Kitabı oku: «Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist», sayfa 3
Internet und Echtheit
Einen wichtigen Bereich haben wir noch nicht angesprochen: digitale Echtheit. Polizisten, Diamanten und Zeugnisse müssen wir nur in Ausnahmefällen auf ihre Echtheit hin überprüfen. Doch Echtheitsfragen sind im 21. Jahrhundert durchaus Alltagsfragen, die wir uns mehr oder minder bewusst stellen. Vor allem im Internet ist Zweifeln häufig sinnvoll. Zur Medienkompetenz gehört die Beantwortung der Frage: Was lese ich da gerade? Wer spricht mit mir? Ist das Gelesene aller Wahrscheinlichkeit nach wahr?
In Zeiten von Fake News, Stimmungsmache und Propaganda ist das nicht immer einfach. Fake-Accounts treten als echte Menschen auf – und werden in Wahrheit von Agitatoren betrieben, um gezielt Stimmung zu machen. Nicht nur, dass es manche sich als Absender aufspielende Menschen hinter Fake-Accounts gar nicht gibt; oft betreiben solche Stimmungsmacher eine Vielzahl von Fake-Accounts, zwischen denen sie hin- und herwechseln. Sehr wenige aktive Nutzer sind also für sehr viele Kommentare verantwortlich. Von den social bots gar nicht zu reden, also von künstlichen Accounts, die maschinell reagieren und Meinungen zu beeinflussen versuchen.
Und noch weiter: Vermeintliche Nachrichtenseiten werden in Wahrheit nicht von Journalisten, sondern von Privatpersonen betrieben. Ein paar Bilder drauf, dem Ganzen einen wohlklingenden Namen gegeben, Webseitenstruktur imitiert – und schon glauben viele Nutzer, es handele sich um eine echte Nachrichtenseite. (Klonen kann man nicht nur Lebewesen, sondern auch digitale Infrastrukturen.)
Als Nutzer und Leser muss ich mich fragen: Was sind die Eigenschaften dieser Nachrichtenseite? Dieses Facebook-Accounts? Kann ich etwas über die Geschichte dieser Nachrichtenseite, dieses Accounts herausfinden? Postet er erst seit gestern? Auch zu anderen Themen? Wie ist der Tonfall, wird sich wenigstens im Ansatz um eine anderslautende Sichtweise bemüht? Ist alles nur emotional? Oder auch sachlich fundiert? Aus einem solchen Fragenkatalog können wir Indizien ableiten, die uns helfen, digitale Echtheit von digitaler Unechtheit zu trennen. Wer Quellen nicht nennt, Nachrichten emotionalisiert, aus Kleinigkeiten Skandale ableitet – der sollte bei uns unter Verdacht stehen, keine Quelle »echter Nachrichten« oder Informationen zu sein. Täuschungsabsichten lassen sich indirekt ableiten.
Unsere kleine Theorie der Echtheit kann also im Digitalen angewendet werden. Es geht immer darum, Eigenschaften und Geschichte einer Sache in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
Kleine Theorie der Echtheit
Wir fassen zusammen. »Echt« und »unecht« sind Begriffe, die ein Sprecher dafür nutzt, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Grundlage ist die stoffliche und die soziale Wirklichkeit – oder eine Kombination aus beidem. Die stoffliche Wirklichkeit spielt in erster Linie dann eine Rolle, wenn wir uns auf Physisches beziehen. Ein Diamant ist dann ein echter Diamant, wenn er die Eigenschaften eines Diamanten hat. Gleiches gilt für echtes Leder, echtes Gold oder echten Champagner.
Echtheit zu erkennen, heißt Echtheit anzuerkennen. Dieses (An-)Erkennen ist nicht allein Angelegenheit des Sprechers. Ich kann Kunstleder nicht zu Leder machen, indem ich es »Leder« nenne anstelle von »Kunstleder«. Die Kriterien dafür, was echte Dinge sind und was nicht, sind überindividuell oder intersubjektiv. Überindividuell heißt: Es geht um Gemeinschaft und Kontext. Eine Gemeinschaft von Menschen entscheidet aus dem Zusammenhang heraus, was als echtes Gold gilt oder wer als echter Polizist.
Abstrakt formuliert können wir sagen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt.
