Kitabı oku: «Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist», sayfa 2
Echter Champagner
Und dann gibt es noch Mischformen stofflicher und sozialer Echtheit. Fälle, in denen wir etwas als echtes X anerkennen, weil es stoffliche Echtheitskriterien und darüber hinaus soziale Echtheitskriterien erfüllt.
Denken wir an Champagner.
Champagner ist einerseits Champagner, weil er Schaumwein ist – und kein Bier oder keine Coca-Cola oder Putzwasser. Das ist der stoffliche Anteil. Die Schaumwein-Kriterien müssen auf physischer Ebene erfüllt sein. Andererseits ist echter Champagner nur dann echter Champagner, wenn er aus der Champagne kommt, also aus einer Region in Frankreich. Die Trauben müssen auf eine genau geregelte Art angebaut und verarbeitet (Pflanzungsdichte, in einem genau abgegrenzten Gebiet, Ertragsbeschränkung, Flaschengärung, Mindestlagerzeit auf der Hefe usw.) werden. Sonst ist es kein echter Champagner. Schaumwein, der diese (sozialen) Kriterien nicht erfüllt, nennt man Sekt. Champagner ist nur der Sekt aus der Champagne, weil wir uns als Gemeinschaft darauf geeinigt haben, nur diesen Sekt als Champagner anzuerkennen.
Echt ist das, was wir gemeinschaftlich als echt anerkennen.
Von der Perücke, die als Echthaar durchgeht, über falsches Geld, mit dem man dennoch bezahlt, bis hin zu Silikonbrüsten. Vom falschen Polizisten bis hin zum falschen Arzt.
Was echt ist und was unecht, hat also sowohl mit Schein als auch mit Sein zu tun.
Was zunächst echt zu sein scheint, ist es deswegen noch lange nicht.
Falschgeld kann nichts dafür, dass jemand es gefälscht hat. Bei Menschen ist die Lage anders. Menschen wissen nämlich in der Regel sehr wohl, ob sie selbst etwas sind oder nur so scheinen wollen. Wer vor anderen Schein und Sein vertauscht, ist unaufrichtig. Vor allem handelt es sich beim »absichtlich etwas vorspielen, das gar nicht wahr ist« um eine bewusste Täuschung.
Der Täuschungsaspekt steht in direkter logischer Beziehung zum Problem der Wahrheit und der Echtheit. Täuschen bedeutet ja nichts anderes als das: einer Unwahrheit den Schein der Wahrheit zu geben bzw. einer Unechtheit den Schein der Echtheit. Niemand praktiziert aus Versehen als (falscher) Arzt, niemand tritt aus Versehen als (falscher) Polizist auf.
Eine unabsichtliche Verwechslung kann man natürlich schnell aufklären. Wer mit weißem Hemd im Krankenhaus von einer Patientin gefragt wird »Entschuldigung, arbeiten Sie hier?«, der entscheidet sich in dem Moment, wenn er antwortet, zwischen Schein oder Sein. Verwechslungen sind normal und gehören zum Alltag dazu. Ein bewusstes Täuschen über die Wahrheit der Dinge findet dann statt, wenn ich weiß, dass das, was ich vortäusche, nicht der Wahrheit entspricht – ich aber so tue als ob, damit die andere Person das Vorgetäuschte für Wahrheit hält.
Ein Kernproblem bei der philosophischen Frage nach Echtheit ist also das So-tun-als-ob.
Nicht jedes So-tun-als-ob ist aber ein Wahrheitsproblem. Zum Problem wird es, wenn man dadurch andere absichtlich täuschen will (ggf. böswillig, zum eigenen Vorteil). Breivik tat so, als wäre er ein echter Polizist, um sich Zugang zur Insel Utøya zu erschleichen. Beltracchi tat so, als wären seine Kunstwerke die von anderen (bekannteren) Malern.
Doch was passiert, wenn tatsächlich alles nur Schein ist?
