Kitabı oku: «Lesen in Antike und frühem Christentum», sayfa 32

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8.3 Zur Lektüre der Paulusbriefe und Paulus’ Brieflektüre

Im Folgenden ist nun zu fragen, ob die Briefe im Corpus PaulinumCorpus Paulinum (s. auch Paulusbriefsammlung) Aufschluss über Paulus’ eigene Brieflektüre geben und inwiefern das Lesen von BriefenBrief selbstreferenziellselbstreferenziell reflektiert wird. Es ist dabei notwendig, zwischen den für authentisch gehaltenen Briefen und den pseudepigraphenPseudepigraphie Briefen im Corpus Paulinum zu unterscheiden. Denn über die Brieflektüre des historischen Paulus geben nur erstere Aufschluss. Aber auch bezüglich der Frage nach der Lektüre von Paulusbriefen in den frühchristlichen GemeindenGemeinde sind die authentischen BriefeProtopaulinen und die DeuteropaulinenDeuteropaulinen aus methodischen Gründen zunächst getrennt voneinander zu untersuchen. Es ist schließlich möglich, dass die pseudepigraphen Briefe für eine andere Rezeptionsform konzipiert worden sind als die authentischen Paulusbriefe. Zudem muss ferner gefragt werden, in welchem Verhältnis dieses Problem zur Zusammenstellung von BriefsammlungenPaulusbriefsammlung (s. auch Corpus Paulinum)Brief-sammlung im frühen ChristentumChristentum steht.

8.3.1 Die Brieflektüre des historischen Paulus

Für die Untersuchung der Brieflektüre des historischen Paulus kommen Stellen in den für authentisch gehaltenen BriefenBrief in Frage, an denen Paulus auf Nachrichten aus den GemeindenGemeinde Bezug nimmt. Im Folgenden ist dazu der 1Kor1Kor in den Blick zu nehmen, da sich hier ein sicherer Bezugspunkt für Paulus’ Brieflektüre findet; und zwar nimmt er in 1Kor 7,11Kor 7,1 explizit Bezug auf einen Brief der Korinther, auf dessen Inhalt er im Folgenden antwortet: „Über das aber (περὶ δέ), was ihr [mir]1 geschriebenSchriftGeschriebenes habt: …“ Ein Problem der ExegeseExegese der Korintherkorrespondenz besteht jedoch darin, innerhalb des Briefes die Passagen zu identifizieren, in denen Paulus Bezug auf dieses SchreibenSchreiben nimmt.

Ein Großteil der Forschung nimmt an, dass die analoge Einleitung mit περὶ δέ in 1Kor 7,251Kor 7,25; 8,11Kor 8,1; 12,11Kor 12,1; 16,11Kor 16,1.121Kor, 16,12 ebenfalls auf dieses SchreibenSchreiben Bezug nimmt.2 Ausführlich kritisiert wurde diese These von M. M. Mitchell,3 die sich vor allem gegen daraus abgeleitete Briefteilungshypothesen4 und die These J. C. Hurds positioniert hat, die eklektische Bezugnahme auf mündlich und schriftlich erhaltene Informationen erkläre den unterschiedlichen Ton in der paulinischen Argumentation.5 Mitchells Hauptargument ist, dass die Einleitung mit περὶ δέ keinesfalls zwingend auf einen schriftlich konzeptualisierten Kommunikationsakt Bezug nimmt. Dies zeigt sie anhand einer umfangreichen Analyse des Vorkommens von περὶ δέ in literarischen und rhetorischen Texten (auch in literarischen BriefenBrief), in dokumentarischen Briefen und auf der Grundlage der Verwendung im NT. Ihre Analyse führt sie zu der plausiblen Schlussfolgerung, dass περὶ δέ als allgemeine Einleitungsformel für ein neues Thema fungiert und sich auch in Briefen auf mündliche Kommunikationsakte beziehen kann.6