Echtheit ist kollektive Echtheitszuschreibung. Dieses Anerkennen geschieht mit Bezug auf bestimmte Eigenschaften (»hat einen Schmelzpunkt von 1064 °C«, »ist Schaumwein aus der Champagne«, »hat die Ausbildung zum Polizisten erfolgreich absolviert« usw.).
Relevante Eigenschaften können auch soziale Eigenschaften sein.
Und die folgenden Merkmale sind wichtig, wenn wir über Echtheit philosophieren:
Geschichte. Ein echtes X kommt daher, »wo normalerweise Xe herkommen«. Diese Echtheitsgeschichte ist nicht zuletzt eine kausale. Echte Diamanten stammen aus der Natur, echtes Geld stammt vom Staat, echte Zeugnisse von Schulen und Universitäten. Stammen Zeugnisse oder Geld aus meinem persönlichen Drucker, sind sie nicht echt. Bastle ich mir meine Polizeiuniform selber, ist sie nicht echt. Wir müssen also etwas über die Herkunftsgeschichte von X erfahren, um auf dieser Grundlage einschätzen zu können, ob wir es als echtes X anerkennen sollten.
Eigenschaften. Unabhängig davon, ob es um echtes Gold, echtes Geld, echte Polizisten oder echte Attentatsopfer-Angehörige geht: Man muss bestimmte Eigenschaften aufweisen, um als Gold, Geld, Polizist oder Angehöriger zu gelten.
Zwischen Eigenschaften und Geschichte besteht dabei ein Zusammenhang. In der Regel: ein kausaler. Ein X hat deswegen diese und jene Beschaffenheit, weil es diese und jene Geschichte hat. Geschichte ist insofern Ursachengeschichte. Aber nicht nur. Eine Geschichte zu haben, heißt darüber hinaus, eine soziale Einbettung zu haben.
Wir ergänzen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt. Diese Anerkennung ist nicht willkürlich. Geschichte und Eigenschaften von X sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Am Beispiel Champagner formuliert:
Veuve Clicquot (X) gilt als echter Champagner (Y) innerhalb der Gemeinschaft der Weinkenner (G), weil Weinkenner Veuve Clicquot als Champagner anerkennen. Handverlesene Trauben, Flaschengärung, ein streng abgegrenztes Anbaugebiet usw. sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Oder am Beispiel Polizist formuliert:
Max Musterpolizist (X) gilt als echter Polizist (Y) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (G), weil die Bundesrepublik Deutschland und die Bürger Max Musterpolizist als Polizisten anerkennen. Eine körperliche und geistige Eignung, eine mehrjährige erfolgreiche Ausbildung usw. sind Grundlage dieser Echtheitsanerkennung.
Und aus der anderen Richtung gesehen:
Unechtheit steht in einer negativen Relation zum Original (oder auch: einer parasitären, wie ein Parasit, der von seinem Wirtstier lebt). Kunstleder ist vor allem eines nicht: echtes Leder. Falschgeld ist vor allem eines nicht: echtes Geld. Ein Betrüger, der einen Polizisten spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter Polizist. Ein Schauspieler, der einen trauernden Vater spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter trauernder Vater. Besteht Verwechslungsgefahr zwischen echt und unecht, dann deshalb, weil absichtlich oder unabsichtlich – meist absichtlich – eine Ähnlichkeitsbeziehung betont und ausgenutzt wird. Kunstleder soll identisch oder ähnlich aussehen wie Leder. Beltracchis gefälschte Gemälde sollten identisch oder ähnlich aussehen wie echte Meistergemälde. Anders Breivik hat sich als Polizist verkleidet, um durch diese Ähnlichkeit für einen echten Polizisten gehalten zu werden. Das sind Fälle bewusster Täuschung.
Wo liegt aber das Problem bei der Unechtheit? Wenn jemand die Situation ausnutzt. Wo eine Verwechslungsgefahr besteht, vermuten wir eine Täuschungsabsicht. Ob diese besteht oder nicht, gilt es jeweils zu untersuchen. Bei Echtheit oder Unechtheit geht es somit vor allem um eines: Fakten. Um nachprüfbare Fakten.
Wir haben viel über die Probleme bei der Einschätzung von Echtheit gesprochen. Die Unterscheidung von Echtheit und Unechtheit und einer Täuschung ist deshalb wichtig, weil dies in dieselbe Richtung wie Wahrheit und Falschheit deutet.
