explizit benennt und vergleichendLesenvergleichend liest:39 Philoktetes von SophoklesSophokles, Aischylos und Euripides (vgl. Dion Chrys. or. 52,2 f). Seine LeseerfahrungLese-erfahrung reflektiert er dabei wie folgt:
“So I was feasting my eyes on the spectacle portrayed by these dramas (Οὐκοῦν εὐωχούμην τῆς θέας) and figuring to myself that, even if I had been in Athens in those days, I could not have witnessed such a contest as this of those distinguished poets. […] Accordingly, I played choregus for myself in very brilliant style and tried to pay close attention, as if I were a judge passing judgement on the premier tragic choruses“ (Dion Chrys. or. 52,3 f; Üb. COHOON).
Bei Dion läuft während der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre eine innere Aufführung der genannten TragödienTragödie ab. Er lässt ein „Bewußtsein der ubiquitären und überzeitlichen Verfügbarkeit der Texte“40 erkennen, die er als großen Vorteil der Lektüre gegenüber der Rezeption im TheaterTheater hervorhebt. Als Verb verwendet er hier mit εὐωχέω (Akt.: gut bewirten; Med.-Pass.: sich sättigen, schmausen) eine innovative und ausdrucksstarke Speisemetapher. Damit ist ein weiteres, in der Antike variantenreich und breit bezeugtes metaphorischesMetapher Konzept benannt, das Lesen konzeptualisiert und nun im Folgenden zu besprechen ist.
3.9 Lesen als Essen und Trinken
Verbreitet sind zuletzt MetaphernMetapher des Essens und Trinkens, auf die an der einen oder anderen Stelle schon hingewiesen wurde und mit denen das Lesen bzw. die Rezeption von Texten konzeptualisiert wird – metasprachlich lässt sich dieses weit verbreitete Konzept konventionalisiert als ESSEN/TRINKEN IST LESEN beschreiben.1 Speise- und Trankmetaphorik ist allerdings nicht dem Lesen von Texten exklusiv vorbehalten, sondern wurde schon seit klassischer Zeit,2 aber vor allem in jüdischerJudentum (insbesondere rabbinischerrabbinisch) und christlicher Literatur auch für die Rezeption mündlicher LehreLehre verwendet;3 z. T. ist die Abgrenzung schwierig, da der Kontext der jeweiligen Quelle keine Schlussfolgerungen zulässt.4 Dies muss im Rahmen dieser Studie jedoch nicht weiter vertieftAufmerksamkeitvertieft werden. Es ist im Rahmen dieser Studie auch nicht möglich, die Lesemetaphern des Essens und Trinkens in der griechisch- und lateinischsprachigen Literatur systematisch und vollständigUmfangvollständig zu erfassen und auszuwerten. Angesichts der Vielzahl von möglichen Lexem- und Motivkombinationen sowie der Vielfalt von grammatikalischen Konstruktionen, denen das Konzept ESSEN/TRINKEN IST LESEN zugrunde liegt, wäre dies Aufgabe für eine eigene Studie. Im Folgenden werden daher lediglich ausgewählte, aussagekräftige Quellenbelege anzuführen sein, die exemplarisch im Hinblick auf die Frage hin auszuwerten sind, welche Rückschlüsse sie auf antike LesepraktikenLese-praxis zulassen.
Schon in Aristophanes’ Die Acharner (Ἀχαρνῆς) meint die Formulierung καταπιὼν Εὐριπίδην (Aristoph.Aristophanes Acharn. 484) wohl die Rezeption seiner TragödienTragödie. Analog findet sich bei Lukian in seinem Stück Der tragische Jupiter (Ζεὺς Τραγῳδός) die Formulierung „den ganzen Euripides ausgetrunken/heruntergestürzt zu haben“ (τὸν Εὐριπίδην ὅλον καταπεπώκαμεν; Lukian.Lukian von Samosata Iupp. trag. 1,20). Damit wird im Kontext ausgedrückt (resultativer Aspekt des Perfekts), dass man die Stücke des Euripides nicht vollständigUmfangvollständig ausgetrunken, d. h. „ausgelesen“ haben kann, weil er mutmaßlich zu gehaltvoll dazu ist.