Mitchell betont aber, dass ihre Analyse umgekehrt auch nicht beweise, „that the topics under περὶ δέ were not mentioned in the Corinthian letter.“7 Das bedeutet, dass die Frage für Mitchell offen bleibt, und sich die angeführten Aspekte auf schriftlich oder mündlich konzipierte Kommunikationsakte, aber auch einfach nur auf Elemente der gemeinsamen Erfahrungswelt beziehen können.8 Mitchell ist nun insofern zuzustimmen, als weiterführende Hypothesen zu Briefteilungen oder der VorlageVorlage der Gliederung schon im BriefBrief an Paulus nur auf der Grundlage der Einleitung mit περὶ δέ aus methodischen Gründen abzulehnen sind. Allerdings weist Mitchells eigene Analyse eine methodisch gravierende Schwäche auf, die sich vor dem Hintergrund der in dieser Studie vorgelegten Analyse der griechischen (und lateinischen) Leseterminologie offenbart. Und zwar basieren die Ergebnisse ihrer Untersuchung von Einleitungen mit περὶ δέ in dokumentarischen Briefen, die aus ihrer Sicht die entscheidenden Parallelen zum Stil und den Konventionen der paulinischen Briefliteratur darstellten,9 auf der Vorannahme, dass verba dicendiverba dicendi und verba audiendiverba audiendi ein eindeutiger Indikator für mündlich konzeptualisierteMündlichkeit konzeptuell Kommunikationssituationen wären. Dass dies eine Fehlannahme ist und z.B. insbesondere in der epistolographischen Kommunikation λέγωλέγω im Sinne von schreibenSchreiben und ἀκούωἀκούω im Sinne von lesen verwendet werden konnte, ist oben ausführlich dargelegt worden.10

Aus den unter Punkt 3.2 dargelegten Überlegungen ergibt sich, dass Paulus in 1Kor 1,111Kor 1,11 und 11,181Kor 11,18 eben nicht eindeutig auf oralMündlichkeit communication referierte, wie Mitchell mit Verweis auf 1Kor 5,11Kor 5,1 und auf Stephanas, Fortunatus und Achaikus, auf dessen Ankunft Paulus am Schluss seines BriefesBrief verweist (1Kor 16,17), postulieren.11 Zunächst ist aus meiner Sicht völlig offen, ob Stephanas, Fortunatus und Achaikus – möglicherweise die Boten des in 1Kor 7,11Kor 7,1 genannten Briefes – Paulus über Missstände in Korinth unterrichtet haben. Für eine solche Verknüpfung fehlt m. E. ein sicheres Textsignal in 1Kor 16,17 f1Kor 16,17 f (s. u.). Ferner ist es aus anderen Gründen auch in 1Kor 5,1 nicht eindeutig, dass Paulus sich dort auf Nachrichten bezieht, die ihm in mündlicher Form mitgeteilt worden sind, wie in der Forschung gemeinhin angenommen wird.