Kein echtes Ende
Echt und unecht liegen nah beieinander. Manchmal näher, als uns lieb ist. Durch die Blume gesprochen: Plastikpflanzen sehen echt aus, sind es aber nicht. Letztlich sind die Wörter »echt« und »unecht« Bewertungen unserer Realität. Sie sagen etwas darüber aus, was wir aus unserer Perspektive für wahr halten. Das gilt für uns als Individuen sowie für uns als Gemeinschaft. Anhand von Beobachtung und aus Erfahrung schätzen wir die Welt ein. Wie wir gesehen haben: Nicht immer richtig. Eher harmlose Fälle wie die Unsicherheit, ob es sich bei etwas um echtes Leder handelt, gehen nahtlos über in gesellschaftliche Fragen. Ist dieser Mensch vor mir der, der er vorgibt zu sein? Oder will er mich belügen? Betrügen? Das kann wie im Fall des falschen Polizisten Breivik tragische Konsequenzen haben. Deshalb ist es nicht grundsätzlich verkehrt, hier und da ein wenig misstrauisch zu sein. Auf sein Echtheits-Bauchgefühl zu hören.
Bei manchen von uns kippt ein grundsätzlich gesundes Misstrauen jedoch in einen verschwörungstheoretischen Zweifel. Bei diesen Verschwörungstheoretikern schlägt vor allem die Frage nach sozialer Echtheit hohe Wellen. Überall vermuten sie Lügner, Betrüger, Schauspieler. Sie fühlen sich von einer Medienmaschinerie getäuscht. Einer Medienmaschinerie, die auf nichts anderes ausgerichtet ist als darauf, die echte Wahrheit zu verdrehen. Diese Denkweise ist kein Randphänomen – sie ist bei Millionen von Menschen bestimmend. Die Opfer der Lügenpresse sind quasi vom Glauben abgefallen. Vom Glauben an die Verlässlichkeit der Medien, der Aufrichtigkeit ihrer Mitmenschen allgemein. Sie leben in einer feindlichen, auf Täuschung angelegten Umwelt.
Manche von ihnen macht das wütend, aggressiv. Solche Wutbürger teilen gegen jene aus, die sie vermeintlich täuschen und manipulieren. Weil man an die Hintermänner der Inszenierung nicht herankommt, werden häufig Journalisten selbst und jene zum Ziel erwählt, über die sie berichten. Menschen wie Lenny Pozner.
Der Glaube daran, dass alle Presse Lügenpresse ist, an False-Flag-Operationen mit Schauspielern oder gar an eine allumfassende Täuschung: Als Einzelner mag man darunter subjektiv fälschlicherweise leiden. Die irrtümliche Überzeugung, getäuscht zu werden, enthebt allerdings nicht ganz realer Konsequenzen. James Cohn, der Richter (vermutlich kein Schauspieler-Richter), der Lucy Richards, eine Sandy-Hook-Hetzerin, zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, weil sie Lenny Pozner bedrohte, tat dies mit folgenden Worten:
»Dies ist die Realität und keine Fiktion. Es gibt keine alternativen Fakten.«15
Die möglichst wahre Beschreibung der Wirklichkeit ist und bleibt das übergeordnete Problem in einer unordentlichen Welt. Deshalb untersuchen wir im nächsten Kapitel, was eine verschwörerische Weltsicht bedingt, wie diese Mitmenschen ticken und was sie zu ihrer Weltsicht motiviert.
V wie Verschwörung. Über Wahrheit und Manipulation
Sie sind hinter dir (her)
Ist die Erderwärmung von falschen Experten erlogen? Oder noch schlimmer: von Chinesen? Um die Weltherrschaft an sich zu reißen? Werden Kinder in Wahrheit durch Impfungen krank? Und diese ganzen Flüchtlinge: Steckt Angela Merkel wirklich hinter der Flüchtlingskrise? Gibt es eine gezielte Islamisierung Europas? Aber vor allem: Für wen lügt die Lügenpresse?
Fragen über Fragen.
Verschwörungstheoretische Fragen.
Mal ist der Klimawandel ausgedacht, fast immer sind die Eliten korrupt.
Am Anfang des dritten Jahrtausends schwinden die Gewissheiten.
Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Zumindest gefühlt. Und gefühlte Wahrheiten sind die neuen Fakten.
Doch der Reihe nach. Was sind Verschwörungstheorien überhaupt? Die naive Antwort lautet: Vermutungen über Verschwörungen. Was zählt als Verschwörung? Und was nicht?
Die Erderwärmung: Hokuspokus.
Kondensstreifen: Giftig.
Merkel: Verrät uns.
In diesem Kapitel werden wir solchen und ähnlichen Thesen auf den Grund gehen. Weniger ihrem jeweiligen Wahrheitsgehalt und mehr ihrer grundsätzlichen Wahrheitslogik. Wie so viele Menschen vor uns werden wir abdriften in die Welt der Konspiration. Denn wenn Millionen Leute an dunkle Machenschaften glauben, an Lug und Trug und Täuschung – dann wird da ja wohl etwas dran sein, ODER?
Wagen wir einen Blick hinter den Vorhang.
Willkommen in der Welt von Wahrheit und Verschwörung.
Will man wissen, was eine Sache ihrem Wesen nach ist, ist es ratsam, sich die Sache, die man untersucht, in möglichst verschiedenen Ausprägungen anzuschauen. Studiert man z. B. Reptilien, verschafft man sich am besten einen guten Überblick – für diesen Überblick ist das Nilkrokodil genauso interessant wie die Kornnatter, die Meeresschildkröte ähnlich wichtig wie die Eidechse oder das Chamäleon. Durch genaues Hinsehen und Verstehen erkennt man, was die einen mit den anderen verbindet bzw. sie von diesen trennt. Am Ende steht ein detailliertes Ergebnis darüber, was Reptilien sind und wie die eine Spezies mit der anderen in Beziehung steht.
Beim Grundstudium von Verschwörungstheorien verfahren wir ähnlich. Indem wir verschiedene Exemplare dieser Gattung untersuchen und miteinander vergleichen, erkennen wir Gemeinsamkeiten und erkennen Unterschiede. Zum Glück sind Verschwörungstheoretiker schon vor dem Zeitalter des Internets keine Seltenheit gewesen (man denke nur an die »Weisen von Zion« oder die Theorien über die gefakte Mondlandung); spätestens seit dem Aufkommen der sozialen Medien finden wir in quasi jeder Kommentarspalte mindestens einen. Verschaffen wir uns also einen Überblick.
Die Islamisierung durch Chemtrails. Kleine Verschwörungskunde
Auf den nächsten Seiten präsentiere ich eine Zusammenfassung sehr beliebter Verschwörungstheorien jeweils aus Sicht ihrer Anhänger. Also, lieber Leser, setzen Sie Ihren Aluhut auf und folgen Sie mir (… aber unauffällig).
#Impfen16
Das glauben etwa 10,5 % der Deutschen (2016).17
#Klimalüge
18Den globalen Klimawandel verneinen 6 % der Deutschen (2015).19
#Chemtrails
Das glauben etwa 18 % der Deutschen (im Jahr 2017).20
#Umvolkung
Das glauben etwa 9 % der Deutschen (2017).21
#FakeTerror
Das Breitscheidplatz-Attentat als falsche Flagge
Variante 1 (moderate Variante): Die Regierung war es.
Variante 2 (radikale Variante): Alles nur inszeniert.
#Reichsbürger
Das glauben deutlich über 10 000 Deutsche (2018)22: Wer einen Personalausweis hat, ist Personal der GmbH …
#DerFalschePutsch
Der Putsch-Versuch in der Türkei als falsche Flagge
Variante 1: Aus dem Ausland gesteuert.
Variante 2: Von Erdoğan inszeniert.
#NineElevenInsideJob
Der 11. September als falsche Flagge
Das glauben etwa 17 % der Deutschen (2017).23
Immerhin: ein sauber gemaltes Plakat.
Das alles sind Verschwörungstheorien.
Oder sind sie das wirklich?
Kommt ganz darauf an, wen man fragt.
Erzähl mir mehr. Die Verschwörungstheorie als Erzählung
Für nicht wenige Menschen sind abstruse Theorien keine abstrusen Theorien, sondern schlichtweg die Wahrheit. Mehr noch: Eine solche Wahrheit »Verschwörungstheorie« zu nennen, ist aus ihrer Sicht eine Beleidigung. Eine Beleidigung? Scheren sich die »Verschwörungstheoretiker« überhaupt um Beleidigungen? Beleidigung hin oder her: Der Psychologe Michael Wood fand heraus, dass eine Theorie »Verschwörungstheorie« zu nennen ihre Anhänger keineswegs davon abhält, weiterhin fest an ihren Inhalt zu glauben.24 Das Etikett an sich hat also keine negative oder gar abschreckende Wirkung. Der Begriff »Verschwörungstheoretiker« mag vielleicht manche Liebhaber konspirativer Gedanken kränken; so genannt zu werden, bringt allerdings niemanden von seinem gedanklichen Irrweg ab.
Von außen, aus Beobachterperspektive betrachtet, sind diese Netzwerke von Aussagen und Behauptungen jedenfalls Verschwörungstheorien – und zwar ziemlich populäre Verschwörungstheorien. Wie wir sehen werden, sind sie alles andere als harmlos.
Sezieren wir unsere exemplarischen Verschwörungstheorien.
Gibt es Gemeinsamkeiten? Gibt es Differenzen?
Setzen wir unser analytisches Skalpell an der Außenhaut an und arbeiten wir uns Schnitt für Schnitt vor.
Grundsätzlich sind das, was wir Verschwörungstheorien nennen, nichts anderes als Geschichten über die Welt. Sie erzählen uns etwas über das, was passiert. Beschreiben uns Zusammenhänge in der Welt über einen Erzähler, der diese Zusammenhänge darlegt.
Die Impfgegner-Erzählung beschreibt Impfstoffe als Teil eines mafiösen Komplotts. Die Erzählung, es gäbe gar keinen von Menschen verursachten Klimawandel, schildert die Erderwärmung als erfundenes oder zu vernachlässigendes Phänomen. Die Chemtrail-Erzählung handelt von Wettermanipulation und heimlichen staatlichen Chemieangriffen auf die Bevölkerung. Die rassistische Umvolkungs-Erzählung bzw. die Islamisierungs-Erzählung warnt vor einem gesteuerten gesellschaftlichen Wandel. Die moderate Breitscheidplatz-falsche-Flagge-Erzählung bezieht sich auf eine Regierung, die für ihre Ziele Menschen opfert. Die radikale Breitscheidplatz-falsche-Flagge-Erzählung sieht ein großes Täuschungsmanöver einer freiheitsfeindlichen Regierung am Werk. Die Reichsbürger-Erzählung spricht von einem illegitimen Staat, der seine Bürger drangsaliert. Die erste Türkei-Putschversuch-Erzählung sieht fremde Mächte als Urheber eines geplanten Umsturzes, die zweite Türkei-Putsch-Erzählung zeichnet das Bild eines skrupellosen Präsidenten, der wirklich alles tut, um seine Macht zu vergrößern. Die Falsche-Flagge-Erzählung des 11. September vermittelt den Eindruck eines gewissenlosen Staatsapparates, der sogar seine eigene Bevölkerung massenhaft ermordet, sofern es seinen geopolitischen Interessen dient.
Wenn ich diese Verschwörungstheorien als »Erzählungen« bezeichne, bedeutet das nicht, dass sie »bloß Geschichten« sind, bloße Erdichtungen oder Erfindungen. Nein, im Gegenteil. Als Erzählungen sind sie Geschichten mit einem Wahrheitsanspruch. Sie haben alle den Anspruch, die Wirklichkeit präzise zu beschreiben. Erzählungen in unserem Sinne sind also keineswegs Märchengeschichten. Keine Stories, aus denen man im übertragenen Sinne eine Moral ableitet. Verschwörungserzählungen versuchen, Wirklichkeit fassbar zu machen; sie sind Wirklichkeitsbeschreibungen, von denen ihre Anhänger meinen, dass sie die Realität wahrheitsgetreu und unverfälscht darstellen. Authentisch. Den Erzählern geht es nicht um Schein, sondern um Sein. Um das, was faktisch tatsächlich vor sich geht. In Wirklichkeit. Echt.
