Kitabı oku: «Lesen in Antike und frühem Christentum», sayfa 23
6.2 Individuelle Lektüre
Die Untersuchung der Leseterminologie hat nur wenige, eindeutig identifizierbare individuell-indirekteRezeptionindividuell-indirekt Rezeptionssituationen,1 dafür aber eine sehr große Belegfülle individuell-direkteLektüreindividuell-direktr LeseszenenLese-szene hervorgebracht, vor deren Hintergrund das Bild einer vor allem durch gemeinschaftliche Leseevents gekennzeichneten BuchkulturBuch-kultur und einer Kultur, in der Menschen aus der OberschichtElite sich grundsätzlich von Lektoren hätten vorlesen lassen, als Übergeneralisierung zu werten ist.2 Insbesondere für die individuell-direkten Formen der Lektüre haben sich die unter 1.5 entwickelten differenzierten Kategorien zur Beschreibung der LeseweiseLese-weise als fruchtbar und in den Quellen nachweisbar erwiesen.
Die dichotome Unterscheidung zwischen vokalisierendemStimmeinsatzvokalisierend und nicht-vokalisierendemStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen durch die dritte Kategorie des subvokalisierendenStimmeinsatzsubvokalisierend Lesens, das in den Quellen explizit bezeugt ist,3 hat sich als sinnvoll herausgestellt und wird auch für die Interpretation der Quellen im nächsten Kapitel heuristischHeuristik wichtig werden. Die Untersuchung der Leseterminologie konnte in Ergänzung zu den zahlreichen Stellen, die nicht-vokalisierendes Lesen in der Antike belegen, noch zahlreiche weitere hinzufügen.4 Zusätzliche Evidenz für nicht-vokalisierende individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre ergibt sich aus den zahlreichen herausgearbeiteten LesemetaphernMetapher und -metonymien – insbesondere aus denen, die z. B. auf die besondere GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit5 oder den Grad der kognitivenkognitiv Aufmerksamkeit rekurrieren.6 So wird in den Quellen der Vorteil nicht-vokalisierender Lektüre im Hinblick auf die IntensitätAufmerksamkeitvertieft bzw. die bessere Konzentration thematisiert.7 Der GeschwindigkeitsvorteilLese-geschwindigkeit des subvokalisierenden und nicht-vokalisierenden Lesens bei der individuell-direkten Lektüre ist zunächst aus physiologischer Sicht evident.8 Aber insbesondere einige der Bewegungsmetaphern legen nahe, dass Geschwindigkeitsaspekte beim Lesen in der Antike eine Rolle gespielt haben (s. o. 3.7), z. T. wird die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit der Lektüre sogar explizit thematisiert.9
Aber auch alle Stellen, die funktionale, also suchende, selektiveUmfangselektiv und diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich, intensiv-studierendeStudiumAufmerksamkeitvertieft, auf inhaltliche Aneignung oder EvaluationEvaluation (s. auch Korrektur)/KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) bedachte Zugriffe auf Texte nahelegen, sind durchaus nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend zu denken. Freilich kann in vielen Fällen subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Allerdings sollte die Relevanz der Frage, ob Leserinnen und LeserLeser bei solchen funktionalen Zugriffen auf die Texte nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder subvokalisierend gelesen haben, auch nicht überbewertet werden.
In Bezug auf die Frage nach dem StimmeinsatzStimmeinsatz ist zusammenfassend darauf hinzuweisen, dass bei unmarkiertem Gebrauch der HauptleseverbenHauptleseverb (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω sowie legolego) ohne Signale im Kontext keine sicheren Rückschlüsse bezüglich der Vokalisierung bei individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre möglich sind. Vokalisierung war bei der individuell-direkten Lektüre keine Notwendigkeit um Texte, geschriebenSchriftGeschriebenes in scriptio continuaSchriftscriptio continua, verstehenVerstehen zu können (s.o. 4). Die Fähigkeit, nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend lesen zu können, spiegelt sich im Bewusstsein für die innere LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) und das innere OhrOhr, das prominent in spätantiken Quellen reflektiert wird,10 aber auch schon vorher explizit belegt ist11 und sich insbesondere in der usuellen Verwendung von ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus spiegelt (s. o. 3.2).
