Kitabı oku: «Horak am Ende der Welt», sayfa 2

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Eine Lesung ist nur in der Planung ein lineares, eindimensionales Ereignis. Sobald sie stattgefunden hat, existieren eine Vielzahl von Lesungen gleichzeitig.

Als ich die Bühne unter großem Applaus verließ und mich unter das Publikum mischte, war ich sicher, gut abgeliefert zu haben. Die Blicke der Leute waren freundlich, fast bewundernd. Meine Erleichterung war groß, und ich strahlte jeden einzelnen Gast mit breitem Lächeln an. Dann tauchte Maja an meiner Seite auf, doch ihr Gesicht drückte keine Verehrung aus.

»Andere Einleitung, hm?«, sagte sie.

»Ja, ein bisschen auf den Ort eingegangen.«

»Die Grenze als frühkindliche Erfahrung wird zu einem kontinuierlichen Motiv deiner Arbeit?«

»Ist mir vorher erst bewusst geworden …«

»Die Grenze zum Kitsch vielleicht …«

»Es ist gut angekommen!«

»Und wie du alles neu zusammensetzt: Der Klosterbruder wird zum Grenzübertreter, das Motorrad sein Fluchtfahrzeug.«

»Wenn sich die Kritiker schon nicht die Mühe machen, meine Arbeit zu interpretieren, muss ich eben selbst … Und die Lesung?

»Hast die bissigen Stellen ausgelassen, wolltest keinem wehtun, gell?«

»Ich hatte die Alten vom Komitee vor der Nase, muss ja keiner einen Herzkasper kriegen wegen mir.«

Als Bibliothe-Karin an meiner anderen Seite auftauchte, flötete Maja: »Ganz toll, Herr Horak, später dürfen Sie meine Zimmerkarte signieren«, und lächelte mir falsch-verführerisch zu, bevor sie sich in den Strom der Leute Richtung Ausgang einreihte.

Ich wandte mich an die Organisatorin meiner Lesung: »Waren Sie zufrieden?«

»Es war gut! Vor allem die einleitenden Worte: Der Bezug zu Heidenholz hat unser Publikum natürlich besonders in die Lesung hineingezogen. Ach ja, das Haus Ihrer Großmutter steht übrigens noch, Sie waren in der falschen Straße.«

»Wie bitte?«

»Ja, ja, zuerst kommt die Straße zum alten Sägewerk, dann erst die Straße zur Grenze. Eine zu früh abgebogen!«

»Oh, mein Gott.«

»Sie hätten übrigens ruhig etwas länger lesen dürfen. Haben Sie die Szenen gekürzt?«

»Minimalst. Ich lese immer lieber kürzer, bevor …«

Das Gesicht von Simon, Franziskas Freund, tauchte plötzlich vor mir auf.

»Die Lesung war ein Knaller! Dieser virile Mönch, köstlich, von dem möchte man mehr hören.«

»Nun ja, das Tagebuch umfasst nur ein Jahr.«

»Das beruht auf einem Tagebuch? Das hättest du in der Einleitung sagen sollen!«

»Denkst du wirklich …?«

Ich warf Maja, die mich vom Ende des Raums aus ansah, einen bösen Blick zu.

Bibliothe-Karin mischte sich noch mal ein: »Herr Horak, würden Sie jetzt vielleicht signieren gehen, die Leute stehen bereits an.«

»Haben Sie …?«

»Kugelschreiber liegen auf dem Tisch.«

Auf dem Weg zum anderen Ende des Saals kam ich an Franziska vorbei, die sich in die Schlange der Wartenden vor dem Signiertisch eingereiht hatte.

»Ich kann dir später signieren«, sagte ich im Vorübergehen, »wir werden doch noch etwas trinken gehen, oder?«

»Aber ich muss das Buch ja erst kaufen.«

»Ich bring dir eines mit!«

»Ehrlich gesagt hätte ich lieber das Letzte, das davor, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Kein Problem. Sag schnell, wie hat dir die Lesung gefallen?«

»Die Einleitung fand ich interessant. Dass du deinen Hang zu Grenzverletzungen thematisierst, hätte ich nicht erwartet.«

»Wie? Nein, das war nur so dahergeredet …«

»Den Mönch finde ich eher doof.«

»Aha, verstehe, schade. Ich muss jetzt arbeiten, wir sehen uns.«

Ich setzte mich an den Signiertisch. Eine Frau um die fünfzig, zierlich, rot-graue Locken, stand vor mir und lächelte mich an. Ich nahm ihr Buch entgegen und schlug die erste Seite auf.