Eine Verschwörungstheorie ist so gesehen der Versuch einer alternativen Wahrheitserzählung. Sie soll der »offiziellen Story« gegenüberstehen – entweder als nicht weniger plausible oder, in den meisten Fällen, sogar plausiblere Erklärung der Geschehnisse. Eine Verschwörungstheorie ist also ein weiterer menschlicher Versuch, die Welt möglichst wahr zu beschreiben. Lügenpresse, Breitscheidplatz, Bevölkerungsaustausch – für Anhänger dieser Theorien sind dies legitime, berechtigte Weltbeschreibungsversuche. Sinnangebote für Sinnsuchende. Für die, die diese Erzählungen als Erklärungsmuster verwenden, sind sie völlig angemessen, ja, angemessener als die üblichen Erzählungen.
Das Porsche-Beispiel. Zwischen Handlung und Ereignis
Wagen wir einen kleinen gedanklichen Exkurs: Sie sind mit Ihrem Porsche im Urlaub. Südfrankreich. Sie fahren auf einer idyllischen Küstenstraße, die sich am Mittelmeer entlangschlängelt. Auf der einen Seite Wasser, auf der anderen eine Steilwand. Die Sonne scheint, die Laune ist gut.
Plötzlich ein Knall!
Vollbremsung. Der Wagen hält. Niemand ist verletzt.
Nach dem ersten Schock stellen Sie fest: Ein faustgroßer Stein hat sich vom Abhang gelöst und ist mitten auf der Motorhaube gelandet. Verdammt! Ihr armer Porsche hat eine Delle.
Das ist Szenario eins.
Jetzt kommt Szenario zwei.
Alles bleibt unverändert. Wieder Sie, wieder der Porsche, wieder ein Knall, wieder ein Stein, wieder sonst nichts passiert (Glück gehabt).
Doch diesmal gibt es einen Unterschied.
Diesmal habe ich den Stein geworfen.
Worin besteht der Unterschied zwischen einem faustgroßen Stein, der sich von einem Abhang löst und auf Ihr Auto fällt, und einem faustgroßen Stein, den ich auf Ihr Auto werfe? In beiden Fällen fliegt ein Stein auf Ihr Auto. In beiden Fällen hat Ihr Auto einen Lackschaden. Vielleicht ist die Delle sogar gleich tief, die Reparatur gleich teuer.
Der Unterschied liegt steinschwer auf der Hand.
Ein sich zufällig vom Abhang lösender Stein fällt. Es steht keine Absicht (von wem oder was auch immer) dahinter. Der Fall passiert.
Ein von mir absichtlich geworfener Stein hingegen ist, nun ja, eben absichtlich geworfen worden.
Die Absicht bzw. die Handlung markiert den Unterschied zwischen fallen und werfen. Zwischen passieren und tun.
Ein fallender Stein ist ein Ereignis.
Ein Steinwurf ist eine Handlung.
Nicht nur auf philosophischer Ebene ein Riesenunterschied.
Was hat ein Steinwurf mit unseren Verschwörungstheorien zu tun? Mit der Islamisierung und den Reichsbürgern und den mordlustigen Regierungen?
Die Antwort findet sich im Handlungsbegriff. Verschwörungstheoretiker denken, dass wir falschliegen, wenn wir davon ausgehen, dass sich zufällig ein Stein vom Abhang gelöst hat, obwohl doch jemand heimlich aus den Büschen einen Stein hätte werfen können – oder vielleicht sogar geworfen hat. Sie denken, dass Dinge anders als von uns gedacht ablaufen oder abgelaufen sind. Weil sie die »offiziellen« Beschreibungen der Wirklichkeit anzweifeln oder ganz ablehnen, präsentieren sie Gegengeschichten. Steinwurfgeschichten. Sie wenden sich an die vermeintlich Gutgläubigen und sagen: »Viele Steine, die deiner Meinung nach gefallen sind, wurden in Wahrheit geworfen. Die meisten Steine fallen nicht zufällig. Sie werden absichtlich geworfen. Aus dem Hinterhalt.«
Dieses Denken nennt man intentionalistisch: Es muss eine Absicht hinter etwas stehen, jemand muss für eine Handlung verantwortlich sein, denn nichts Relevantes geschieht von selbst. Absichten dort zu vermuten, wo (vermutlich) keine sind, oder sie dort, wo sie vorhanden sind, grotesk überzuinterpretieren; das nenne ich hyperintentionalistisch.25
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