In der für unecht gehaltenen Platonschrift Hipparchos wird das Lesen der Sprüche des Hipparchos, die in inschriftlicherInschriften Form am Wegesrand stehen und von den Vorbeigehenden mutmaßlich individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen werden (παριόντες ἄνω καὶ κάτω), mit dem Kosten seiner Weisheit parallelisiert (καὶ ἀναγιγνώσκοντεςἀναγιγνώσκω καὶ γεῦμα λαμβάνοντες αὐτοῦ τῆς σοφίας; [Ps.]-Plat.Platon Hipparch. 228e). In einem bei Athenaios überlieferten Fragment einer KomödieKomödie des attischen Dichters BatonBaton (3. Jh. v. Chr.) wird mit der Metaphorik ESSEN/TRINKEN IST LESEN ironisch gespielt:
„Gut, Sibyne, schlafen wir die Nächte gewiss nicht, auch sind wir nicht gut ernährt/gebildet (οὐδ’ ἀνατετράμμεθ’), sondern wir zünden eine Lampe an, und [halten] ein BuchBuch in den Händen (καὶ βυβλίον ἐν ταῖς χερσί), und denken darüber nach (φροντίζω), was Sophon hinterlassen hat, oder was Simonaktides von Chios, oder Tyndarichos von Sikyon, oder Zopyrinos“ (Athen.Athenaios deipn. 14,81 [662c]: CAF 3, Bato Fr. 4).
Die Speisemetapher steckt in diesem Fragment im Verb ἀνατρέφωἀνατρέφω (auffüttern, aufziehen), was hier zunächst bedeutet, dass diejenigen, die in der 1. Pers. Pl. sprechen sich für nicht gebildet halten und daher des Nachts lesen. Lesen wird hier mit der weit verbreiteten LesemetonymieMetonymie „ein BuchBuch in der Hand halten“ konzeptualisiert (s. o.); die kognitivekognitiv Verarbeitung beim Lesen wird mit dem Verb φροντίζω angezeigt. Vorausgesetzt ist also das Konzept individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Nachtstudien (s. o. zum Motiv der lucubrationeslucubratio), bei denen die auditiveauditiv Dimension des Textes keine Rolle zu spielen scheint. Die Stelle zeigt vielmehr, dass gefüttert, d. h. gebildet zu sein, an der Belesenheit eines Individuums hängt. Die Ironie der Stelle liegt nun aber darin, dass die genannten Personen allesamt AutorenAutor/Verfasser von Kochbüchern sind, wodurch sowohl das Motiv der Nachtstudien ironisch gebrochen wird als auch das Verb ἀνατρέφω eine Doppeldeutung erhält.
PolybiosPolybios vergleicht das Kosten von vielen Speisen beim MahlGemeinschaftsmahl, das schlecht für den Genuss und später für die Verdauung und für die Ernährung ist mit der Lektüre (Polyb. 3,57,7–9).
„Ebenso finden die, die beim Lesen (περὶ τὴν ἀνάγνωσιν) ähnlich verfahren, weder für den Augenblick wirkliche UnterhaltungUnterhaltung, noch erzielen sie für die Zukunft den gebührenden Gewinn“ (Polyb.Polybios 3,57,9; Üb. DREXLER).
Aus dieser Stelle lassen sich folgende Einsichten gewinnen: 1) PolybiosPolybios scheint eine verbreitete Praxis zu kritisieren. 2) Es ist eine selektiveUmfangselektiv, oberflächlicheAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig und nicht-iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ LeseweiseLese-weise, also die Lektüre vieler Werke ohne eingehende Beschäftigung vorauszusetzen. 3) Daher kann ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις hier auch nur die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre meinen, da bei einer kollektiv-indirektenRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption die durch den speisemetaphorischen Vergleich vorausgesetzten Zugriffsweisen nicht realisierbar wären.
Artemidor von Daldis verwendet in seinen Traumdeutungen die – freilich hier geträumte – MetapherMetapher des Essens von Büchern, die sich auch in den biblischen Schriften findet,5 um das Lesen derselben auszudrücken:
„Das Verzehren von Büchern (ἐσθίειν δὲ βιβλία) bringt Erziehern, Sophisten und allen, die durch RedenRede oder BücherBuch ihr tägliches Brot verdienen, Nutzen; allen anderen Menschen prophezeit es jähen Tod“ (Artem.Artemidor von Daldis on. 2,45; Üb. BRACKERTZ).
Artemidor unterscheidet hier zwei Rezipientengruppen: Solche, die berufsmäßig BücherBuch lesen, und alle übrigen. Die Formulierung impliziert, dass das Lesen von Büchern auch bei nicht-berufsmäßigen Lesern durchaus verbreitet war. Daneben basiert auch die weite Verbreitung in griechischen und lateinischen Quellen, das Urteil über Gelesenes als Geschmack zu konzeptualisieren, auf der hier diskutierten Metaphorik.6
Entsprechend lässt sich die Metaphorik häufig auch bei lateinischen AutorenAutor/Verfasser finden. CiceroCicero, Marcus Tullius antizipiert in einem BriefBrief an M. Marius aus dem Jahr 55 v. Chr., dieser habe in den Morgenstunden in seinem Schlafzimmer mit schönem Ausblick auf das Meer „kleine Lektüren konsumiert“ (per eos dies matutina tempora lectiunculis consumpseris; Cic. fam. 7,1,1), was hier tatsächlich meint, er habe aus ästhetischem Genuss gelesen.7 In einem seiner Briefe an Atticus berichtet er (Cic. Att. 4,10), dass er sich in seiner VillaVilla am Lucriner See an „der BibliothekBibliothek des Faustus sättigt“ (ego hic pascor bibliotheca Fausti) – also an den Schriften aus der Bibliothek des Apellikon, die auch Aristotelesmanuskripte enthielt,8 – und nicht nur an den Delikatessen aus dem See. Diese Lesetätigkeit, die er im SitzenHaltungsitzen in einem kleinen Sitz (sedecula) ausführt, beschreibt er selbst als „Studien“ (litterae).9
Bei OvidOvidius, P. Naso findet sich Lesen dann metaphorischMetapher als Trinken konzeptualisiert.