1Kor 5,1a (ὅλως ἀκούεταιἀκούω ἐν ὑμῖν πορνεία) wird in der Kommentarliteratur üblicherweise so verstanden, dass Paulus sich hier auf etwas bezieht, das „ihm zu OhrenOhr gekommen ist“.12 Dabei werden unterschiedliche Möglichkeiten der Transmission angenommen: z. B. a) es bestehe KontinuitätKontinuität zum „oralMündlichkeit report brought by Chloe’s people“13 (1Kor 1,111Kor 1,11); b) die Informationen stammten von den in 1Kor 16,171Kor 16,17 f genannten Personen;14 c) es handle sich um ein anonymes Gerücht, das in Nachbargemeinden über die Korinther kursierte und bis nach Ephesus vorgedrungen sei.15 Die Deutung c) ist insofern problematisch, als eine lokale Sinnrichtung von ὅλως postuliert werden muss, die sonst nicht belegt ist16 und in einer Spannung zu Paulus’ eigenem Gebrauch in 1Kor 6,71Kor 6,7 und 15,291Kor 15,29 stünde. Alle drei Interpretationen setzen sodann voraus, dass sich ἐν ὑμῖν auf πορνεία bezieht, wobei die grammatikalische Konstruktion als elliptischer NcP aufgefasst wird: „Überhaupt hört man, dass Unzucht unter euch ist“ (z. T. übersetzt mit einer von-Phrase: „von Unzucht unter euch“). Dazu hat schon J. Weiss bemerkt, dass ἐν ὑμῖν „– bei jeder Deutung von ὅλως – eigentlich zu ἀκούεται gezogen werden müßte“.17 Er verwirft diese grammatische Zuordnung jedoch, da sie aus seiner Sicht keinen Sinn ergebe. Allerdings lässt sich sehr wohl ein Sinn erschließen, der sogar gut in den Kontext passt und zu einer stärkeren argumentativen Kohärenz im Übergang von Kapitel 4 und 5 führt, ordnet man ἐν ὑμῖν dem Verb zu: „Überhaupt hört man unter euch von Unzucht.“ Liest man den Satz in dieser grammatischen Zuordnung, will Paulus hier gar nicht betonen, dass er etwas gehört habe. Vielmehr spielt er auf Gerede in der korinthischen GemeindeGemeinde an,18 wobei er offen lässt, woher er die Informationen hat. Für diese Deutung spricht, dass Paulus hier eine passivische Formulierung wählt, während er in 1Kor 11,181Kor 11,18 in der ersten Sg. eindeutig macht, dass er gehört hat, oder in 1Kor 1,11 auch ganz eindeutig er als AdressatAdressat der Mitteilung gilt. Sodann könnte die Wortstellung in 1Kor 5,11Kor 5,1 darauf hindeuten, dass Paulus das ἀκούεται ἐν ὑμῖν betonen möchte; es geht ihm also zunächst weniger darum, die πορνεία an sich zu kritisieren, sondern den Umgang damit in der korinthischen Gemeinde. Genau auf diese Kritik folgt dann ja auch in 1Kor 5,21Kor 5,2: „und ihr seid aufgeblasen (πεφυσιωμένοι) und nicht traurig geworden, sodass ihr den aus eurer Mitte verstoßen hättet, der diese Sache tat.“ Wie schon in 1Kor 4,61Kor 4,6.8 f1Kor 4,8 f wirft er einigen Korinthern vor, dass sie sich wichtig machen (φυσιόω); dass es sich dabei um ein verbales „Sich-Wichtig-Tun“ handelt, steckt nicht nur in der Semantik des Verbes, sondern wird durch die Formulierung ὁ λόγοςλόγος τῶν πεφυσιωμένων (1Kor 4,191Kor 4,19 f) deutlich. Das Hören in 1Kor 5,11Kor 5,1 und das Aufgeblasen-Sein in 1Kor 5,2 bilden also durchaus zwei Seiten derselben Medaille. Es wäre nun lohnenswert zu überlegen, welche Bedeutung diese Interpretation für die argumentative Kohärenz der Kapitel 4 und 5 hätte. Dies führte aber im Rahmen dieser Studie zu weit. Derartige Überlegungen beweisen freilich nicht, dass Paulus sich auf Informationen bezieht, die in dem BriefBrief aus der korinthischen Gemeinde zu finden waren, den Paulus in 1Kor 7,11Kor 7,1 erwähnt. Dies liegt wegen der thematischen Überschneidungen zwischen Kapitel 5 und 7 nur im Bereich des Möglichen. Paulus könnte, bevor er in 1Kor 7,1 auf eine konkrete Anfrage reagiert, zu den Ausführungen in 1Kor 5,1 durch deskriptive Zusatzinformationen inspiriert worden sein, welche die Korinther im Zuge der Anfrage mitgeliefert haben. Auch das ist allerdings reine Spekulation.

In 1Kor 1,111Kor 1,11 begründet Paulus seine Paränese (1Kor 1,101Kor 1,10), die den paränetischen Charakter des BriefesBrief insgesamt einleitet,19 mit dem Verweis auf einen Streit (ἔρις) in der korinthischen GemeindeGemeinde. Dieser Streit sei ihm offenbart worden durch „durch die der Chloë“ (ἐδηλώθη γάρ μοι περὶ ὑμῶν … ὑπὸ τῶν Χλόης …). Im Unterschied zu 1Kor 5,11Kor 5,1 sind hier sowohl die Sender als auch der Empfänger (siehe das Pronomen μοι)20 der Nachricht explizit genannt, sodass von einem intentionalen Kommunikationsakt ausgegangen werden kann. Das Verb δηλόω setzt keinesfalls zwingend eine mündlich konzeptualisierteMündlichkeit konzeptuell Kommunikationssituation voraus. Vielmehr ist δηλόω semantisch mit visuellervisuell Wahrnehmung konnotiert21 und kann schriftliche Dokumente, vor allem Briefe als Subjekt oder adverbiale Bestimmung haben.22 Vor allem in dokumentarischen Briefen ist das Verb häufig bezeugt und verweist auf einen brieflich konzeptualisierten Kommunikationsakt.23 Die Verwendung des Verbes deutet also durchaus darauf hin, dass Paulus schon zu Beginn des 1Kor1Kor auf schriftlich konzeptualisierte Kommunikation verweist. Dies gilt möglicherweise auch für den Verweis von Paulus in 1Kor 11,181Kor 11,18, er habe von Spaltungen in der korinthischen Gemeinde gehört (ἀκούωἀκούω), die durch die Mahlpraxis hervorgerufen werden. Üblicherweise wird dieser Vers so ausgelegt, als beziehe sich Paulus hier ebenfalls auf mündlich übermittelte und womöglich sogar inoffizielle Informationen.24 Wie oben gezeigt wurde, ist das Verb ἀκούω ein gängiges Wort in der antiken epistolographischen Kommunikation und kann die Rezeption von Informationen in Briefen bezeichnen. Der Gebrauch impliziert in Briefen noch nicht einmal zwingend, dass die Briefe vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen werden, sondern kann auch – entsprechend dem Konzept, dass Briefkommunikation als Gespräch unter Abwesenden konzeptualisiert war – eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre eines Briefes voraussetzen.