Vokalisierung bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre – freilich in den Quellen bezeugt – ist dagegen mit spezifischen Funktionen verknüpft: v. a. Lesen als ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Klangerlebnis,12 aber auch medizinischeMedizin13 und andere therapeutische bzw. psychagogisch-kathartische Funktionen.14 Gerade die zuletzt genannten Aspekte erscheinen im Hinblick auf meditativ-geistliche religiöse LesepraktikenLese-praxis, die in spätantiken christlichen (auch monastischen) Kontexten zu vermuten sind, interessant und einer vertiefenden Untersuchung wert zu sein.
Als zusätzliche Beschreibungskategorien haben sich auch bewährt, – in Bezug auf die Linearität des Textes – auf die LesefrequenzFrequenz (iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ/singulärFrequenzsingulär) sowie die KontinuitätKontinuität (sequentiellKontinuitätsequentiell/diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich) und den Umfang (vollständigUmfangvollständig/selektivUmfangselektiv) der Lektüre zu achten. Freilich lassen nicht alle LeseszenenLese-szene in der antiken Literatur eine dezidierte Untersuchung im Hinblick auf all diese Kategorien zu.15 An zahlreichen der untersuchten Leseszenen, in denen Lesen metaphorischMetapher oder metonymischMetonymie konzeptualisiert ist, hat sich aber deutlich gezeigt, dass es sich bei den Kategorien nicht um moderne Konzepte handelt, die dem Quellenbefund „übergestülpt“ werden. Vielmehr lassen sich mit den Kategorien Aspekte der Vielfalt antiker LesepraxisLese-praxis beschreiben, deren Wahrnehmung sich z. T. in der Leseterminologie kondensiert hat, z. T. explizit beschrieben wird, z.T. impliziert ist. Dies lässt sich noch einmal daran verdeutlichen, dass sich viele Lexeme bzw. Konzepte auf die Vollständigkeit eines Leseaktes beziehen (v. a. διαναγιγνώσκωδιαναγιγνώσκω, ἐξαναγιγνώσκωἐξαναγιγνώσκω, perlegoperlego, ad extremum/ad umblicium revolvorevolvo). Dies korrespondiert umgekehrt mit Klagen bzw. der Befürchtung von AutorenAutor/Verfasser, dass auch in der Antike BücherBuch nicht vollständig gelesen wurden oder Passagen übersprungen wurden.
Satirisch thematisiert bei Mart.Martial 14,2: „Beenden kannst du dies Büchlein an jeder beliebigen Stelle: Das ganze Werk ist nur in jeweils zwei Versen verfaßt. Fragst du, weshalb ich die Überschriften dazuschrieb, dann will ich’s erklären: Damit du, wenn’s dir so lieber ist, nur die Überschriften zu lesen brauchst“ (Üb. BARIÉ/SCHINDLER); Mart. 2,6,1–4: „Ach geh’ doch, dränge du mich, meine BüchleinBuch herauszugeben! Kaum hast du zwei Seiten gelesen (lectis vix tibi paginis duabus), da schielst du schon, Severus, auf das letzte Blatt und verziehst den Mund zu anhaltendem Gähnen“ (Üb. DIES.); Ov.Ovidius, P. Naso met. 9,575: jemand liest einen BriefBrief nur zur Hälfte (lecta sibi parte); Plin. ep.Plinius der Jüngere 7,9,9 verweist auf eine LesestrategieLese-strategie, dass man etwas nur so weit zu lesen brauchte, bis man das Argument verstandenVerstehen habe; Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 4 klagt über den schlechten Stil von Büchern, die man nicht von vorne bis hinten lesen könne. Ähnlich Mart. 4,49, der den Schwulst von Flaccus aufs Korn nimmt und schreibt: „Meine Büchlein sind frei von jeglichem Schwulst, meine Muse plustert sich nicht in tragischer Robe auf. ‚Aber das andere loben, bewundern und beten alle an!‘ Zugegeben, sie loben’s, doch meine Gedichte lesen sie“ (Üb. BARIÉ/SCHINDLER); GelliusGellius, Aulus bittet seine LeserLeser darum, „das, was ihnen beim Lesen als längst nicht mehr fremd vorkommt, nicht gleich als Gewöhnliches und allgemein Bekanntes unbeachtet zu übergehen“ (Gell. praef. 14; Üb. WEISS). Auch wenn Galen darauf hinweist, dass ein Freund sein „ganzes BuchBuch“ (ὅλον τὸ βιβλίονβιβλίον) gelesen habe, geht er davon aus, dass seine Bücher nicht unbedingt vollständigUmfangvollständig gelesen worden sind (Gal.Galenos san. tuend. ed. KÜHN 6, p. 450).16
In diesem Zusammenhang sind außerdem die Hinweise zur expliziten Konzeption eines BuchesBuch für diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich-selektiveUmfangselektiv Zugriffe zu nennen.17 Insgesamt zeigt dies wie auch die Vielfalt der in den LesemetaphernMetapher und LesemetonymienMetonymie zum Ausdruck kommenden Zugriffsweisen, dass das RollenformatRolle (scroll) keine sequentielleKontinuitätsequentiell (und vollständigeUmfangvollständig) Lektüre determinierte. Diese Belege zeigen eindrücklich, dass in der Antike so etwas wie „Schreibtischarbeit“, also das vergleichende und parallele LesenLesenvergleichend mehrerer Schriften, nur vermutlich ohne Schreibtisch, möglich war und praktiziert wurde. Darauf wird unter 9.3 zurückzukommen sein.