»Für wen?«

»Für Cousine Grete, bitte.«

Ich sah überrascht zu ihr auf.

»Großcousine eigentlich …«, sagte sie. »Ihr habt uns öfter mal besucht, oben in Grundstein.«

Ich erinnerte mich wieder.

»Grundstein, das alte Gut! Ihr habt gerne Feste gemacht!«

Ich schrieb ihr eine Widmung ins Buch, dann sagte ich: »Du musst nachher ins Wirtshaus kommen, dann plaudern wir.«

»Ich muss leider gleich weiter! Aber vielleicht besuchst du uns ja. Du weißt, Ende der Welt, nördlichste Gemeinde Österreichs …«

»Das mache ich vielleicht«, sagte ich, und schon reichte mir jemand das nächste Buch.

Das Signieren dauerte fast eine Stunde. Als ich danach auf den Vorplatz des Rathauses hinaustrat, wurde es bereits dunkel. Bibliothe-Karin kam mir entgegen – begleitet von vier Leuten, die ich schon in der ersten Reihe gesehen hatte.

»Herr Horak, darf ich Ihnen die Vorsitzenden des Komitees vorstellen!«

Drei Herren und eine Dame lächelten mich erwartungsvoll und mit jener vollkommen einseitigen Vertrautheit an, die zwischen Publikum und dem Menschen auf der Bühne entsteht.

»Also, das ist Herr Janisch vom Institut für Grenzforschung in Wien!«

Janisch war ein ein Meter sechzig kleiner, grauhaariger Bartträger im Cordsakko mit schelmischem Lächeln.

»Herr Singer, Vorsitzender der Waldviertel-Universität!«

»Sehr schöne Lesung«, sagte Singer, ein silberhaariger, distinguierter Herr.

»Das ist Frau Keinberger, sie ist die Koordinatorin für das Land Niederösterreich!«

Sie war eine ganz hübsche Frau in ihren Dreißigern, etwas stark uniformiert in Rock, Bluse und Blazer.

»Und Herr Nemec, zuständig für die Region Südböhmen« – ein junger Mann in Anzughose und Hemd, hinter seinen randlosen Brillen leicht schielend.

»Darf ich beginnen?«, bat der kleine Janisch seine Kollegen um Erlaubnis zu sprechen. »Wir freuen uns, Sie heute hier kennenzulernen! Eine Frage vorweg: Jakob Horak, Sie sind a Tschech, oder?«

Ich musste lachen. »Nicht in meinem Pass, aber zu einem Stück bin ich wohl ein Tscheche. Allerdings habe ich noch nie einen tschechischen Verwandten getroffen …«

»Aber darum geht es ja gar nicht!«, sagte Singer. »Worum es geht, ist, dass Sie ein guter Schreiber sind und wir Sie über die Grenze sprechen gehört haben, und auch wenn manches davon ein bisschen herbeigedichtet klang, glauben wir doch, dass Sie unser Mann sein könnten.«

Die aparte Frau Keinberger setzte fort: »Wissen Sie, wir zerbrechen uns seit Tagen den Kopf, wie wir im nächsten Jahr unsere Botschaft unter die Menschen bringen, und die lautet: Vor dreißig Jahren ist der Vorhang zwischen Österreich und Tschechien gefallen, aber das Stück hat immer noch nicht wirklich begonnen.«

»Oder in einem anderen Bild …«, sagte Nemec, »… der Zaun ist weg, aber die Grenze noch nicht.«

»In mancher Hinsicht fühlt man sich hier immer noch wie am Ende der Welt«, sagte Singer, »obwohl uns heute längst alle Wege offenstehen.«

Herr Nemec setzte fort: »Und natürlich sehen wir, dass die Nationen wieder aufrüsten, dass die Populisten dazugewinnen, dass wieder Zäune gebaut werden, dass der Europa-Gedanke in Gefahr ist, und wir wollen dem etwas entgegenhalten!«

»Was wir brauchen«, sagte Janisch schließlich, »ist ein Text, den wir unseren wissenschaftlich-bürokratischen Ergüssen vorausschicken können, ein kraftvoller, poetischer Text, der sagt: Vor dreißig Jahren haben wir ein düsteres Kapitel der Geschichte abgeschlossen, und es ist heute wichtiger denn je, sich dieses Triumphes bewusst zu sein.«

»Zwei Worte«, sagte Singer, »Freiheit und Verantwortung!«

Janisch übernahm den Faden: »Wir haben die Freiheit gewonnen …«

»… und haben die Verantwortung, sie zu bewahren«, spann ihn Nemec zu Ende.