Diese Überlegungen belegen im Umkehrschluss zwar auch nicht, dass sich Paulus in 1Kor 1,111Kor 1,11 und 11,181Kor 11,18 auf brieflicheBrief Kommunikationsakte bezieht. Aber es ist deutlich geworden, dass die methodischen Vorbehalte, die Mitchell als Schlussfolgerungen formuliert, auch für andere Stellen im 1Kor gelten müssen, an denen Paulus auf Kommunikation mit Mitgliedern der Korinther verweist. Aus dem bloßen Vorkommen von περὶ δέ kann nicht auf die dahinterliegenden Kommunikationssituationen geschlossen werden. Es bedarf exakter Kontextmarker, um die Kommunikationssituation eindeutig bestimmen zu können. Dies ist aber ausschließlich in 1Kor 7,11Kor 7,1 der Fall, wo Paulus zweifellos auf schriftlich konzeptualisierte Kommunikation Bezug nimmt. Analoge Überlegungen haben auch für die Formulierung ἵνα εἴτε ἐλθὼν καὶ ἰδὼν ὑμᾶς εἴτε ἀπὼν ἀκούω τὰ περὶ ὑμῶν25 in Phil 1,27Phil 1,27 zu gelten. Mit dem hier verwendeten Verb ἀκούωἀκούω kann Paulus sich auf von ihm antizipierte zukünftige Briefkommunikation beziehen.26

In welcher Form Paulus Briefe aus seinen GemeindenGemeinde nun aber genau rezipiert hat, lässt sich aus den BriefenBrief selbst nicht erheben. Es gibt in den Briefen keine sicheren Belege, dass BriefbotenBrief-bote aus den Gemeinden oder einer seiner Mitarbeiter ihm die Briefe vorgelesen hätten. In Analogie zu zahlreichen Quellenbelegen, bei denen an Individuen gerichtete Briefe individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen werden,27 kann man dies auch für Paulus vermuten.

8.3.2 Die anvisierte Rezeptionsform der Paulusbriefe in den paulinischen Gemeinden

NachGemeinde der Besprechung der Brieflektüre durch Paulus selbst ist nun danach zu fragen, welche Rezeptionssituation Paulus bei der Abfassung seiner Briefe in den Empfängergemeinden anvisierte. Analytisch davon zu unterscheiden ist die Frage, wie die dokumentarischen Briefe in den GemeindenGemeinde tatsächlich erstrezipiert worden sind. Auf diese zuletzt angeführte Frage lässt sich mangels Quellenzeugnissen keine Antwort geben. Hinweise zur Beantwortung der ersten Frage verspricht die Auswertung der wenigen direkten Verweise auf die Verlesung von BriefenBrief einerseits und von Reflexionen der anvisierten Briefrezeption in den Paulusbriefen andererseits.