Im Hinblick auf die LesesituationLese-situation individueller Lektüre sind zusätzlich folgende Aspekte festzuhalten: Sowohl ununterbrochene18 als auch für Denk-, ExzerptExzerpt- und SchreibpausenLese-pausen/-unterbrechung,19 aber auch für Gespräche20 unterbrochene individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre lässt sich in den Quellen nachweisen. Eine Kuriosität im Hinblick auf Schreibpausen bildet ein „LesezeichenLese-zeichen“ aus PergamentPergament (5. Jh.), auf dem in drei Zeilen geschriebenSchriftGeschriebenes steht:
Lies und notiere die Hauptpunkte/markiere die Kapitel (ἀγάγνωθιἀναγιγνώσκω αὐτό, σημείωσον τὰ κεφάλαια; P.Köln 2 114; Üb. KOENEN).21
Angesichts der dreieckigen Form22 wäre es tatsächlich denkbar, dass es dafür vorgesehen war, in einen KodexKodex zwischen die Seiten gesteckt zu werden. Die unterbrochene Lektüre ist ein vielfach bezeugtes Motiv in der antiken LeseikonographieLese-ikonographie.23 In dieser Hinsicht besonders instruktiv sind außerdem solche Stellen, an denen der LeserLeser zur ergänzenden Imagination, also zur kognitivenkognitiv Weiterverarbeitung, aufgerufen wird, der AutorAutor/Verfasser also gleichsam zu einer LesepauseLese-pausen/-unterbrechung auffordert. Diese Stellen sind auch in solcher Hinsicht aufschlussreich, als sie ein Nachweis sind für die Reflexion der aktiven Rolle antiker Leserinnen und Leser bei der SinnkonstitutionSinnkonstitution im Leseprozess. Exemplarisch sei hier auf folgenden Satz bei KallimachosKallimachos verwiesen, in dem er nicht nur auf die Möglichkeit zur Unterbrechung hinweist,24 sondern auch die Möglichkeit des Abbruchs der Lektüre formuliert: „[The reader] can imagine [this] for himself, and thus cut down the length of the song (αὐτὸς ἐπιφράσσαιτο, τάμοι δ’ ἄπο μῆκος ἀοιδῇ·). But all that he answered to the questions, I will relate“ (fr. 57,1 f = SH 264,1 f; Üb. BING).25 Ein Bewusstsein für die aktive Beteiligung des Lesers bei der Sinnkonstitution im Leseprozess findet sich in zahlreichen Quellen, z. T. wird sie auch sehr explizit thematisiert,26 wodurch die Anwendbarkeit rezeptionsästhetischerRezeptionsästhetik Theorien auf antike Texte auch historisch legitimierbar erscheint.
Als bevorzugte Haltungen beim Lesen ist sowohl die sitzende,27 die liegendeHaltungliegen28 (v. a. das Motiv der Abendlektüre vor dem Schlafen)29 als auch die stehende30 Position in den Quellen zu finden. Gelesen wurde zu verschiedenen Tageszeiten, wobei für BibliothekenBibliothek v. a. der Morgen als Lesezeit belegt ist,31 die Nachtstudien (lucubratiolucubratio) finden sich als Topos der gelehrten Existenz, die Quellen lassen keinerlei generalisierbare Aussagen zu. Die Orte, an denen in der Antike gelesen wurde, sind ebenfalls vielfältig. Neben der Bibliothek (s. o. passim), dem privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat (s. o. passim) und auch dem öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich32 Raum ist das Motiv des Lesens in der NaturNatur33 und vor allem das Motiv des Lesens auf der ReiseReise (z.B. auf dem Schiff oder auf dem WagenWagen)34 in den Quellen zu finden.