»Was denken Sie?«, fragte Keinberger.

»Nun, ich denke, dieses Jubiläum ist von großer Bedeutung«, sagte ich.

Alle nickten.

»Ich denke auch, unsere beiden Länder könnten viel enger zusammenwachsen.«

Mehr Nicken.

»Ich denke, dass ein gemeinsames Europa das große Projekt unserer Lebenszeit ist.«

Sehr einiges Nicken.

»Aber ich denke auch, Sie finden für diese große, schöne Aufgabe einen geeigneteren Kandidaten als mich.«

Ich hörte Ohs, ich hörte ein Nicht doch und ein Aber geh.

»Wieso denken Sie das, Horak?«, fragte Janisch und verschränkte die Arme.

»Wissen Sie, mir fallen auf Anhieb zwei oder drei Autoren österreichischer Provenienz ein, die einen stärkeren Tschechien-Bezug haben als ich, und ich bin sicher, in Tschechien finden Sie ganz wunderbare Autoren, die eine Verbindung zu Österreich haben, die vielleicht sogar deutsch schreiben.«

»Das ist aber nicht Bedingung für uns«, sagte Keinberger.

»Sie könnten auch Suaheli schreiben«, sagte Singer, »wir übersetzen uns das schon.«

»Wir kennen natürlich jene Autoren, die gewöhnlich bei Artikeln, Ansprachen oder Ausstellungskatalogen zu unserem Thema zum Zug kommen«, sagte Nemec, »aber wir suchen ja gerade eine andere Stimme, einen frischen Zugang.«

»Ich bin kein politischer Autor«, sagte ich.

»Das glaube ich Ihnen nun aber nicht«, sagte Janisch, »Sie wollen mit Ihren Geschichten irritieren, und das ist ein politischer Akt.«

Bibliothe-Karin schaltete sich nun ein: »Lassen Sie Herrn Horak doch einmal darüber nachdenken, was meinen Sie? Für ihn kommt diese Einladung ja ganz überraschend, und er ist ja auch nur auf Besuch hier und hat natürlich seine sonstigen Agenden. Vielleicht wollen Sie morgen nach dem Frühstück bei einem Spaziergang in der Heide noch mal über die Angelegenheit sprechen?«

Ich dachte mir, aha, so regelt ihr hier eure Angelegenheiten, schickt die Leute uneins in die Heide, und sie kommen mit einer Übereinkunft wieder heraus.

»Ich werde darüber schlafen«, sagte ich, »vielleicht lasse ich mich ja überzeugen.«

»Hätten Sie denn schon eine Idee, wie Sie es anlegen würden?«, fragte Nemec, worauf Janisch rief, »Geduld, Jaromir!«, um sich dann entschuldigend an mich zu wenden: »Er glaubt, Literatur zieht man fertig aus der Lade und klebt nur einen Preiszettel drauf, verzeihen Sie.«

Bibliothe-Karin flüsterte mir ins Ohr: »Falls Sie morgen mit Janisch in die Heide gehen, lassen Sie sich erzählen, wie er Anfang der Neunziger mit Salman Rushdie im Waldviertel auf Fahrradtour war, Sie werden niederbrechen vor Lachen.«

Als ich das Wirtshaus betrat, das seit meinen Jugendjahren renoviert und radikal entmieft worden war, bemerkte ich sofort den winkenden Simon, der »Meister!« rief und mich zu dem Tisch weit hinten im Lokal lotste, an dem er mit Maja, Franzi und meinem Sohn saß. Er war zweifellos ein Mann der großen Gesten und des Überschwangs, Eigenschaften, die er jedenfalls nicht mit mir gemein hatte, und die Franziska gewiss als interessanten Kontrast zu mir erlebte, falls sie überhaupt noch andere Männer mit mir verglich, oder das je getan hatte.

Ich grüßte in die Runde und setzte mich neben Maja, während ich zugleich ein Bier bestellte. Von den Nachbartischen wurde ich mit neugierigen Blicken bedacht, von der großen Tafel beim Kamin winkte mir ein graubärtiges Runzelgesicht zu, das ich zuerst für den Bürgermeister hielt, kurz darauf aber als den Alten identifizierte, der neben Maja und mir im Pub Whisky getrunken hatte, was nicht bedeuten musste, dass er nicht doch der Bürgermeister war. Ich winkte zurück.

»Wo warst du so lange?«, fragte Maja leise und mit einem angespannten Unterton.