Das Truman-Show-Problem9
Erinnern Sie sich an den Film The Truman Show (1998)? Er erzählt die Geschichte von Truman Burbank; ein Durchschnittsbürger, der in der harmonischen Kleinstadt Seahaven ein ganz normales Leben führt. Zumindest so lange, bis Truman nach einigen Zwischenfällen skeptisch wird. Nach und nach erfährt der Zuschauer die ungeheuerliche Wahrheit: Truman Burbank wurde als Kind von einer Firma adoptiert, die ihn in der künstlichen Stadt Seahaven aufwachsen ließ; umgeben von Schauspielern und nonstop gefilmt. Das Drama seines täglichen Lebens hat ihn ohne sein Wissen zu einem Serienhelden für Millionen von Zuschauern gemacht – vom ersten Wort über den ersten Kuss bis zum ersten Job. Jede Episode seines Lebens wurde live und natürlich ohne Probe mitgeschnitten und gesendet. Sein ganzes Dasein: Inszenierte Unterhaltung. Unecht. The Truman Show.
Das wussten auch alle.
Nur einer nicht.
Truman.
Diese bitterböse schwarze Komödie zeigt echte existenzielle Dramatik. Wie wäre es für Sie, wenn Sie herausfinden würden, dass Sie nicht nur einmal belogen wurden, sondern immer und von allen? Dass niemand der ist, der er zu sein scheint? Und alle nur so tun, als ob.
Machen wir ein philosophisches Gedankenexperiment. Denken wir uns zwei Trumans. Der erste ist der Truman-Show-Truman. Er wächst tatsächlich in einer inszenierten Wirklichkeit auf. Nichts Wesentliches ist im engeren Sinne echt. Nichts Wesentliches. Das bedeutet: Wir können davon ausgehen, dass Truman vermutlich »echte Spaghetti« gegessen und »echte Jeans« getragen hat. Die wesentlichen Dinge, das Existenzielle – Freundschaften, Liebe: alles nicht echt. Nach und nach kommt er dahinter und wird vollkommen zu Recht von existenziellem Horror ergriffen. Er erfährt eine Wahrheit, die seine Welt erschüttert. Nennen wir diesen Truman den echten Truman.
Stellen wir uns nun einen zweiten Truman vor. Dieser Truman wächst in der ganz normalen Wirklichkeit auf. Hat normale Freunde, eine normale Vergangenheit, alles ist stinknormal und so echt, wie unser aller Leben echt ist. Keine Kameras. Allerdings ergreift ihn eines Tages eine Angst. Er fühlt sich beobachtet. Er zweifelt an seinen Mitmenschen. Was, wenn die alle nur schauspielern? Nicht echt sind? Wo, um Gottes willen, sind die Kameras?
Den zweiten Truman nennen wir den paranoiden Truman.
Beide Trumans teilen die Überzeugung, dass die Welt sich gegen sie verschworen hat.
Aber nur einer hat recht.
Es reicht nämlich nicht aus, dass wir bloß der Überzeugung sind, recht zu haben. Der paranoide Truman denkt auch, dass er recht hat. Das ist ja die Quelle seiner Angst. Recht hat allerdings nur der echte Truman. Warum? Weil seine Vorstellungen der Wirklichkeit entsprechen. Er wird wirklich beobachtet. Seine Freunde sind wirklich ausschließlich Schauspieler. Es ist wirklich alles inszeniert, und jeder hat sich gegen ihn verschworen.
Deswegen ist der echte Truman zu Recht ergriffen von einer existenziellen Angst. Der paranoide Truman ist zwar auch ergriffen von Panik, aber zu Unrecht. Es gibt keine Kameras, keine Schauspieler, keine Inszenierung.
Das ist das Problem mit gefühlten Wahrheiten.
Echtheit und Unechtheit muss man nicht nur erkennen, um sie zu unterscheiden – man muss sie richtig erkennen.
Schlimmstenfalls geht das schief.
Was für Gemälde, Champagner und Polizisten gilt, gilt auch ganz allgemein: Was echt ist und was nicht, ist keine reine Kopfsache. Echtheit zu erkennen heißt vor allem: die äußere Welt richtig zu erkennen.