„Dass andere Dichtungen vom großen Triumph um die Wette geschriebenSchriftGeschriebenes schon längst vom Mund des Volkes gelesen, vermute ich (iam pridem populi suspicor ore legilego). Jene trinkt der dürstende LeserLeser (lectorLektor) und nur der satte [Leser] von meinem Becher; jenes Getränk ist frisch, mein Wasser wird schal sein, “ (Ov. Pont. 3,4,53–56)
Aus dieser Stelle lassen sich mehrere wichtige Einsichten gewinnen: 1) OvidOvidius, P. Naso geht davon aus, dass lyrische Texte sich nicht nur an die OberschichtElite richteten, sondern von einer breiteren Bevölkerungsgruppe (populus) rezipiert wurden.10 2) Die Texte werden dem VolkVolk nicht vorgelesen,11 sondern der „Mund des Volkes“ liest sie individuell-direktLektüreindividuell-direkt. Dies zeigt auch die Ov. Pont. 3,4,55, wo der LeserLeser (lectorLektor) im Singular als die Texte Trinkender dargestellt wird. 3) Dass Ovid hier den „Mund“ (os) als Leseinstanz benennt, impliziert vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend (möglicherweise auch nur subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend) Lektüre. Dies ist angesichts lyrischer Texte erwartbar, die – wie auch die Ausgestaltung der Metaphorik verdeutlicht – vorrangig aus Gründen des ästhetischen Genusses rezipiert werden.12
Seneca macht ebenfalls reichen Gebrauch der hier diskutierten Metaphorik. Neben der eindrücklichen, oben schon besprochenen Stelle (S. 194 f), formuliert er in einem anderen BriefBrief, dass er ein BuchBuch erhalten habe und es zunächst nur aufgeschlagen habe, so als würde er es später lesen wollen – und zwar um einen Vorgeschmack zu bekommen.13 Diese Stelle belegt einen eher oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig, selektivenUmfangselektiv und diskontinuierlichenKontinuitätdiskontinuierlich Zugriff auf die BuchrolleRolle (scroll).
Eine aufschlussreiche Stelle findet sich bei Quintilian. Dieser schreibt im Kontext einer ausführlichen Gegenüberstellung des Hörens von RedenRede und der eigenen Lektüre:
„Die Lektüre ist unabhängig (lectiolectio libera est) und läuft nicht mit dem Ungestüm der vorgetragenen RedeRede ab, sondern sie kann immer wieder zurückgreifen (sed repetere saepius licet), falls man Zweifel hat oder man es dem GedächtnisGedächtnis fest einprägen möchte. Zurückgreifen aber wollen wir und grundsätzlich es immer wieder neu vornehmen (repetamus autem et tractemus), und wie wir die Speisen zerkaut und fast flüssig herunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern (zur Nachahmung) einverleibt werden“ (Quint.Quintilian inst. or. 10,1,19; Üb. RAHN).
Quintilian sieht einen Vorteil der Lektüre darin, dass man beim Lesen auf Vorangegangenes zurückgreifen (repeto) kann. Die Gegenüberstellung von repeto und retractoretracto deutet darauf hin, dass ersteres RegressionenRegression beim Lesen reflektiert und letzteres eine erneute Lektüre meint. Quintilian reflektiert hier also, dass der selbstbestimmte Umgang mit dem Medium bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre es erlaubt, zurückzublicken oder auch (teilweise bzw. ganz) zurückzurollen. Die Vorteile diskontinuierlicher und mehrfacherLektüreMehrfach- Zugriffsweisen sind für Quintilian dabei mnemotechnischer Art – sowohl im Hinblick auf inhaltliches AuswendiglernenAuswendiglernen als auch im Hinblick auf das LernenLernen von stilistischen Mustern. Die kognitivenkognitiv Verarbeitungsprozesse bei dieser Form von Lektüre konzeptualisiert Quintilian hier mit der Metaphorik des Essens und Verdauens. Einfach Gelesenes ist Rohkost, mehrfach Gelesenes ist mürbe und zerkleinert und kann daher besser mit dem GedächtnisGedächtnis verdaut und einverleibt werden, d. h. steht dem Lesenden zukünftig für die eigene Produktion von RedenRede oder Texten zur Verfügung.