»Ich habe Bücher signiert, eine Großcousine getroffen, und dann wurde ich gebeten, ein literarisches Statement zum Fall des Eisernen Vorhangs zu verfassen.«

»So spontan und im Stehen?«

»Nein, ich glaube, ich habe etwas Zeit dafür.«

»Es ist nur«, flüsterte sie, »weil wir nämlich seit einer Stunde hier sitzen, und das Gespräch nicht eben wie geschmiert läuft, was angesichts unseres Bekanntschaftsverhältnisses ja auch nicht weiter überrascht.«

»Maja ist übrigens auch Autorin«, sagte ich in die Runde, um das Gespräch in Gang zu bringen, »sie hat schon einen Preis gewonnen!«

»Ach, wirklich, was für einen Preis?«, fragte Franziska.

Maja sah mich kurz etwas unglücklich an, dann sagte sie aber tapfer und erhobenen Hauptes: »Den 1. Preis bei der Nacht der schlechten Texte

Es entstand ein Moment der Stille.

»Das ist ein ernsthafter Preis!«, erklärte ich, und Maja erwiderte gedämpft: »Warum sollten wir auch sonst darüber reden?«

Maja begann, das Konzept des Literaturpreises zu erläutern, und alle hörten ihr aufmerksam zu, sogar mein Sohn David. Kunst interessierte ihn, vor allem Musik, aber auch Literatur und Film. Wie er da neben seiner Mutter saß, mit seinen etwas längeren Haaren, der fast abgeheilten Akne und der dicken Brille, die ohne sein Zutun im Laufe der letzten Jahre cool geworden war, konnte ich mühelos alles Mögliche in ihm sehen, den Indie-Rock-Musiker, den Autor schräger Short-Storys, den besessenen Filmemacher, aber bei herabgeschraubter Erwartungshaltung auch den Redaktionsassistenten in einem Fernsehsender oder Junior-Texter einer Werbeagentur. Seine Lehrer sahen leider fast nur den Faulpelz und Leistungsverweigerer in ihm, aber bei mir war es mit siebzehn nicht anders gewesen, kein Stück.

Franziska wirkte Maja gegenüber ganz unvoreingenommen, und ich glaube, es kümmerte sie nicht sonderlich, ob sie vielleicht zu jung für mich war. Ich hätte ihr auch erzählen können, ich lebte nun mit einem Koalabären und dem Geist von Harald Juhnke zusammen, und sie hätte nur gelächelt und gesagt: Schön, wenn du glücklich bist, und vergiss nicht auf Davids Geburtstag! In den vier Jahren seit unserer Trennung war sie zufriedener, autonomer und selbstbewusster geworden, als sie es mit mir je hatte sein können, während ich alle Stadien der Orientierungslosigkeit und emotionalen Unsicherheit durchlaufen hatte, die für solche Anlässe vorgesehen waren. Heute führte sie einen Bio-Lebensmittelladen in Linz und fuhr das Saab-Cabrio, das ich ihr einst versprochen, aber nie geschenkt hatte, und ich … na ja, ich war ein Stück Arbeit.

Nachdem wir das Essen bestellt hatten, begann Simon wieder von dem Mönch aus meinem Roman zu schwärmen: »Eine richtige Kultfigur hast du da geschaffen.«

»Danke schön, aber er beruht ja auf einem realen Menschen.«

»Weißt du denn, wer er war?«, fragte Simon fasziniert.

»Ich kenne seinen Namen nicht, aber ich konnte aufgrund seiner Aufzeichnungen darauf schließen, in welchem Kloster er gelebt hat.«

Simon fragte mich nach dem Tagebuch, und ich erzählte, wie ich es auf einem Flohmarkt in Graz entdeckt hatte und wie fasziniert ich von der Lektüre gewesen war.

»Hast du in dem Kloster recherchiert?«, fragte Simon.

»Nein, ich wollte die Geschichte nicht mit noch mehr Realität zuspachteln, ich habe eher versucht, Fiktion zu untermischen.«

Das Essen kam, und das Gespräch begann sich unzusammenhängend um Beruf und Biografie zu drehen. Simon war Apotheker, und er führte den Traditionsbetrieb seiner Familie inzwischen in sechster Generation, allerdings, sagte er, zog er alles ein bisschen anders und unkonventioneller auf. Er war geschieden und hatte zwei erwachsene Kinder.

Während des Gesprächs schlich sich Bibliothe-Karin an mich heran und bat mich, nach dem Essen doch für einen Moment zu ihr an den Tisch zu kommen, wo der »Graf« und seine Schwester säßen und darauf hofften, mich kennenzulernen.