Der Großteil der Forschung geht davon aus, dass die Paulusbriefe in der (gottesdienstlichenGottesdienst) GemeindeversammlungGemeinde-versammlung der Empfängergemeinden verlesen worden seien.1 Dabei ist es insbesondere für die PerformanzkritikBiblical Performance Criticism von großer Bedeutung, den besonderen performativen Charakter dieser Verlesungen zu betonen und die damit verbundenen Implikationen für die Interpretation der Briefe herauszuarbeiten. Der Briefempfang wird als soziales Ereignis verstanden, bei dem „Akteure [scil. BriefboteBrief-bote und ein eigens ausgewählter VorleserVorleser] und PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) gemeinsam ein Geschehen vollziehen, das in einer von MündlichkeitMündlichkeit geprägten Kultur bestimmten Konventionen folgt und doch jeweils einmalig ist.“2 Das Ereignis des Briefempfangs, das die Performanzkritik idealtypisch zu rekonstruieren versucht, sei wegen der Gestaltung der InteraktionInteraktion durch die Strategien des Vorlesers und durch die Reaktionen und Gespräche im Publikum im besonderen Maße durch Ephemeralität und Emergenz geprägt.3 Es geht im Folgenden allerdings nicht darum, die Methode der Performanzkritik zu verhandeln,4 sondern lediglich die Grundannahme zu diskutieren, dass Paulus bei der Abfassung eine spezifische Vortragssituation anvisierte bzw. dass die Briefe performativ in der Gemeindeversammlung vorgelesen wurden. Neben den oben im Einleitungskapitel (1) problematisierten, allgemeinen Vorurteilen über die antike LesepraxisLese-praxis und das antike Verständnis schriftlicher LesemedienLese-medium5 werden insbesondere die folgenden Argumente angeführt, um die These einer (performativen) Verlesung in der Gemeindeversammlung zu belegen:6 a) Antike brieftheoretische Reflexionen, in denen Briefe mit RedenRede verglichen worden seien, hätten Briefe damit „in die Nähe mündlicher Kommunikation“7 gestellt. b) Die Paulusbriefe sind an ein Kollektiv, eine Hausgemeinde oder mehrere GemeindenGemeinde, adressiertAdressat. Daher seien die Briefe von Paulus nicht mit antiken Privat- bzw. Papyrusbriefen zu vergleichen, wie es seit Deissmann8 in der Forschung weit verbreitet ist, sondern mit „offiziellen, administrativen BriefenBrief von Herrschern oder Beamten“.9 Diese seien nach einem bestimmten Protokoll empfangen und rezipiert worden, wobei Act 15,30Act 15,30–32Act 15,30–32 als Beleg dafür dient, dass dieses auch im frühen ChristentumChristentum galt. Für die Paulusbriefe postuliert Oestreich folgenden gesellschaftlich etablierten Ablauf der Briefrezeption: 1. Transport durch Briefboten; 2. Übergabe an Gruppe oder Repräsentanten; 3. Bestimmung eines Vortragenden aus dem Kreis der Briefempfänger; 4. Vorbereitung des Vortrags; 5. Einberufung einer Versammlung; 6. Einnahme der Plätze; 7. Begrüßung des Boten und Präsentation des Briefes; 8. Vortrag des Briefes; 9. Diskussion in der Versammlung und Botenbefragung; 10. Vorbereitung der Antwort und Entlassung des Boten.10 c) In den Paulusbriefen selbst scheine die (antizipierte) Vorlesesituation in unterschiedlicher Form durch.

ad a) Briefe und „mündliche“ Kommunikation

Aus rhetorischen Überlegungen zum Sprachstil von BriefenBrief, die sich in antiken Quellen finden, Rückschlüsse auf die Rezeptionsweise von Briefen zu ziehen, ist ein methodischer Fehlschluss. Aus moderner linguistischer Perspektive würde man sagen, dass hier in den Quellen reflektiert wird, dass Texte konzeptionell mündlich gestaltet sein können. Beschreibungssprachlich könnte man außerdem in pragmatischerPragmatik Hinsicht den von S. Föllinger geprägten Terminus der „imaginierten MündlichkeitMündlichkeit“ ins Spiel bringen, um die mündliche Verfasstheit, den Anschein eines Diskurses mit einem imaginären Gesprächspartner in Texten, zu beschreiben.11Weder in der Antike noch in der Moderne besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen konzeptionell mündlichen Texten und einer Vorlesesituation. Gleiches gilt im Übrigen auch für Rückschlüsse auf die Abfassungssituation; aus einem mündlich konzeptualisiertenMündlichkeit konzeptuell Text bzw. der besonderen rhetorischen Gestaltung kann nicht geschlossen werden, dass der Brief diktiert wurde.12 Nur zur Veranschaulichung ein modernes Beispiel: Der Text eines Internet-Chats ist konzeptionell mündlich, wird aber i. d. R. nicht vorgelesen. Aus der Antike sind etwa InschriftenInschriften überliefert, deren Texte konzeptionell mündlich gestaltet sind.13 In der Antike wurde außerdem nicht nur der Sprachstil von Briefen unter rhetorischen Gesichtspunkten diskutiert. Die Regeln der antiken RhetorikRhetorik galten für eine ganze Reihe von Textsorten.14 Generell ist es problematisch zu formulieren, dass die Rhetorik in der Antike „eine Disziplin der gesprochenen Sprache“15 gewesen sei, da sich auch RedenRede, die in literarischer Form z.B. im Rahmen von Geschichtswerken rezipiert wurden oder die niemals gehalten, sondern gleich für die PublikationPublikation/Veröffentlichung geschriebenSchriftGeschriebenes wurden, an die Regeln der Rhetorik halten mussten. An dieser Stelle sei auch noch einmal auf Diod.Diodorus Siculus 20,1,3–5 verwiesen. Dort wird darüber reflektiert, dass Elemente der Rhetorik in der GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung vorkommen; die Texte aber individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen werden (s. o. S. 122–124).