Das Kriterium, ob unser Glaube an eine Verschwörung richtigliegt oder nicht, kann nicht allein im Kopf sein. Immerhin denken beide Trumans ja exakt dasselbe: »Alles um mich herum ist nicht echt.«
Ob du dich irrst, ist Frage der Wirklichkeit!
Klar, die Überzeugung ist in deinem Kopf. Das Kriterium der Richtigkeit für deine Überzeugung liegt allerdings in der Außenwelt. Soll heißen: Es liegt nur dann eine Verschwörung gegen dich vor, wenn tatsächlich eine Verschwörung gegen dich angezettelt wurde.
Es geht also auch und immer darum, Vorstellung und Wirklichkeit bestmöglich miteinander in Einklang zu bringen. Die Welt sinnvoll und nachvollziehbar zu beschreiben.
Weil das leichter gesagt als getan ist, scheitern viele Menschen hieran. Nicht nur Verschwörungstheoretiker. Aber die besonders. Verschwörungstheorien haben nämlich eine gewisse intellektuelle Sexyness. Weil sie an diese grundlegende menschliche Sehnsucht nach Wahrheit und Echtheit anknüpfen. Sie machen attraktive Vorschläge zur Erklärung der Wirklichkeit. Vorschläge, die oft nicht viel mit der Realität zu tun haben, die sich aber ziemlich wahr anfühlen.
Der paranoide Truman lehrt uns: Gefühlte Wahrheiten sind keine. Wirklichkeit (und Wahrheit) liegt nicht im Kopf, sondern in der Außenwelt, in der sich der Kopf befindet. Genauer gesagt: Wahrheit ist eine Beziehung zwischen deinem Kopf und der Welt. Dabei ist es egal, ob es um Gold geht oder einen Menschen in Polizeiuniform. Was richtig und was falsch ist, was echt und was unecht ist – davon haben wir Überzeugungen. Überzeugungen, deren Richtigkeit sich an der Wirklichkeit messen lassen müssen. Schlimmstenfalls ist dein Diamantring aus Glas und dein Psychiater ein Hochstapler.
Krisenschauspieler und mediale Echtheit
»Das ist doch alles gar nicht echt!«, ist eine Reaktion, die heutzutage häufig anzutreffen ist. Vor allem im Internet. Oder bei Terroranschlägen und Amokläufen.
Klingt unglaublich, ist aber so.
Fast immer, sobald eine Nachricht schockierender, brutaler Ereignisse um die Welt geht, sind sie zur Stelle. Diejenigen, die »Fake!!« brüllen.
In den letzten Jahren häufen sich Kommentare, die schreckliche Ereignisse wie den Anschlag auf die Sandy Hook Elementary School oder auch das Attentat auf den Berliner Breitscheidplatz als gefälscht bezeichnen. Verschwörungstheoretiker sagen, in echt sei nichts davon passiert. Mehr noch: Die Menschen, die einem in den Medien präsentiert werden, seien gar keine echten Opfer, gar keine echten Verletzten, gar keine echten Zeugen. Das seien alles Schauspieler. Krisenschauspieler. Indem man aber diejenigen, die unter einem schrecklichen Ereignis zu leiden hatten (und vielleicht sogar gestorben sind), einer Täterschaft beschuldigt, vollzieht man eine Täter-Opfer-Umkehr oder ein blaming the victim, ein böswilliges Beschuldigen und Verhöhnen des Opfers.
Alles eine große Täuschung.
Was so absurd klingt wie die Paranoia des paranoiden Truman aus unserem Gedankenexperiment oben, ist heute weit verbreitete, bittere Realität. Im Internet wimmelt es von Menschen, die anderen Menschen vorwerfen, nur Krisenschauspieler zu sein. Menschen, die wütend werden, weil man ihnen ihrer Meinung nach etwas vorgaukelt. Menschen, die zu Mobbing und Gewalt greifen, weil sie es satthaben, andauernd von »den Mainstream-Medien« über »den echten Lauf der Dinge« getäuscht zu werden.
Aber der Reihe nach.