Ich dachte mir, bringe es gleich hinter dich, und wechselte mit meinem Teller mit Schokoladepalatschinken den Tisch. Der Graf war etwa Anfang dreißig, trug einen modischen Vollbart, Jeans und einen Trachtenjanker, und erschien mir wie ein vifer Bursche, jedenfalls gänzlich ohne Standesdünkel. Seine Schwester war etwas jünger, hübsch gelangweilt, und paffte uns mit ihrer E-Zigarette ein.

Der Graf stellte sich mir als Tassilo vor. Er beglückwünschte mich zu meiner Lesung, und sprach von seiner Hoffnung, dass sich etwas mehr Kultur in die Region verirre. Dann stellte er fest, eine Passage des Buchs habe ihn an Philippe Djian erinnert, was mich positiv verblüffte. Ich plapperte los, dass mir bei der Liebesbeziehung zwischen dem Mönch und der labilen Supermarktverkäuferin tatsächlich hin und wieder das Paar aus Betty Blue vor Augen gestanden hatte und Tassilo unbedingt die Abschnitte in der Originalversion lesen musste, die nicht für Provinzlesungen entschärft worden war (ich formulierte es etwas anders).

Um elf Uhr schloss das Wirtshaus, und wir wechselten ins Pub die Straße hinunter. Wir waren zu acht: meine Ex-Frau und ihr Simon, Bibliothe-Karin mit Mann, der Graf und sein Schwesterchen, Maja und ich. David war bereits ins Hotel zurückgegangen.

Ich bestellte eine Runde Averna Sour, die ich von dem Honorar für die Lesung aus der Hosentasche bezahlte. Bibliothe-Karin hatte mir das Geld im Nebenzimmer des Wirtshauses gegeben und gesagt: »Ich heiße übrigens Silvia.«

Ich hatte geantwortet: »Ich fürchte, Karin, dafür ist es jetzt zu spät …«

Ich hielt – inzwischen relativ angetrunken – eine kleine Ansprache über das Ende meiner Lesetour, die Rückkehr ins Dorf meiner Jugend, meine Ex-Frau, die eine neue Liebe gefunden hatte, meinen Sohn, dem ich wünschte, mehr von seiner Mutter als von mir zu besitzen, und meine bezaubernde Begleiterin Maja, deren literarischer Stern schon bald aufgehen werde. Dann fühlte ich mich verpflichtet, auch etwas über die anderen Anwesenden zu sagen, kam aber wieder einmal mit den Namen durcheinander, worauf mich Maja mit den Worten »Und Vorhang!« beiseitenahm und kurzerhand in Richtung Bar abführte. Als wir mit zwei Bier zur Gruppe zurückkehrten, hatte sich mein Sentiment beruhigt und wir stiegen in die allgemeine Plauderei ein. Nach einiger Zeit verlautbarten Simon und Franziska, sie hätten vor, ein paar Tage in Heidenholz zu bleiben. Ich rief: »Großartig, wir bleiben auch!« Der junge Graf sagte, dann müssten wir auch zu ihnen aufs Schloss kommen, Karin hatte auch noch ein paar Ideen, was man unternehmen könnte, und so war innerhalb einiger Minuten ein Plan für das ganze Wochenende erstellt.

»Bist du sicher, dass du das morgen auch noch willst?«, fragte mich Maja etwas später, und ich sagte: »Natürlich, wieso auch nicht?«

»Weil die Pläne deiner Nächte das Bedauern deiner Tage sind.«

Einen Moment schwieg ich, weil das so erschreckend zutreffend war. Dann sagte ich: »Niemand mag Autoren, die so hochgestochen reden, verhalte dich wie ein normaler Mensch!«

Als wir das Pub um zwei Uhr Früh verließen, sangen wir den Song weiter, der zuletzt gespielt worden war, es war Heal the World, und wir hielten uns dabei an den Händen.

3

Ich erwachte im Bett mit Maja. Ihre Füße lagen neben meinem Kopf, sie hatte sich also in der Nacht umgedreht, was vermutlich bedeutete, ich hatte geschnarcht.

Jemand klopfte an die Tür. Ich band mir meine Bettdecke um die Mitte, wankte durch das verdunkelte Zimmer und öffnete.

Karin stand draußen und fragte, ob sie mich auch nicht geweckt hätte. Ich sagte, ich sei schon munter gewesen, aber meiner Hose noch nicht begegnet. Warum sah sie so frisch aus? Sie war eigentlich hübsch, hätte sie nicht den schrecklichen unsymmetrischen Kurzhaarschnitt mit der roten Tönung gehabt. Landfriseure waren Verbrecher.