Die bisher generell vorgetragene Kritik lässt sich an problematischen Aspekten von Oestreichs Auswertung des Quellenbefundes noch weiter konkretisieren: Oestreichs Kronzeuge für die Nähe von BriefenBrief zur „mündlichen Kommunikation“ ist die Demetrios von PhaleronDemetrios von Phaleron zugeschriebene und schwer datierbare Schrift De elocutione, wo an einer viel zitierten Stelle über den Brief geschriebenSchriftGeschriebenes steht:

„223 Weil nämlich auch der briefgemäße Stil der Schlichtheit bedarf, werden wir auch von ihm handeln. Artemon nun also, der die Briefe des Aristoteles herausgegeben hat, sagt, man müsse auf dieselbe Weise sowohl einen Dialog (διάλογος) wie auch Briefe verfassen (γράφωγράφω); es sei nämlich ein BriefBrief wie die eine von den beiden RollenRolle (scroll) des Dialogs. 224 Etwas trifft er damit wohl richtig, sicher aber nicht das Ganze. Man muss den Brief nämlich ein wenig besser als den Dialog durchgestalten, ahmt doch der Dialog Improvisation nach, während ein Brief abgefasst und gewissermaßen als Geschenk übersandt wird“ (Demetr. eloc.Demetrios von Phaleron 4,223f, Üb. KLAUCK16).

Laut Oestreich zeigte diese Stelle, dass Briefe in der Antike der mündlichen Sprachform nahegestanden hätten. Er schlussfolgert, dass Briefe, die an eine Gruppe gerichtet gewesen sind, eigentlich als, wenn auch stilistisch schmucklose, RedeRede aufzufassen wären, die im Empfängerkreis als Rede stellvertretend vorgetragen worden wären.17 Diese Auswertung lässt sich am Quellenbefund methodisch jedoch nicht halten und setzt eine viel zu schematische Unterscheidung mündlich-schriftlich voraus.

Oestreichs Interpretation der Stelle basiert auf der problematischen Annahme, dass hier der Stil eines in schriftlich-materieller Form vorliegenden BriefesBrief mit dem Stil einer rein „mündlichen“ Kommunikationsform verglichen würde.18 Dies ist insofern erstaunlich, als er selbst feststellt, dass Artemon den Stil des Briefes hier mit einem „schriftlich verfassten Dialog“19 (γράφωγράφω!) – also, wie T. J. Bauer betont, „mit der literarischen Gattung (!) des Dialogs“20 – verglichen hatte; also mit Texten, die in schriftlich-publizierter Form vorlagen und potentiell in verschiedenen Kontexten (eben auch individuell-direktLektüreindividuell-direkt) gelesen werden konnten. Der Dialog ahmt ein improvisiertes Gespräch nach (μιμέομαι), ist also eine literarisch gestaltete Kunstform und nicht einfach ein Abbild real gesprochener Sprache. Das tertium comparationis zwischen Brief und Dialog besteht für Artemon darin, dass beide als konzeptionell mündlich zu verstehen sind, aber sich nach Demetrios im Stil leicht unterscheiden sollten.21 Nur diese kurzen Hinweise zeigen, dass eine einfache Unterscheidung schriftlich-mündlich als heuristischeHeuristik Kategorie unbrauchbar ist, um den Befund zu analysieren. Aus der Stelle kann nicht geschlussfolgert werden, briefliche Kommunikation sei „mit der MündlichkeitMündlichkeit“ verknüpft gewesen.22 Noch weniger lassen sich irgendwelche Schlussfolgerungen auf die real-historischen Bedingungen des Aktes der Briefrezeption ziehen. Es bleibt also für die Paulusbriefe festzuhalten, dass aus rhetorischen Stil- und Formelementen, die sich in den Paulusbriefen finden lassen,23 weder in Bezug auf die anvisierte Form der Rezeption und noch viel weniger für die real-historische Rezeptionsweise sichere Schlussfolgerungen möglich sind.

ad b) Die Paulusbriefe und ein kulturell vorgegebenes Protokoll der Verlesung?

Es ist fraglich, ob die Quellen wirklich Rückschlüsse auf ein über Jahrhunderte hinweg gleichbleibendes, fest etabliertes Protokoll für die Rezeption von offiziellen BriefenBrief zulassen. Hier scheinen mir die Ausführungen Stirewalts, auf die sich Oestreich bezieht, auf einer sehr selektivenUmfangselektiv Auswertung des Quellenbefundes zu beruhen. Zwar gibt es freilich Quellenstellen, an denen Briefe von einer autorisierten Person vorgelesen worden sind und die (seltener) auch einen mündlichen Bericht des/der Boten24 belegen. Keine der Quellen belegt jedoch eine solch detaillierte Typologie, wie Oestreich sie konstruiert.