Wenn Apuleius die Bediensteten in der BibliothekBibliothek als „Kellermeister der BücherBuch“ (promus librorum; Apul.Apuleius apol. 53) bezeichnet, steht auch hier die zur Diskussion stehende konzeptuelle Metaphorik im Hintergrund. Etwas anders gelagert nennt Aulus GelliusGellius, Aulus (Gell. praef. 2) seinen Wissensspeicher, die ExzerpteExzerpt und Notizen von Lektüren und Gehörtem, „Proviant an BuchstabenBuch-stabe“ (litterarum penus).14 Hier wird also mit der gleichen Metaphorik das auch in der Antike gebräuchliche mnemotechnische Hilfsmittel von schriftlichen Aufzeichnungen thematisiert, die bei der Weiterverarbeitung dann als Proviant verzehrt, also gelesen werden müssen.
4 Scriptio Continua und „typographische“1 Merkmale antiker Handschriften
Griechischeγράφω TexteSchriftGeschriebenes sind inHandschrift/Manuskript derHandschrift/Manuskript antiken Mittelmeerwelt unabhängig vom SchriftmediumLese-medium ohne WortzwischenräumeWort-zwischenraum geschriebenSchriftGeschriebenes (scriptio continuaSchriftscriptio continua oder scriptura continua) worden.2 Aus diesem allgemein bekannten „typographischen“ Gestaltungsmerkmal antiker Texte ergibt sich die Frage, welche Bedeutung die scriptio continua für antike Lesegewohnheiten hatte. In methodischer Hinsicht stellen sich verschiedene weitere Fragen: Kann man von der „typographischen“ Textgestaltung Rückschlüsse auf die LesepraxisLese-praxis ziehen? Inwiefern bestimmt das Leseverhalten/die Lesepraxis die „typographische“ Gestaltung von Texten auf antiken Schriftmedien bzw. welche anderen Faktoren spielen diesbezüglich eine Rolle? Kompliziert werden diese Fragen sodann, weil die Frage des Zusammenhangs zwischen scriptio continua und Lesepraxis nicht losgelöst von anderen „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen der Texte behandelt werden können, da das visuellevisuell Erfassen von Schrift – so viel darf aus der Grundlage der modernen Typographie postuliert werden – im Zusammenhang mit anderen „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen untersucht werden muss: insbesondere die Zeilen- bzw. Spaltenlänge, ferner aber auch die Zeilenabstände und die Schriftgröße.
Die hier aufgeworfenen Fragen können aus Gründen der Komplexität des Problems im Rahmen dieser Studie nicht umfassend bearbeitet werden. Ausgehend von der gängigen Sicht des Zusammenhangs zwischen scriptio continuaSchriftscriptio continua und der antiken LesepraxisLese-praxis sind allerdings einige problematisierende Überlegungen notwendig: Wie schon in der Einleitung deutlich geworden ist, wird in den verschiedenen altertumswissenschaftlichen Fächern gemeinhin angenommen, dass ein festes Interdependenzverhältnis zwischen der Praxis des vokalisierendenLautstärkevokalisierend Lesens und der Praxis, Texte in scriptio continua zu schreibenSchreiben, besteht.
So ist in der Forschungsliteratur häufig das Postulat zu finden, dass scriptio continuaSchriftscriptio continua im Vergleich zur scriptio discontinuaSchriftscriptio discontinua schwerer zu lesen wäre; antike Texte in scriptio continua daher vorrangig „lautLautstärkelaut“ vorgelesen werden mussten, um dekodiert und verstandenVerstehen zu werden.3 Die Verknüpfung des Paradigmas des „lauten“ Lesens mit der scriptio continua findet sich schon im eingangs zitierten Aufsatz von J. Balogh,4 eine prominente Stellung nimmt es sodann in P. Saengers berühmten Buch „Space between Words“ ein und wird in der altertumswissenschaftlichen und exegetischenExegese Forschung als gesichertes Wissen rezipiert.5 Die Argumente, die Saenger und andere für die These anführen, dass in scriptio continua geschriebeneSchriftGeschriebenes Manuskripte grundsätzlich für vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lektüre vorgesehen gewesen seien, können jedoch die Beweislast der zu beweisenden Interdependenz nicht tragen. Vielmehr setzen sie das zu beweisende Junktim zwischen vokalisierender Lektüre und scriptio continua schon voraus. Dies wird im Folgenden anhand einer kurzen Diskussion der einzelnen Argumente herauszuarbeiten sein.