In Bezug auf Ziele und Funktionen individueller Lektüre ist – über das oben zu funktionalen Zugriffen Gesagte hinausgehend – besonders auf folgende Aspekte hinzuweisen. Lesen zu Studien- und Lernzwecken ist sehr häufig in den Quellen zu finden und kommt insbesondere in der TerminologieLese-terminologie zum Ausdruck, die Lesen als Suchen konzeptualisiert (s. o. 3.6). Individuell-direkte Lektüre, aber noch vielmehr SchreibenSchreiben/Abschreiben von Texten, wurde in der Antike dem auditivenauditiv Kanal bezüglich des AuswendiglernensAuswendiglernen, z.B. für den Vortrag von RedenRede, aber auch allgemein für die rhetorische Bildung, vorgezogen.
Die Tätigkeit eines RhapsodenRhapsode im klassischen Athen war mit dem Besitz großer Mengen an SchriftmedienLese-medium verbunden (vgl. Xen.Xenophon mem. 10). Rhapsoden waren also für den Vortrag von epischen Texten auf das schriftmediengebundene AuswendiglernenAuswendiglernen angewiesen. Zum Zusammenhängen von Lesen und Auswendiglernen vgl. exempl. Plut.Plutarch de glor. Ath. 3 (mor. 347e). S. außerdem Cic.Cicero, Marcus Tullius de orat. 1,33,149–34,159, wo das Auswendiglernen mediengestützt im „stillenLautstärkestill Kämmerlein“ passiert. S. dort v.a. weiterführend den Hinweis auf mnemotechnische Techniken in Cic. de orat. 1,34,157. Prägnant formuliert Quintilian: „Wer aber auswendiglernt durch das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt eines anderen, […] kommt langsamer voran, weil der Sinneseindruck der AugenAugen stärker haftet als derjenige der OhrenOhr (acrior est oculorum quam aurium sensus)“ (Quint.Quintilian inst. or. 11,2,34);35 bezeichnend ist auch sein Hinweis auf das Eintragen von Merkzeichen (notae) in dem auswendigzulernenden Text in inst. or. 11,2,28; in Quint. inst. or. 11,2,32 verweist er explizit darauf, dass man auf der Grundlage des selbstgeschriebenen Textes auswendiglernen sollte, denn dann stehe dem Sprecher der Text vor Augen (velut oculis intuetur intuetur non paginas modo, sed versus prope ipsos) und er spreche so, als läse er (cum dicit similis legenti). S. außerdem Quint. inst. or. 10,1,19 (s. o. 3.9); Lact.Lactantius inst. 3,25,9 (s. o. 4.2).36 Zur kognitivenkognitiv Herausforderung des Auswendiglernens vgl. Dion Chrys. or. 18,19.37
Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, dass die Defizite bzw. die geringe BehaltensleistungAuswendiglernen beim reinen Hörverstehen in den Quellen reflektiert werden.38 Entsprechend wurde die Fähigkeit des als illiteratLiteralität/Illiteralität geltenden Mönchs Antonius,39 die Heilige SchriftHeilige Schrift(en) nur durch das Hören auswendig behalten zu haben (memoriter audiendoaudio tenuisse), als etwas Besonderes hervorgehoben.40 Außerdem wird in den Quellen die Notwendigkeit der mehrfachen individuellen Lektüre für ein aussagekräftiges ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Urteil thematisiert.41 Iterative Lektüre wird in den Quellen sodann auch mit dem Steigern starker emotionaler Regungen in Verbindung gebracht.42 Eine besondere Form individueller Lektüre ist mit dem Ziel der EvaluationEvaluation (s. auch Korrektur) bzw. KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) eines Textes verknüpft.43 Es finden sich in den Quellen z.B. Formen des prüfenden Lesens, die dazu dienen, den pseudepigraphenPseudepigraphie Charakter einer Schrift festzustellen44 oder das Konzept des gegenseitigen Lesens von Manuskripten mit Einfügung von handschriftlichen Kommentaren, Korrekturbemerkungen oder sogar