Eine Auswahl von Stellen ist hier exemplarisch zu diskutieren: Thuk.Thukydides 7,10: Ein BriefBrief von Nikias wird den Athenern von einem SekretärSekretär (γραμματεύςγραμματεύς nicht ἀναγνώστηςἀναγνώστης; also nicht etwa von einer Person, die gleichsam beruflich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt spezialisiert war; vgl. zum Wahlamt des Lesesekretärs in Athen Arist. Ath. pol. 54,5) vorgelesen (ὁ δὲ γραμματεὺς ὁ τῆς πόλεως παρελθὼν ἀνέγνω τοῖς Ἀθηναίοις), nachdem die Boten ihre mündliche Botschaft übermittelt hatten. DiodorDiodorus Siculus erzählt im 18. Buch seines Geschichtswerks von einem Brief, adressiertAdressat an die Argyraspiden und die übrigen Makedonen im Gefolge des Eumenes, mit dessen Hilfe Antigonos versucht habe, sich des Eumenes wegen seiner erlangten Machtfülle zu entledigen (vgl. Diod. 18,62,3f). Es folgt die Schilderung des Brieferhaltes: „Als aber Philotas den Kommandeuren das SchreibenSchreiben übergab, das an die Gesamtheit gerichtet war (… τὴν κοινὴν ἐπιστολὴν ἀναδόντος τοῖς ἡγεμόσι), traten die Silberschildner [=Argyraspiden]Brief sowie die übrigen Makedonen gesondert und in Abwesenheit des Eumenes zusammen und verlangten, daß der Brief verlesen werde (καὶ τὴν ἐπιστολὴνἐπιστολή προσέταξαν ἀναγνωσθῆναι)“ (Diod. 18,63,1; Üb. VEH). An der Formulierung ist auffällig, dass die Aufforderung zur Verlesung explizit thematisiert wird und nicht die Kommandeure Subjekt des Aufforderns sind, sondern die Gesamtheit der Versammlung. Dies könnte bedeuten, dass eine Verlesung gerade nicht eine erwartbare kulturelle Konvention gewesen ist. Außer der Diskussion in der Versammlung wird aus der Quelle kein weiterer Aspekt der von Oestreich postulierten Typologie belegt, insbesondere keine Befragung des BriefbotenBrief-bote. Interessant ist vielmehr, dass Eumenes später zu der Versammlung hinzustößt und den Brief individuell-direktLektüreindividuell-direkt liest (ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω; vgl. Diod. 18,63,4). Die Formulierung in Ios.Josephus, Flavius vita 285f (in den §§ 276–279 stellt Josephus eine Versammlung am SabbatSabbat in der SynagogeSynagoge in Tiberias dar, die einem politischen Zweck dient) lässt offen, ob die vier Briefe (komplett) in der Versammlung vorgelesen wurden oder ob der Inhalt nur zusammengefasst präsentiert wurde. Die Formulierung ταῦτ᾽ ἀκούσαντες οἱ Τιβεριεῖς (Ios. vita 286) bezieht sich grammatisch nämlich auf den zuvor von Josephus zusammengefassten Inhalt. Dagegen liest Caligula (zumindest in der Darstellung Philos) einen offiziellen Brief des syrischen Legaten PetroniusPetronius Arbiter, T. (vgl. PhiloPhilon von Alexandria legat. 248–254) eindeutig individuell-direkt: „Sogleich nach ihrer Ankunft übergaben sie [scil. die Eilboten] den Brief. Dieser (CaligulaKaiser/Princeps) aber, während er ihn [den Brief] noch las, schwoll an und wurde voll des Zorns sich auf jeder [Seite] Markierungen/Notizen machend (καὶ οἱ μὲν ἥκοντες ἀνέδοσαν τὰς ἐπιστολάςἐπιστολή, ὁ δ᾽ ἔτι μὲν ἀναγινώσκωνἀναγιγνώσκω διῴδει καὶ μεστὸς ἦν ὀργῆς ἐφ᾽ ἑκάστῳ σημειούμενος“; Philo legat. 254).25 Der Wechsel vom Plural in den Singular zeigt eindeutig, dass die Briefboten den Brief nicht selbst verlesen. Zudem macht Caligula Notizen in dem Schriftstück, was impliziert, dass er das Schriftstück selbst in der Hand hat.26 Eine ähnliche Szene findet sich schon bei PolybiosPolybios, der beschreibt, dass Gaius Popilius Laenas SchreibtafelnTafel/Täfelchen mit einem Senatsbeschluss dem KönigKönig Antiochos IV. eindeutig in die Hände drückt und dieser es individuell-direkt liest (vgl. Polyb. 29,27: ἐπεὶ δ᾽ ὁ βασιλεὺς ἀναγνούς …). Noch einmal ist außerdem an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die individuell-direkte Lektüre von Briefen (z. T. auch eindeutig ohne VokalisierungStimmeinsatznicht-vokalisierend) breit bezeugt ist. Vgl. an unterschiedlicher Stelle unter 3.1 u. die Belege in Anm. 1, S. 381.