Was ist hier los?
Für uns, die wir – zumindest aus Perspektive vieler Verschwörungstheoretiker gesehen – noch naiv genug sind, den »Mainstream-Medien« Glauben zu schenken, steht fest: In der Welt geschehen auch schreckliche, gewalttätige Dinge wie Amokläufe und Terroranschläge. Rolle der Medien ist es, die Öffentlichkeit so verantwortungsvoll und präzise wie möglich über alle wichtigen Geschehnisse zu unterrichten. Was ist durch wen geschehen, wo, wie und bestenfalls auch: warum. Diese Berichterstattung – ob nun z. B. über das Anis-Amri-Attentat auf den Breitscheidplatz, den Massenmord durch Stephen Paddock in Las Vegas 2017 oder den 11. September 2001 – ist vielleicht nicht immer sofort zu hundert Prozent fehlerfrei (und ist auch oft im Interesse der Täter, die ohne Berichterstattung nicht bekannt werden würden). Eventuelle Fehler in der Berichterstattung ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass die grundlegenden Informationen stimmen. Für die genannten Beispiele heißt das: Es gab einen LKW-Anschlag durch einen islamistischen Extremisten auf Weihnachtsmarktbesucher am Berliner Breitscheidplatz. Es gab einen Angriff in Las Vegas, bei dem ein Schütze mit automatischen Schnellfeuerwaffen aus einem Hotelfenster ins Publikum eines Country-Konzertes schoss. Es gab von Osama bin Laden geplante Flugzeugentführungen, die den Einsturz beider Türme des World Trade Centers herbeiführten.
Das ist die klassische Vorstellung von echten Ereignissen und von Medien, die uns wahre Nachrichten über echte Ereignisse vermitteln. Der Grundgedanke: Wir entnehmen den Nachrichten Wahres über die echte Welt. Die Medien täuschen uns nicht. Sie informieren.
So viel sollte Konsens sein, oder?
Falsch.
Verschwörungstheoretiker sehen das anders.
Lügenpresse
Lügenpresse, Lügenpresse, Lügenpresse. In den letzten Jahren ist der Lügenpresse-Vorwurf immer populärer geworden. Ob seine Vertreter nun »Lügenpresse!« oder wie der US-amerikanische Präsident »Fake News!« brüllen, beide meinen dasselbe: »Du kannst ›den Medien‹ nicht trauen. Sie lügen. Sie belügen dich, mich, uns alle. Absichtlich.«
Welche Medien die Lügenmedien sind, ist eine Frage der Perspektive. Faustregel: Lügner sind alle diejenigen, die der Sprecher aus welchen Gründen auch immer nicht mag und deshalb zu solchen erklärt. In der Regel sind es große Zeitungen und Fernsehsender, die im Verschwörerdenken entsprechend »Mainstream-Medien« (kurz: MSM) genannt werden. Da sie angeblich lügen, ist der Wahrheitswert ihrer Nachrichten vernachlässigbar. Lügenvorwürfe sind dabei beides – sowohl Vorwürfe der Unwahrheitsbehauptung als auch ein Absprechen der Glaubwürdigkeit.
Mehr noch: Medien seien manipulativ.
Wer lügt, hat nämlich Motive.
Gründe, warum er lügt.
Ein solcher Lügenpresse-Vorwurf ist ein verschwörungstheoretischer Vorwurf, weil er besagt, dass die Medien sich – gemeinsam mit Hintermännern – heimlich verschworen haben, um die Öffentlichkeit absichtlich über den echten, den wahren Lauf der Dinge zu täuschen. »Lügenpresse« bedeutet, dass manipulative Medien eine leichtgläubige Öffentlichkeit über den echten Lauf der Dinge täuschen.
9/11? War die Bush-Regierung selbst.
Anis-Amri-Attentat? So nicht passiert.
Las Vegas Shooting? Überhaupt nicht passiert.
Mondlandung? In den Hollywood-Studios gedreht.