redaktionellenRedaktion/redaktionell Überarbeitungen.45 Eine weitere Form des Zusammenhangs zwischen Lesen und SchreibenSchreiben in Bezug auf Lektüre zu Aneignungszwecken findet sich in der ebenfalls in der Antike weit verbreiteten Praxis LesefrüchteLese-frucht schriftlich festzuhalten also zu exzerpierenExzerpt.46 Die Exzerpte hatten entweder die Funktion der Gedächtnisunterstützung47 oder wurden direkt mit dem Ziel angefertigt, Texte bzw. ZitateZitat oder einzelne Gedanken für die eigene TextproduktionTextproduktion festzuhalten.48 Ferner ist auch bezeugt, dass beim Lesen direkt in den HandschriftenHandschrift/Manuskript gearbeitet wurde.49 Zudem finden sich Belege dafür, dass auch zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung und zum Zeitvertreib50 gelesen wurde und dass auch in der Antike LeserLeser LeseerlebnisseLese-erlebnis haben konnten, welche die kognitionspsychologischeKognitionswissenschaften LeseforschungLese-forschung Immersion nennt.51 Diesbezüglich ist zuletzt auf eine bei Lukian beschriebene Szene hingewiesen, der das individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lesen in einem BuchBuch als Möglichkeit betrachtet, sich einer sozialen Situation der Exklusion, insb. in emotionaler Hinsicht, zu entziehen.52
Teil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora
7 Lesen im antiken Judentum – Exemplarische Fallstudien
7.1 Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften
AT/HB/LXXJudentumDie folgenden Ausführungen geben einen Überblick und orientieren sich an der Leitfrage, ob bzw. inwiefern Reflexionen von LeseaktenLese-akt im ATAT/HB/LXX (Hebräische Bibel und LXX) und in den außerkanonischen Schriften einen Aussagewert für LesepraktikenLese-praxis im frühen ChristentumChristentum haben. Die Auswahl aus der LXX betrifft die Stellen, an denen explizite selbstreferenzielleselbstreferenziell Verweise auf Lektürepraktiken zu finden sind – insgesamt eine Ausnahme in diesem TextkorpusKorpus. Die Reflexion der Lesepraktiken alttestamentlicher Texte im frühen Christentum selbst wird hingegen unten zu thematisieren sein (8.2).
7.1.1 קרא als hebräisches Hauptleseverb
AlsHauptleseverb Hauptverb für „lesen“ im biblischen Hebräisch muss קרא gelten, das in dieser Bedeutung an mindestens 36 Stellen belegt ist.1 Können aus der Semantik des Verbes Rückschlüsse auf die LesepraxisLese-praxis im alten IsraelIsrael gezogen werden? Allein aus der Grundbedeutung „rufen“ bzw. präziser „durch den Laut der StimmeStimme die Aufmerksamkeit jemandes auf sich ziehen, um mit ihm in Kontakt zu kommen“,2 abzuleiten, im nachexilischen JudentumJudentum wäre nur oder mehrheitlich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen worden, wäre methodisch verfehlt.3 Hossfeld und Lamberty-Zielinski gehen davon aus, dass es sich bei der Entwicklung des LeseterminusLese-terminus als Spezialbedeutung von קרא um eine zeitlich nachgeordnete Entwicklung handelt, da קרא „in dieser Bedeutung ‚lesen‘ erst von der exil. Zeit an (vor allem dtr) belegt ist.“4 Dabei kann zwar vermutet werden, dass sich die Verwendung sprachgeschichtlich aus der Grundbedeutung abgeleitet hat. Es gibt aber mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass die Semantik der Verbwurzel in der späteren Verwendung als Spezialterminus für das Lesen verblasst ist – ähnlich wie bei vielen, oben besprochenen LesemetaphernMetapher und -metonymien im Griechischen und Lateinischen und insbesondere bei den HauptleseverbenHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und legolego.