Auch ein vermeintlicher „general distrust of the written word“27 lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass Briefe an Kollektive stets nach dem genannten Muster rezipiert worden sind.28 Vielmehr lassen sich auch andere Formen der Rezeption offizieller Briefe nachweisen: Der berühmte BriefBrief von ClaudiusKaiser/Princeps an die Stadt Alexandria aus dem Jahr 41 (P.Lond. 6 1912) – also ein Brief, der sich an ein Kollektiv richtet – wurde von Lucius Aemilius Rectus zur individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre ausgehängt (ἐκθεῖναι τὴν ἐπιστολὴνἐπιστολή ἵνα κατʼ ἄνδρα ἕκαστον ἀναγεινοσκωνἀναγιγνώσκω [sic!]; Z. 6f). Hinzuweisen sind in diesem Zusammenhang auch auf die Menschentrauben von Lesern, die sich vor den vom Konsul Bibulus ausgehängten (propono) Edikten gegen CaesarCaesar bildeten (vgl. Cic.Cicero, Marcus Tullius Att. 2,4). PlutarchPlutarch bietet in seiner Biographie von Lysandros eine LeseszeneLese-szene, in der ein offizieller Brief, der an ein Kollektiv gerichtet ist, gerade nicht durch einen VorleserVorleser vorgelesen, sondern von den einzelnen Mitgliedern der Adressatengruppe individuell-direkt und ohne VokalisierungStimmeinsatznicht-vokalisierend (!) gelesen worden ist.29 In einem dokumentarischen Brief aus dem 2. Jh., von Ptolemaios an seine Mutter Zosime und seine Schwester Rhodous, findet sich eine aufschlussreiche Vorbemerkung vor dem eigentlichen Präskript des Briefes:

„Bei Serapis! Du, der Lesende des BriefesBrief (ὁ ἀναγινώσκωνἀναγιγνώσκω τὸ ἐπιστόλιον), wer immer Du bist, strenge Dich ein wenig an und übersetze (κ̣οπίασον μικρὸν καὶ μετερμήνε̣υσεν) für die Frauen das in diesem Brief Geschriebene und teile es [ihnen] mit (μετάδος)“ (SB 18 13867,1–6).30

Offensichtlich sind die Adressatinnen des BriefesBrief des Griechischen nicht mächtig, sodass sie den Brief weder selbst lesen können noch dass er ihnen vorgelesen wird. (Es bleibt offen, ob die Frauen in ihrer Muttersprache literarisiert sind; immerhin haben sie selbst Briefe an Ptolemaios geschickt, vgl. SB 18 13867,7f.) Daher richtet sich der Absender mit einem substantivierten PartizipPartizip von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω an einen anonymen LeserLeser, der den Brief übersetzen soll.31 Die Formulierung, dass er ihnen das Übersetzte nach dem Übersetzen mitteilen soll, impliziert, dass er den Brief vorher individuell-direktLektüreindividuell-direkt liest und übersetzt, und dass nicht an ein VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt des griechischen Textes, den die Frauen nicht verstehenVerstehen würden, gedacht ist. Ferner sei noch darauf hingewiesen, dass schriftliche Nachrichten, die sich an eine größere militärische Einheit (z.B. ein Lager) richteten, auf WachstafelnTafel/Täfelchen herumgereicht werden konnten.32

Es kommt außerdem erschwerend hinzu, dass der u. a. von Stirewalt und Oestreich angeführte Hauptbeleg (die Übergabe und Verlesung des Aposteldekrets in Act 15,30Act 15,30) gerade nicht sicher die vermeintliche protokollarische Konvention der Rezeption von an Kollektive gerichteten Briefen belegt. Ganz abgesehen von der Unsicherheit der Datierung der Apostelgeschichte und deren Aussagewert für die Rekonstruktion der Geschichte des frühesten ChristentumsChristentum33 sind die grammatischen Bezüge in den beiden Versen nicht eindeutig.

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