»Was gibt es denn?«, fragte ich.

»Möchtest du das Haus deiner Großeltern sehen?«

Seit gestern gegen ein Uhr dreißig sagten wir Du zueinander.

»Jetzt gleich?«

»Der Vermieter hätte gerade Zeit, er muss später nach Wien. Es ist ja jetzt ein Ferienhaus und es ist frei. Ich glaube, er will es dir umsonst geben.«

Ich sah ins Zimmer hinein, wie es um Maja stand: Sie schlief immer noch, auf dem Bauch liegend, das Kissen über ihrem Kopf.

»Ich bin in zehn Minuten unten«, sagte ich.

Ich nahm ein Kopfwehmittel, trank einen halben Liter Wasser aus der Flasche, putzte mir die Zähne und schlüpfte in mein Tennisdress. Ich hatte es gekauft, weil Maja und ich beschlossen hatten, sportlich zu werden, wozu es während unserer Reise aber noch nicht gekommen war. Als ich unten in meinen kurzen weißen Shorts und dem weißen Poloshirt erschien, sah mich Karin an, hob interessiert eine Augenbraue und sagte: »Hübsche Wadeln …«

Bevor ich erklären konnte, dass ich nur eine beschränkte Sommergarderobe dabeihatte, ging sie schon los und erzählte mir von dem Haus:

»Als es deine Großeltern verkauft haben, wurde es nur noch für ein paar Wochen im Sommer genutzt. Der jetzige Besitzer hat es dann renoviert und als Ferienhaus adaptiert. Es steht ziemlich gut da!«

Wir kamen am Gasthaus vorbei. Der Schanigarten war offen, Gäste frühstückten in der Sonne. Ich erkannte ein paar Gesichter vom Abend davor und grüßte.

»Die freuen sich, dich zu sehen«, sagte Karin, »du bist gut angekommen gestern.«

»Na ja, sie rechnen mit einem Sonderling, weil ihnen Schreiben als Beruf sonderlich vorkommt, und dann kriegen sie einen ganz normalen Kerl.«

»Es ist ja auch ein ungewöhnlicher Beruf, wie viele können denn vom Schreiben leben …«

»Die meisten Schriftsteller leben dafür, nicht davon

Karin lächelte und sagte: »Das hast du bestimmt schon oft gesagt.«

Ich zwinkerte ihr zu, dann sah ich das Haus am Ende der Straße, bevor der Wald begann.

»Da ist es. Da ist es wirklich!«

»Ich sage ja, eine zu früh abgebogen.«

Wir folgten der Straße – jene, die tatsächlich Richtung Grenze führte – bis zum Haus meiner Großeltern. Es sah von außen nahezu unverändert aus, nur schöner, neu hellgrün gestrichen, der Garten gepflegt. Ich öffnete die kleine Tür im Holzzaun und betrat den Vorgarten. Über der aufgearbeiteten Holztür war ein kleines, weiß gestrichenes Kupferdach, neben der Tür zwei Säulen mit Blumentöpfen – genau wie vor dreißig Jahren. Auf einem Kiesbett im Vorgarten standen ein alter Holztisch und zwei Stühle, auf dem Boden Töpfe mit Basilikum und Thymian. Die Sonne schien auf die Hausfront, die runden Fenster und das nach der Renovierung bereits wieder Moos ansetzende Dach, und ich stand ganz still und lauschte, ob die Geräuschkulisse noch dieselbe war wie früher. »Der Bach«, sagte ich, »man hört sogar noch den Bach!«

Karin winkte einem Mann zu, der gerade aus seinem Geländewagen stieg, den er an der Straße gegenüber geparkt hatte.

Er kam zu uns herüber und schüttelte mir die Hand. Er war etwa so alt wie ich und kam mir bekannt vor. Er war drahtig, seine Schläfen begannen grau zu werden, seine Nase war scharf geschnitten.

»Wolf, weißt noch? Meine Eltern haben den Laden im Ort geführt.«

Jetzt fiel es mir ein, er war der Ladenbursche, der vormittags immer beim Einschlichten der Lebensmittel geholfen hatte und manchmal, da waren wir schon älter, ein paar Bier und eine Neue Revue oder ein anderes Schmuddelheftchen aus dem Geschäft abzweigte.

»Oh Gott, natürlich erinnere ich mich an dich«, sagte ich, und fast hätte ich ihn für die Freigiebigkeit seiner Jugend umarmt.

»Ihr bleibt eine Weile?«, fragte er.