So kann das Verb die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre von Schriftstücken bezeichnen.5 Mehrfach wird beschrieben, wie der KönigKönig einen BriefBrief liest, der ihm direkt ausgehändigt wird (2Kön 5,72Kön 5,7; 19,142Kön 19,14 [= Jes 37,14Jes 37,14]). In der Darstellung von Dtn 17,18 fDtn 17,18 f wird der König als nachexilischer SchriftgelehrterSchrift-gelehrte stilisiert,6 der eine AbschriftAbschrift der Weisung „bei sich haben soll und darin lesen soll sein Leben lang (וְהָיְתָה עִמּוֹ וְקָרָא בוֹ כָּל־יְמֵי חַיָּיו), damit er lerntLernen, JHWH Elohim zu fürchten, und damit er alle Worte dieser Weisung und diese Satzungen hält und danach handelt.“ Dass er diese Abschrift der Weisung selbständig anfertigen soll (Dtn 17,18Dtn 17,18),7 betont die Individualität des (freilich stilisierten) täglichen Leseaktes, den sich die LeserLeser hier vorzustellen haben. Dtn 17,18Dtn 17,18 wird von PhilonPhilon von Alexandria aufgegriffen, weshalb unten noch einmal darauf zurückzukommen sein wird (s. u. 7.2.2).8
Aus 2Kön 22,8–162Kön 22,8–16 abzuleiten, Dtn 17,18 fDtn 17,18 f meine, dass dem KönigKönig der Text täglich vorgelesen werden solle,9 steht in Spannung zur eigenhändigen AbschriftAbschrift des zu lesenden Textes. Auch die Behauptung Ottos, hier sei ein Vorleseakt mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vorauszusetzen,10 bleibt ohne Begründung. BDB 895,4b zählt die Stelle zur Kategorie „read, to oneself“. In 2Kön 22,8 wird erzählt, dass der Hohepriester Hilkija dem Schreiber Schafan das „BuchBuch der Weisung“ (סֵפֶר הַתּוֹרָה)11 aushändigt, das dieser dann für sich liest (וַיִּקְרָאֵהוּ/LXXAT/HB/LXX: καὶ ἀνέγνωἀναγιγνώσκω αὐτό) und später dem König Joschija vorliest (2Kön 22,10 f).12 Es ist interessant, dass der Chronist die Formulierung „er las es“ (2Kön 22,10) zu „er las darin“ (2Chr 34,182Chr 34,18) verändert, also das Objektsuffix mit dem Präpositionalausdruck vertauscht und damit „den Umfang des Vorgelesenen [hin zur selektivenUmfangselektiv Lektüre verändert]: Laut Chr las Schafan nicht das ganze Buch, sondern nur Stücke daraus.“13
Anders als Hossfeld und Lamberty-Zielinski postulieren,14 kann man für 2Kön 22,8 nicht eindeutig feststellen, ob die individuelle Lektüre mit oder ohne StimmeinsatzStimmeinsatz vorzustellen ist. Letzteres ist aber durchaus möglich – nicht zuletzt im Hinblick auf den LeseaktLese-akt von Schafan in 2Kön 22,82Kön 22,8–16, der auf Kenntnisnahme des Inhaltes hin ausgerichtet ist. Auch die Indizien an einer anderen Stelle weisen darauf hin, dass die LesepraxisLese-praxis im Alten IsraelIsrael bezüglich der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektürepraxis durchaus differenziert war. So fordert JHWH Habakuk in Hab 2,2Hab 2,2 dazu auf, er solle das, was er geschaut hat, „deutlich auf die TafelnTafel/Täfelchen schreibenSchreiben, damit der, wer es liest, rennt (לְמַעַן יָרוּץ קוֹרֵא בוֹ).“ Viele moderne Übersetzungen geben die Bildlichkeit der Aussage nicht präzise genug wieder15 oder greifen sogar in m. E. unzulässiger Weise interpretatorisch ein.16 Diese Übersetzungen lassen die in der antiken Welt mit dem Lesen verknüpfte Bewegungsmetaphorik unberücksichtigte, wie aus einschlägigen Kommentare deutlich wird. So formuliert L. Perlitt offenbar in Unkenntnis der Möglichkeit einer metaphorischenMetapher Bedeutung des Motivs des Rennens gegen die eigentlich naheliegende Übersetzung:
„V. 2 b könnte übersetzt werden: „damit schnellLese-geschwindigkeit läuft […], der sie liest.“ Aber das wäre albern, denn weder vor noch nach V. 2 gibt es jemanden, der rennt, wohin auch immer. Subj. des Verbes ist sonst der Mensch, hier müsste man indirekt die AugenAugen als Subj. nehmen (wie Jes 59,7Jes 59,7; Spr 1,16Spr 1,16; 6,18Spr 6,18 die Füße). Aber weder bei ‚deutlich‘ noch bei ‚geläufig‘ kennen wir die konkrete Vorstellung, auf die angespielt sein könnte.“17