Was zunächst nach verrückten Außenseiterpositionen klingt, wird von erschreckend vielen Menschen geglaubt und nach außen vertreten. Der Journalistikprofessor Tanjev Schultz schreibt:
»Etwa jeder fünfte Bürger in Deutschland stimmt nach einer Umfrage [2017] der Aussage zu, ›die Medien und die Politik arbeiten Hand in Hand, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren‹ (ein Jahr zuvor stimmte jeder vierte Befragte zu)«.10
Treffe zufällig einen Leser persönlich.
»Sie schreiben nie etwas Kritisches über Merkel oder die Bundesregierung!«, sagt er. »Sie stecken doch alle unter einer Decke!«
Ich antworte: »Äh, doch. Also, ich bin ja Auslandskorrespondent, Merkel ist in den seltensten Fällen mein Thema. Aber natürlich schreiben meine Kolleginnen und Kollegen kritisch über deutsche Politik, auch über Merkel.«
»Zeigen Sie’s mir!«
Ich nehme mein Handy und zeige ihm mehrere Artikel auf Spiegel Online.
»Da und da und da. Sehen Sie? Mehrere Artikel am Tag, die sich kritisch mit der Bundesregierung auseinandersetzen.«
Er guckt auf mein Telefon, dann schaut er mich kritisch an.
»Das ist ein Zufall! Sonst schreiben Sie nichts Kritisches über Merkel!«
Ich klicke ins Archiv und suche mehrere Artikel raus.
»Sehen Sie? Da, da, da, da, da, da und da. Ich könnte stundenlang weitermachen.«
Er guckt mich mit zugekniffenen Augen an, verschränkt seine Arme vor sich und sagt: »Ich glaube Ihnen trotzdem nicht!«
Was soll man mit solchen Leuten weiter reden? Wenn solche Leute die Zukunft Deutschlands sind, dann ist dieses Land wirklich bald im Eimer.
Anekdote des Journalisten Hasnain Kazim 11
Angriff unter falscher Flagge
Im Zusammenhang mit dem »Das ist in Wahrheit alles nicht so passiert, wie uns die Medien glauben machen«-Vorwurf fällt oft ein weiteres Schlagwort: False Flag Operation. Eine False Flag Operation bzw. ein Einsatz unter falscher Flagge ist ein militärischer Ausdruck, der ursprünglich aus der Seefahrt stammt. Schiffsflaggen waren bekanntlich dafür da, Schiffe zu identifizieren. Wer unter falscher Flagge segelte, führte demnach nichts Gutes im Schilde. Das Segeln unter falscher Flagge ist ein Täuschungsmanöver. Ein Schiff konnte so seine wahre Identität verschleiern – und den Feind glauben lassen, dass man jemand sei, der man gar nicht ist: ein klassisches Echtheitsproblem bzw. Schein-Sein-Problem, ähnlich wie der Terrorist Breivik in seiner Polizeiuniform. Statt über die eigene Flagge, die im Konfliktfall als feindlich erkannt werden würde, identifiziert man sich unter falscher Flagge als Verbündeter oder als Neutraler. Man nutzt die Annäherung und den Überraschungseffekt und überrumpelt den getäuschten Gegner. So viel zu Begriffshintergrund und Metaphorik.
Nennt man einen Amoklauf oder einen Terroranschlag eine False Flag, bedeutet das: Da läuft etwas nicht so ab, wie es abzulaufen scheint. Da sitzt jemand anders am Ruder. Wieder einmal geht es um den fundamentalen Unterschied zwischen Schein und Sein. Echt und unecht.
Verschwörungstheoretiker nutzen mindestens zwei Varianten des Falsche-Flagge-Arguments:
Ich unterscheide ein moderates Falsche-Flagge-Argument von einem radikalen Falsche-Flagge-Argument.