»Ein paar Tage, dachten wir.«

»So lange könnt ihr gern hier wohnen, war ja mal dein Haus. Übernimmst dann nur die Reinigung.«

Ich sagte: »Nein, das geht nicht, das ist verrückt. Ich erklär dir, wie das geht, du musst mich wie einen alten Freund behandeln, auf einen Kaffee einladen, aber nach dem Urlaub eine gesalzene Rechnung schicken, auch über den Kaffee. Das macht man so im Gastgewerbe, ich kenn mich da aus.«

»Siehst, ich weiß so was gar nicht, ich mach das ja nur als Hobby. Komm, ich zeig dir das Haus, wie’s jetzt ist.«

Wir bückten uns und betraten das Vorzimmer durch die niedrige Tür. Er führte mich durch die Räume: die Stube, das kleine Schlafzimmer, das Bad, dann kletterten wir über die schmale Stiege in den zweiten Stock. Die meisten alten Holzmöbel hatte er behalten und aufgearbeitet, Küche und Bad, Böden und Fenster waren neu. Er wies mich auf Materialien hin, sprach über die Dämmung, die Heizung, Herausforderungen bei der Renovierung.

Ich erzählte, wie einfach alles gewesen war, wie es gerochen hatte. Wolf nickte bloß und verschränkte die Arme, und da begriff ich, dass er das alles ja gekannt hatte und wusste, wie es früher gewesen war, aber einfach völlig ohne Nostalgie auf die Zustände von früher zurücksah.

Wieder im Erdgeschoß deutete er auf den großen Holztisch in der Stube, auf den die Sonne den Halbkreis des Fensters nachzeichnete, und sagte: »Ich glaub, das ist ein guter Platz zum Schreiben, vielleicht fällt dir ja was ein.«

Karin fragte ganz unbekümmert: »Trinken wir einen Schnaps?«

Wolf nickte, als wäre diese Anregung längst überfällig gewesen, öffnete die Tür einer Anrichte und nahm eine Flasche Obstler und Gläser heraus. Ich sagte, dass ich noch gar kein Frühstück gehabt hatte, er goss ungerührt ein, wir prosteten an und tranken ohne abzusetzen.

»Gut ist der«, sagte ich, und alles wurde unscharf.

Wolf gab mir den Schlüssel, dann schlug er vor: »Ich bin ab morgen wieder in Heidenholz, wir können ja mal die Burschen zusammenrufen und ein paar Bier trinken.«

»Unbedingt!«, rief ich. Dann fiel mir noch etwas ein: »Was ist denn eigentlich aus Marianne geworden?«

»Marianne? Sie lebt schon lange nicht mehr hier. Sie ist jetzt in Reintal, das ist fünf Kilometer von hier.«

»Das wäre zur Not ja noch zu erreichen.«

Als Wolf abgefahren war, setzten Karin und ich uns auf die Stühle im Vorgarten, streckten die Beine aus und lauschten auf die Geräusche dieses Sonntags, das Summen der Insekten, das Rauschen des Bachs, das Knistern der Speichen der Fahrradtouristen.

»Dass er mir das Haus einfach so gibt …«, sinnierte ich, während langsam meine Sehkraft zurückkehrte.

»Ihm gehören noch ein paar Häuser in der Gegend, und angeblich hat er viel Geld mit Bitcoins gemacht«, sagte Karin.

»Mit Bitcoins?«, fragte ich.

»Hab ich gehört …«

»Ich hab 2011 das Honorar für eine Lesung in Bitcoins bekommen.«

»Die wären jetzt aber viel wert.«

»Ich hab keine Ahnung, wo ich sie hab!« Eine Weile schwiegen wir, dann sagte ich: »Ich hätte Lust, in den Bach zu pinkeln, wie früher.«

Karin zuckte die Schultern. »Schau halt, ob die Nachbarskinder nicht grad drin spielen.«

Später spazierten wir zurück ins Stadtzentrum. Karin erzählte mir von der Lesung, die eine Woche davor stattgefunden hatte, und dass weniger los gewesen sei. Ich freute mich ein wenig, weil genau dieser Autor bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Buchhändlerin nach Hause gegangen war, auf die ich selbst ein Auge geworfen hatte (das war noch vor Maja gewesen). Die Sache dürfte aber nicht gut für ihn ausgegangen sein, eine Woche später waren seine Bücher aus ihrer Auslage verschwunden.

Als uns der kleine Grenzforscher Janisch von gestern Abend entgegenkam, vertieft in eine Unterhaltung mit einem anderen Mann, griff ich nach Karins Arm, zog sie in eine Seitengasse und sagte, ich wolle einmal einen anderen Weg probieren.

Als ich wieder das Hotelzimmer betrat, war es kurz nach zehn. Ich setzte mich zu Maja ans Bett. »Wir haben das Frühstück verpasst«, sagte ich.

»Wir haben auf dieser Reise jedes Frühstück verpasst.«

»Nicht das in Reichenau.«

»Aber da gab es keine Brötchen mehr!«, rief sie, immer noch verbittert deswegen.

Sie rieb sich die Augen, zerrte an ihren Haaren, streckte sich, zog die Knie an die Brust und schloss wieder die Augen.

»Holst du mir einen Himbeersaft mit Bläschen?«, sagte sie mit träumerischem Lächeln.

Ich seufzte. »Und wenn sie kein Kracherl haben?«

»Einen Almdudler. Aber bitte mach, dass sie ein Kracherl haben.«

Am Morgen nach unserer ersten gemeinsamen Nacht wollte sie auch ein Kracherl haben. Ich lief im Regen durch den südburgenländischen Ort, in dem ich mein Schreibseminar abhielt, und klapperte die zwei Gasthäuser und die Tankstelle auf der Suche nach Himbeersoda ab.

Meine erste Begegnung mit Maja: Ich stand an der Bushaltestelle von Hasendorf, es war Ende Oktober vor eineinhalb Jahren, und ich erwartete die ersten drei von insgesamt sechs Seminarteilnehmern. Ich hatte alle, die sich mit einer Arbeitsprobe beworben hatten, angenommen, denn ich war abgebrannt und brauchte ihre Seminargebühren, um zwei Kronen im Mund und ein paar Termine beim Osteopathen bezahlen zu können. Aber die Texte von Maja, die gefielen mir, sie waren böse und ungezwungen, und ich war neugierig auf die Frau.

Sie stieg aus dem Bus, groß und dünn, enge grün-schwarz gestreifte Röhrenhosen, ein Wollschal, den sie zehnmal um ihren Hals geschlungen hatte, die blonden Haare verwuschelt, überladen mit Rucksack, Reisetasche und Laptopbeutel. Sie knallte die Tasche auf den Boden, ließ sich darauf nieder und zündete sich eine Zigarette an, während sie mit ihren hellblauen Augen wenig begeistert die Atmosphäre von Hasendorf einsog. Damals wusste ich noch nicht, dass die Provinz unser Schicksal war, dass wir am Dorf am glücklichsten waren und in der Stadt einfach nicht miteinander klarkamen.

Ich stellte mich vor ihr auf, fragte: »Maja?«

Sie sah zu mir hoch, blinzelte, reichte mir die Hand.

Ich sagte: »Herzlich willkommen in der Literaturgemeinde Hasendorf!«

Sie sah mich an, als sei das ein Witz, und das war es ja auch.

»Bin ich die Einzige hier, und es kommt auch niemand mehr, und du brauchst bloß jemanden für deinen Bauernhof?«

»Ich rechne mit fünf weiteren Literaturnarren, und wir werden an diesem Wochenende viel über das Schreiben, uns selbst, und ein Leben ohne Pizzalieferanten lernen.«

»Na, mal sehen«, sagte sie und hievte sich hoch.

»Bist du aus Bayern?«, fragte ich.

»Saarland«, sagte sie.

»Aha«, sagte ich, denn dazu fiel mir nichts ein.

»Wieso findet das eigentlich hier statt und nicht in Wien, wo du ja auch wohnst, wenn das Internet da nicht lügt …?«, fragte sie.

Die Antwort auf Majas Frage war: Mein Freund Manfred, der auch mein Agent war, stellte mir den Seminarraum seines Hofs zur Verfügung, und so günstig und komfortabel war so etwas in Wien natürlich nicht zu bekommen. Plus wir bekamen eine nette Förderung vom Land Burgenland.

Stattdessen sagte ich: »Der Hasendorf-Spirit. Wegen dem. Komm, ich zeig dir das Rückhaltebecken. Ist jetzt aber leer.«

»Sollten wir nicht noch auf die anderen warten?«

Jetzt fiel mir auf, dass noch zwei weitere Menschen unentschlossen auf der Verkehrsinsel standen, ein junger Mann in Lederjacke und eine Frau Mitte fünfzig, die einen Poncho trug. Ich fragte sie, ob sie zu mir gehörten, und schließlich stiegen wir zu viert in meinen Volvo und fuhren die achthundert Meter zum Hof meines Freundes.

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