Nicht zuletzt die altsprachlichen Übersetzungen verdeutlichen, dass hier die in der Antike geläufige Metaphorik des Durchrennens im Blick ist, die auf eine auf Schnelligkeit hin ausgerichtete Lektüre hindeutet.18 Diese schnelle Lektüre wäre wiederum durch den Einsatz der StimmeStimme bzw. das vollständigeUmfangvollständig Ausartikulieren in anderer Form (als durch unleserliche Schrift) behindert worden. Das heißt, vom Text wird vermutlich eine Lektürepraxis vorausgesetzt, die entweder durch subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen oder durch gänzlichen Verzicht auf stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung die entsprechende SchnelligkeitLese-geschwindigkeit ermöglichte. Im Bild müssen nicht zwingend die AugenAugen gemeint sein, vielmehr steht der rennende Mensch hier totum pro parte für die am Leseprozess beteiligten Teile des Körpers. Es ist mit M. Malessa festzuhalten: „Der Schwerpunkt der Aussage liegt […] auf der Art und Weise des Vollzuges der Verbalhandlung von קרא und weniger auf dem Erreichen eines natürlichen Endpunktes der Handlung, was durch die durative Aktionsart der Konstruktion unterstrichen wird.“19 Hab 2,2Hab 2,2 hat also eine „typographische“ Gestaltung der TafelTafel/Täfelchen im Blick, die für die schnelle visuellevisuell Erfassbarkeit optimiert ist.20
Vor diesem Hintergrund reflektiert vermutlich auch Jes 34,16Jes 34,16 individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektürepraxis. Dort findet sich die (in der LXXAT/HB/LXX fehlende und in der exegetischenExegese Fachliteratur häufig als sonderbar charakterisierte und in seiner Referenzialität und Ursprünglichkeit kontrovers diskutierte21) Aufforderung „Forscht im BuchBuch des Herrn und lest!“, die als Ausdruck schriftgelehrterSchrift-gelehrte Lektürepraxis verstanden werden kann.22
Wenn קרא in spezieller Weise als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird, übersetzt ihn die LXXAT/HB/LXX in den allermeisten Fällen mit dem griechischen HauptleseverbHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω,23 das wie oben ausführlich besprochen, auf einen anderen Bildspendebereich zurückzuführen ist. Dabei ist anzumerken, dass im Griechischen mit dem ebenfalls sehr häufig vorkommenden Leseterminus ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (s. o. 3.4) ein anderes Lexem zur Verfügung gestanden hätte, das den semantischen Gehalt des Beziehungsaufbaus enthalten hätte, den קרא aufweist. Dies zeigt insgesamt, dass der ursprüngliche semantische Gehalt des Verbes קרא, wenn es als Leseterminus gebraucht wird, – ähnlich wie bei ἀναγιγνώσκω oder eben wie bei dem Lexem „lesen“ im Deutschen – verblasst ist.24
Bei den meisten LeseszenenLese-szene im ATAT/HB/LXX, die mit קרא gekennzeichnet werden, handelt es sich allerdings um Vorleseszenen (durch den Kontext als solche markiert), wobei die AdressatenAdressat des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt häufig mit der Formulierung בְּאָזְנֵי („vor den OhrenOhr“, Ex 24,7Ex 24,7; 2Kön 23,22Kön 23,2; 2Chr 34,302Chr 34,30; Neh 13,1Neh 13,1; Jer 29,29Jer 29,29; 36,15Jer 36,15.21Jer 36,21–23), לִפְנֵי („vor dem Angesicht“, 2Kön 22,102Kön 22,10; 2Chr 34,182Chr 34,18.242Chr 34,24; Neh 8Neh 8,3Neh 8,3; Est 6,1Est 6,1) oder נֶגֶד („in Gegenwart von“, Dtn 31,11Dtn 31,11) markiert werden. Aus dem Vorkommen des Wortes „Ohr“ (אֹזֶן) in der Zusammensetzung בְּאָזְנֵי, die als konventionalisierte Präposition verwendet wird, ist nicht ableitbar, dass auch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vollzogen wurde. Auch wäre es ein methodischer Fehlschluss, aus dem quantitativen Übergewicht von Vorleseszenen zu schließen, man habe im nachexilischen JudentumJudentum lediglich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend und in Gruppen gelesen. Insgesamt muss man potentiell in Rechnung stellen, dass die geringe Anzahl an Szenen mit individuell-direkten LeseaktenLese-akt – sollten sie in bestimmten sozialen Kreisen ein alltäglicher Akt gewesen sein – dem Mangel an Relevanz für narrative Darstellungen geschuldet sein kann.