Die moderate Variante lautet:
»Ereignis X ist passiert, aber nicht so, wie die ›offizielle Story‹ bzw. die Medien es darstellen.«
Ein klassisches Beispiel ist die »9/11-Truther-Bewegung«. Der Name ist Programm: Die Leute nennen sich »Truther« bzw. »9/11 Truth Movement«, weil sie, na klar, aus ihrer Sicht auf Seite der Wahrheit stehen. Sie behaupten nämlich, die Anschläge am 11. September seien in Wahrheit von der Regierung selbst geplant und von ihren Handlangern ausgeführt worden, u. a. um Gründe für den Irakkrieg zu haben (ein historischer Vorgänger einer Theorie mit dieser Schlagrichtung besagt, die USA hätten vorab um den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor gewusst und ihn absichtlich geschehen lassen, um so ihre schwache Flotte loszuwerden und gestärkt mit Neubauten in den Zweiten Weltkrieg eintreten zu können). Die 9/11-Truther sagen, der 11. September sei ein »inside job« gewesen – also von innerhalb der eigenen Regierung geplant und von Schattenmännern ausgeführt. Massenmord an der eigenen Bevölkerung aus politischen Motiven.
Die radikale Variante des False-Flag-Arguments besagt:
»Ereignis X ist niemals passiert. Alles, was wir über Ereignis X in den Medien sehen, ist eine Täuschung. Unecht.«
Das Sandy-Hook-Shooting ist tragischerweise so ein Fall. Also ein Fall, wo diese Behauptung fällt. Im Jahr 2012 ermordete ein Attentäter im US-Bundesstaat Connecticut in der Kleinstadt Newtown 20 Kinder und sechs Angestellte der örtlichen Grundschule. Quasi in Echtzeit fingen Verschwörungstheoretiker an, die Wahrheit der entsprechenden Berichterstattung in Zweifel zu ziehen.12 Sandy-Hook-Verschwörungstheoretiker sagen: »Der Amoklauf hat nicht stattgefunden. Überhaupt nicht. Die Menschen, die uns in den Medien als Betroffene präsentiert werden, sind lediglich Schauspieler.«
Im Gegensatz zu einem »paranoiden Truman«, der wahnhaft anfängt, die Glaubwürdigkeit seiner ganzen Umgebung anzuzweifeln, handelt es sich hier um eine gezielte Verschwörungsüberzeugung in Bezug auf bestimmte Ereignisse (inzwischen hat sich diese Reaktion weitgehend ritualisiert: Auf einen Anschlag folgen sofort und quasi automatisch Anschuldigungen über Unechtheit). Der Verschwörungstheoretiker abstrahiert von dem, was er in den Medien sieht, und sagt: Alles diesbezüglich ist Lug und Trug – »sie« wollen uns glauben machen, dass dies soundso abgelaufen ist, aber in Wahrheit ist es das nicht (»abstrahieren« ist hier dabei im Wortsinne zu verstehen: weg von den Gegenständen gehen, verallgemeinern).
Alles unecht.
Falsch.
Fake.
Verschwörungstheoretiker gehen so weit, zu behaupten, im Rahmen einer False-Flag-Operation (also eines großen Täuschungsmanövers) kämen ausgebildete Krisenschauspieler zum Einsatz, um die Öffentlichkeit zu belügen. Unter Beihilfe der Medien.
Warum?
Gute Frage.
Wie so oft bei Verschwörungstheorien lautet die Antwort: Hintermänner. Hintermänner und ihre bösen Absichten kontrollieren das Geschehen.
Im Fall von Anschlägen wie dem Sandy-Hook-Shooting oder auch dem Las-Vegas-Attentat geht die Erzählung der Verschwörungstheoretiker wie folgt:
»Die Medien wollen die Öffentlichkeit fälschlicherweise glauben lassen, viele Menschen seien (unschuldig) durch gefährliche halbautomatische Waffen gestorben, in der Absicht, ein schlechtes Licht auf diese Waffen und ihre Besitzer zu werfen. Es ist eine Verschwörung gegen uns Waffenliebhaber zugange. Sie wollen uns die Waffen wegnehmen.«
Tatsächlich ist ein schärferes Waffengesetz in dem Bundesstaat des Newtown-Massakers in Kraft getreten, als Reaktion auf den Amoklauf. Das werten Verschwörungstheoretiker als Indiz für eine Verschwörung, anstatt es wie jeder normale Mensch als logische Folge eines Verbrechens und entsprechende Maßnahme zur Prävention zukünftiger Verbrechen zu sehen. Die unliebsamen Konsequenzen werden zum eigentlichen Ziel erklärt. Und jeder Zweifel daran ist nur ein neuer Beweis für die Schlagkraft und den Einfluss der Verschwörung.
Wie sich eine False-Flag-Unterstellung anhören kann, lesen wir hier:
»Sandy Hook ist gekünstelt, komplett gefälscht, mit Schauspielern; aus meiner Sicht: erfunden. Zunächst konnte ich es nicht glauben. Mir war klar, dass Schauspieler vor Ort waren, natürlich, aber ich dachte, sie hätten wirklich ein paar Kids getötet – dass sie Schauspieler eingesetzt haben, zeigt einfach, wie sicher sie sich ihrer Sache sind.«13
Dieses Zitat stammt von Alex Jones. Mit seiner Plattform Infowars erreicht Jones monatlich Millionen von Menschen weltweit (ist allerdings auf bestimmten sozialen Medien gesperrt worden) und verdient mit solchen Gedanken gleichzeitig Millionen von Dollar. Im Jones-Zitat lesen wir zwei verschiedene Varianten des Falsche-Flagge-Arguments. Zunächst war Jones bezüglich des Amoklaufs an der Sandy-Hook-Grundschule Anhänger des moderaten Falsche-Flagge-Arguments – es sei wirklich etwas Schreckliches vorgefallen (»sie hätten wirklich ein paar Kids getötet«), wenn auch vermutlich anders als medial dargestellt. Dann ging er zum radikalen Falsche-Flagge-Vorwurf über, der die Echtheit von Sandy Hook als Ganzes anzweifelt (»Sandy Hook ist gekünstelt, komplett gefälscht, mit Schauspielern«).
An dieser Stelle möchte ich kurz eine Anekdote zu Alex Jones selbst erzählen.
Als Jones 2017 wegen eines Sorgerechtsstreits mit seiner Ex-Frau vor Gericht stand, sagte sie aus, ihr Ex-Mann sei nicht psychisch stabil und sein öffentliches Verhalten unpassend für den Umgang mit den gemeinsamen Kindern. Daraufhin entgegnete Jones’ Anwalt allen Ernstes, sein Mandant sei ein »Performancekünstler« und würde seine »Figur« als verrückter Internet-Verschwörungstheoretiker lediglich vor seinem Publikum »spielen«. Ganz recht: Derjenige, der die Echtheit und Aufrichtigkeit anderer quasi berufsmäßig böswillig anzweifelt, lässt sich privat vor Gericht mit einer »Das ist alles gar nicht echt«-Strategie verteidigen. Als wäre das nicht verrückt genug, ging Jones anschließend zurück in seine Sendung und dementierte Medienberichte über seinen Gerichtsprozess und seine kuriose Verteidigungsstrategie und verkündete, er sei so »authentisch und hardcore und echt, wie es nur geht, und jeder weiß das«. Das texanische Gericht sprach der Kindesmutter das Sorgerecht zu (Jones darf die gemeinsamen Kinder jedoch besuchen).
Doch zurück zum Thema: Beide False-Flag-Varianten basieren auf dem subjektiven Eindruck, immer getäuscht und belogen worden zu sein. Unterschiedlich ist jedoch jeweils das Ausmaß. Es zeigt sich eine fundamentale Eigenschaft von Verschwörungstheoretikern: Die Überzeugung oder auch das Bauchgefühl, immer und überall über den echten Lauf der Dinge getäuscht zu werden.
Auf theoretischer Ebene hat die zweite Argumentform des Falsche-Flagge-Krisenschauspieler-Arguments zwei Komponenten.
Erstens: Alles, was ich sehe, ist nicht echt, sondern inszeniert.
Zweitens: Alles, was ich sehe, wurde von jemandem inszeniert. Wie echte Schauspieler handeln auch Krisenschauspieler nicht ohne Regie und Drehbuch. Jemand steckt dahinter. Und warum? Jemand steckt dahinter, um zu täuschen. Deswegen sind False-Flag-Vorwürfe in der Regel Verschwörungstheorien. Weil Urheber mit bösen, heimlichen Absichten notwendiger Bestandteil des Schauspielvorwurfs sind.
Es wird sich auch kein vermeintlicher Krisenschauspieler hinstellen und sagen: »Ja, klar, ich bin Schauspieler, und hinter allem steckt die Anti-Waffen-Lobby, hier ist mein Drehbuch. Ich verdiene pro Tag zweihundert Dollar«. Aus Sicht des gesunden Menschenverstands: Weil es ja keine Krisenschauspieler gibt. Oder aus der Sicht der Verschwörungstheoretiker: Weil das Täuschungsmanöver sonst auffliegen würde.
Diese konspirative Wirklichkeitsverdrehung ist weniger amüsant, als sie klingt. Oft eskaliert der Streit um Echtheit und Wahrheit – und zwar auf Grundlage solcher abstrusen Behauptungen. Im Zeitalter des Internets konkretisiert sich das abstrakte Krisenschauspieler-Argument leicht in Hasskommentaren, Rufmord und Psychoterror.
Nehmen wir den Fall von Lenny Pozner. Lenny Pozner gehört zu den Eltern, die beim Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School im Dezember 2012 ihr Kind verloren haben. Der Grundschüler Noah Pozner wurde vom Amokläufer mit mehreren Schüssen aus einem halbautomatischen Sturmgewehr aus kurzer Distanz erschossen. Er galt als fröhlicher, liebenswürdiger Sechsjähriger.
So zumindest »die offizielle Story«.
Verschwörungstheoretiker widersprechen.
Vehement.
Wenige Tage nach dem Tod seines Sohnes ging der Terror los. Pozner, der durch Interviews ins Visier der Verschwörungstheoretiker geraten war, wurde selbst zur Zielscheibe. Auch über fünf Jahre nach dem Attentat hält es an: Beleidigende E-Mails. Bedrohungen. Tiraden. Pozner erhält seit Jahren regelmäßig derartige Nachrichten:14
»Fick dich!! Dein Kind starb nicht bei Sandy Hook. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, dass er starb! Komm schon, Mann. Ich weiß die haben dir eine ordentliche Summe gezahlt, aber warum lügst du uns an?«
Oder eine weitere E-Mail:
»Du bist ein Betrüger und ein Arschloch. […] Bist du verrückt? […] Du stinkst. Du solltest angeklagt werden. Du und deine Kumpane sind Lügner und Diebe. […] Du Drecksack. […] Oh, und nebenbei, der Totenschein deines Sohnes – tolle Arbeit. […] Warum nennst du der Öffentlichkeit nicht deinen wahren Namen? […] Du bist ein verdammter Witz. […] Verrotte in der Hölle, du Wichser.«
Und:
»Pozner, für dich ist ein besonderer Platz in der Hölle reserviert. Nimm die Beine besser in die Hand, bevor wir dich finden.«
Manche sagen, dass sein Kind dort gar nicht gestorben ist. Schreiben das Wort »tot« in Anführungszeichen. Andere behaupten, dass Pozner nie ein Kind gehabt habe. Dass er gar nicht Pozner heiße. Sie bezeichnen ihn als »Arschloch«, »Lügner«, »Betrüger« – oder wundern sich, wie eine solche erfundene, »fiktive Person« sich vor Gericht gegen Beleidigung und Bedrohungen wehren kann. Alles Zuschriften, die ihre theoretische Grundlage in der Vorstellungswelt von »Fake News« und »Lügenpresse« finden. Es ist die Wut der scheinbar Getäuschten. Dass sie keine handfesten Beweise für eine Täuschung haben, stört sie dabei nicht.
Immerhin gab es Konsequenzen für die Hasstiraden. Ein Professor wurde deswegen gefeuert. Eine Frau musste ins Gefängnis. Selbst Verschwörungstheoretiker werden bisweilen von der Wirklichkeit eingeholt.