Bei zahlreichen Vorleseszenen im ATAT/HB/LXX handelt es sich um singuläreFrequenzsingulär Lese- bzw. Kommunikationsakte auf der Ebene der erzählten Welt(!), die keine dauerhaft institutionalisierte und ritualisierteRitual/ritualisiert LesepraxisLese-praxis reflektieren,25 sondern in den meisten Fällen eine besondere narrative Relevanz für das jeweilige Erzählkonzept haben:26
Briefe oder andere Dokumente werden etwa in einem singulärenFrequenzsingulär Kommunikationsakt vorgelesen (vgl. z.B. Jer 29,29Jer 29,29; ferner 1Esr 3,14 LXX1Esr 3,14 LXXAT/HB/LXX);27 ein singuläres Kommunikationsgeschehen stellen auch die Verlesungen des Bundesbuches/der ToraTora als Promulgationsakt dar;28 das mehrfache VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der BuchrolleRolle (scroll) in Jer 36,6Jer 36,6.10Jer 36,10.15Jer 36,15.21–23Jer 36,21–23 gehört zu einer umfangreichen „konstruierten Erzählung […], die […] den KönigKönig Jojakim als Gegenbild zu König Joschija zeichnet und verschiedene Weisen des Umgangs mit GottesGott Wort aufzeigt.“29 Die Erzählung stellt also keinen historischen Bericht der Entstehung des Jeremia-BuchesBuch im 7. Jh. v. Chr. dar, wie in der Forschung von einigen angenommen wird,30 fungiert aber möglicherweise als Ätiologie redaktioneller Prozesse (vgl. Jer 36,32Jer 36,32).31 Das Vorlesen ist also Teil einer fiktionalen Erzählwelt der zweiten Hälfte des 7. Jh., die exilisch und nachexilisch gestaltet wird,32 wobei der Text keine Hinweise darauf gibt, dass eine zeitgenössische Vorlesepraxis prophetischer Texte in das 7. Jh. zurückprojiziert wird. Es handelt sich also um eine literarisch-fiktive Form des Vorlesens, die die narrative Funktion hat, die Kenntnis des GeschriebenenSchriftGeschriebenes bei allen Akteuren auf der Ebene der erzählten Welt sicherzustellen, um vor diesem Hintergrund als besonderes „Paradigma für die Verfehlung des Südreiches“33 dienen zu können. Aufschlussreich ist demgegenüber, dass die wieder erstellte und überarbeitete SchriftrolleRolle (scroll) (Jer 36,32Jer 36,32), welche von den Lesern als vorliegendes Buch Jeremia identifiziert werden soll, gerade nicht mehr vorgelesen wird. Freilich lässt dies auch keine sicheren Schlussfolgerungen zu, welchen Rezeptionsmodus insbesondere die Redaktoren der prophetischenProphet Literatur im Blick hatten.
Eine VorleseszeneRezeptionkollektiv-indirekt (Neh 8Neh 8) muss an dieser Stelle ein wenig genauer betrachtet werden, da in der Forschung zuweilen angenommen wird, dass es sich um eine „Ätiologie des späteren synagogalen Gottesdienstes“34 handelte bzw. sich in ihr der „ideale Wortgottesdienst“GottesdienstWort-35, also eine dauerhaft institutionalisierte rituelle LesepraxisLese-praxis, widerspiegelte. Neh 8Neh 8 bietet eine ausführlich und detailreich beschriebene LeseszeneLese-szene in Jerusalem, wo sich das ganze VolkVolk nach der Rückkehr aus dem Exil im siebten Monat (Neh 7,72Neh 7,72) auf dem Platz vor dem Wassertor versammelt (vgl. auch 1Esr 3,11Esr 3,1) und Esra darum bittet, das BuchBuch der Weisung des Mose zu holen (Neh 8,1Neh 8,1). Bei der Darstellung der Leseszene werden folgende Elemente hervorgehoben: