Kitabı oku: «Der letzte Funke Licht», sayfa 2
„Also, wir dürfen dem anderen immer eine Frage stellen, die er dann beantworten muss. Das ist ganz einfach. Ok, ich muss zugeben, es ist eigentlich kein Spiel, aber ich wollte ein bisschen Spaß in diese Unterhaltung bringen. Ist das für dich in Ordnung?“, fragte sie mich und ihre Mundwinkel zuckten. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Ok, ich fange an“, sagte ich und stellte ihr die erste Frage.
„Wie alt bist du?“ Meine Großmutter grinste: „Also eigentlich bin ich 63, aber ich sehe aus wie 40, oder?“
Ich musste laut loslachen: „Ähmm, eher weniger.“
Wir stellten uns noch viele Fragen. Über unsere Lieblingsaktivitäten, was unser Wunschtier ist, was wir alles noch erreichen wollten und über vieles mehr. Es war das erste Mal, seit ich die schreckliche Nachricht über meine Mutter erhalten hatte, dass ich mich wieder wohlfühlte, geborgen und sicher. Wir unterhielten uns noch ein bisschen, auch über Norddeich und ihre Wohnung. Dann klingelte ihr Handy und sie ging ran.
„Hallo“, meldete sie sich. Ich wusste nicht, mit wem, geschweige denn über was sie sprach, da ich schließlich nur ihre Antworten und Fragen verstand: „Ja, ich bin es … okay … was? Erst dann? ... okay, ich werde es ihr sagen.“
Dann legte sie auf und sah mich besorgt an. „Das war die Klinik. Die Herzschläge deiner Mutter sind jetzt noch einigermaßen stabil. Deshalb soll sie jetzt gleich ins Krankenhaus nach Norden verlegt werden. Wir sollen direkt nachkommen. Das heißt, wir können deine Mutter erst in circa fünf Stunden sehen. Die Ärzte bieten uns jedoch an, dass wir im Krankenwagen mitfahren könnten. Dies könnte für uns und besonders für dich sehr schwierig sein, denn deine Mutter liegt zwar neben dir, aber du kannst dich nicht mit ihr unterhalten und an ihrem Zustand kann sich jeder Zeit etwas ändern Doch dann könntest du sie sofort sehen und nicht erst, wenn wir in Norden angekommen sind. Du musst jetzt entscheiden, was du machen möchtest, aber eins ist klar: Ich bleibe bei dir“, erklärte meine Großmutter und ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich war echt froh, dass sie bei mir war. Zum Glück musste ich das alles nicht alleine durchstehen. Ich wollte meine Mutter schleunigst sehen, also gab es nur eine Möglichkeit.
„Okay, wir fahren im Krankenwagen mit!“
Kapitel 3
Eine halbe Stunde später standen wir vor dem Krankenhaus, in dem meine Mutter eingeliefert worden war. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass sie bald wahrscheinlich nicht mehr in meinem Leben sein würde. Ich liebte sie. Ich wollte sie endlich sehen, bei ihr sein und ihre Hand halten, einfach nur noch einmal mit ihr sprechen. Ich hatte sie jetzt einen halben Tag nicht mehr gesehen und ich vermisste sie jetzt schon so sehr. Ganz unbewusst griff ich nach der Hand meiner Großmutter und entspannte mich ein wenig.
„Also, gehen wir rein?“, fragte sie mich und ich nickte nur, da ich kein Wort herausbrachte. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Als wir reingingen, roch es nach Desinfektionsmittel und als ich den weißen Empfangstresen sah, stieg eine Erinnerung in mir hoch.
Es war an einem Samstagmittag und ich war erst fünf Jahre alt. Ich hielt die Hand meiner Mutter, die mich traurig anlächelte. Sie drückte meine Hand noch fester und eine Träne lief ihr über die Wange.
„Schatz, alles wird gut werden, Opa schläft nur ein bisschen. Wir besuchen ihn und du kannst ihm deine selbstgebastelte Schneekugel geben. Wenn er dann aufwacht, wird er sich über dein Weihnachtsgeschenk sehr freuen.“ Ich lächelte meine Mutter an und sie gab mir einen Kuss.
Warum konnte ich mich zuvor nie an diesen Augenblick erinnern? Doch jetzt fiel er mir wieder ein. Ich wusste früher, dass ich einen Großvater hatte, aber warum hatte ich ihn einfach vergessen? Diese schlimmen Tage und Wochen als mein Großvater im Koma lag, waren einfach nur schrecklich. Meine Mutter hatte immer so getan, als würde sie das alles aushalten, aber sie musste innerlich zerbrochen sein. Ich habe mit ihr noch nicht mal halb so viele Jahre verbracht wie sie mit ihrem Vater. Mir ging der wahrscheinliche Verlust meiner Mutter schon jetzt sehr nahe und ich hatte das Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können. Wie hatte meine Mutter dies denn bei meinem Großvater verkraftet, der ihr ganzes Leben an ihrer Seite war? Ich hatte die Situation damals nicht ganz verstanden. Meine Mutter hatte ja nur gesagt, dass Opa schliefe. Dass er ein paar Wochen später im Koma sterben würde, hätte ich nie im Leben gedacht.
„Es tut mir so leid“, platzte es aus mir heraus. Ich wusste nicht, warum ich es jetzt sagte. Es war gerade eine Scheißsituation an einem Scheißort, an dem Menschen starben.
„Was denn genau?“, fragte mich meine Großmutter und runzelte die Stirn, „du musst dich für nichts entschuldigen. Ich muss mich entschuldigen, dass ich dich all die Jahre lang im Stich gelassen habe.“
„Nein, mir tut es leid, dass ich vorhin so dumm war und dir direkt Vorwürfe gemacht habe, dir nicht vertraut habe. Ich hätte dir erst zuhören müssen. Aber es tut mir auch leid wegen …“ Weiter kam ich nicht, denn ich schluckte schwer und es fühlte sich an, als ob ein Kloß in meinem Hals steckte.
Meine Großmutter nahm mich in den Arm und das tat so gut. Noch nie konnte mich jemand so schnell trösten, Sky nicht und meine Mutter überraschenderweise auch nicht. Wenn ich zum Beispiel früher geweint habe, wenn meine Keksdose leer oder mein Lieblingsgeschäft geschlossen war, brauchte sie immer sehr lange, um mich zu trösten, aber bei meiner Großmutter, die ich gerade mal ein paar Stunden kannte, ging das gerade sehr schnell.
Ich fühlte mich ein bisschen stärker und nicht mehr so klein und alleine. Diese Umarmung fühlte sich richtig an und ich wollte solche noch sehr oft erleben.
Meiner Großmutter, die mich in den Armen hielt, war ich gerade so dankbar. Ich musste es ihr sagen. Ich wollte keine Geheimnisse vor ihr haben und ich wollte auch, dass sie keine vor mir hatte: „Es tut mir so leid … wegen Opa. Ich hatte diese Erinnerungen an die schlimmen Wochen mit ihm verdrängt, als er im Krankenhaus war und starb. Ich war erst fünf, aber ich weiß nicht, warum ich das alles einfach ganz vergessen hatte. Dieser Anblick des Empfangstresens hat die Erinnerung wieder hervorgehoben. Opa hat dir so viel bedeutet. Wenn ich diese Erinnerung nicht vergessen hätte, hätte ich meine Mutter schon längst nach dir gefragt.“
Mir liefen die Tränen nur so über die Wangen. Es war, als ob ein Damm gebrochen wäre. Ich erwartete schon, dass meine Großmutter streng zu mir sein würde, da ich tief in meinem Herzen wusste, dass es sie gibt, aber trotzdem nie nach ihr gefragt, es einfach vergessen hatte.
Stattdessen sah sie mir direkt in die Augen und sagte: „Hey, obwohl wir uns erst seit heute kennen, liebe ich dich und du wirst mich nicht los, egal was du machst, sagst oder vergisst. Ich werde dir nicht mehr von der Seite weichen.“
Ich war so gerührt und wollte mich nie mehr aus ihrer Umarmung lösen. Ich wollte, dass sie wirklich bei mir blieb, für immer! Diese Frau wurde mir, obwohl sie mich angelogen und nie besucht hatte, immer wichtiger und nun war sie ein großer Teil meines Herzens. Wie konnte das denn nur so schnell passieren?
Auf einmal hörten wir eine junge Frauenstimme durch den Raum hallen: „ Frau Clark, sind sie schon hier?“ Endlich durften wir zu meiner Mutter. Ich riss die Hand hoch und rannte mit meiner Großmutter der jungen Ärztin entgegen.
„Der Krankenwagen ist draußen schon abfahrbereit“, sagte sie mit freundlicher Stimme zu uns, „aber erschrecken sie sich nicht. Der Anblick Ihrer Tochter beziehungsweise Mutter kann sehr beängstigend auf Sie wirken.“
Dabei sah die junge Ärztin mich besonders lange an und auf ihrem Gesicht lag ein trauriges Lächeln. Ich hatte Angst vor dem, was ich gleich zu Gesicht kriegen würde. Aber ich wollte meine Mutter endlich wiedersehen, egal was kommt! Also machten wir uns auf den Weg nach draußen. Aus hygienischen Gründen mussten wir einen Mundschutz und Einmalhandschuhe anziehen. Wir standen nun direkt vor dem Krankenwagen und uns wurde gerade die Tür aufgemacht. Meine Großmutter hielt mich ganz fest an der Hand und ich erwiderte den Händedruck.
Ich hatte nicht nur ein bisschen Angst. Nein, ich hatte eine beschissen große Angst vor dem, was jetzt auf mich zukommen würde. Dieser Moment gleich könnte einer der letzten sein, in dem ich meine Mutter sah. Ich musste ihn nutzen. Ihr sagen, dass ich sie liebte. Sagen, dass sie das Beste war, was mir je passiert ist und ich ohne sie nicht würde leben können. Ich wollte ihr sagen, dass ich es jedoch versuchen würde, wenn es dazu käme. Ich würde ohne sie nicht mehr ich sein, aber ich würde es irgendwie aushalten. Mit meiner Großmutter an der Seite.
Die Tür des Krankenwagens war nun ganz offen. Ein Arzt um die sechzig stieg hinein und ich ging ihm mit meiner Großmutter nach.
Und da lag sie. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte nicht mehr atmen und die Tränen liefen mir nur so über die Wangen. Ich war vorher alles durchgegangen, was ich sagen und machen wollte. Aber jetzt, wie ich meine Mutter so da liegen sah, brachte ich kein Wort mehr heraus. Sie lag dort mit tausend Kabeln in Mund, Nase und Haut. Man hörte die Maschinen sehr laut arbeiten und ich sah das langsame, aber beständige Heben und Senken ihres Brustkorbs. Das war das einzig Gute. Sie lebte noch.
Ich wusste nicht, wo ich mich hinstellen sollte oder geschweige denn, was ich sagen wollte. Alles hatte ich vergessen, auch, wie man atmet. Ich wurde hektisch und klammerte mich an dem Arm meiner Großmutter fest.
Es war wie in einem Albtraum und ich wollte einfach nur aufwachen.
„Schh, alles gut Avery, es wird alles gut“, versuchte meine Großmutter mich zu beruhigen, aber ihre Stimme bebte. Sie ließ meine Hand nicht los und ging mit mir näher an die Liege, auf der meine Mutter lag. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst wie jetzt. Ich hatte Angst, meine Mutter zu verlieren und nie wiederzusehen. Ich ging Hand in Hand mit meiner Großmutter zu ihr und legte meine noch freie Hand ganz langsam auf ihre Liege. Ich hatte Angst, sie zu berühren und gleichzeitig hatte ich Angst, sie würde aufhören zu atmen. Letzteres wäre natürlich noch viel schlimmer. Meine Großmutter sah mich an und nickte mir aufmunternd zu. Ich wusste, ich konnte mit meiner Mutter reden, ihre Hand halten und einfach neben ihr stehen. Aber ich war wie zur Salzsäule erstarrt. Vielleicht war es mir auch unangenehm, dass ein Arzt im Wagen saß, aber tief im Inneren wusste ich, es würde vielleicht unser letztes Gespräch miteinander sein, deswegen musste ich etwas zu ihr sagen. Sie musste wissen, wie sehr ich sie liebte. So konnte ich mir später keine Vorwürfe darüber machen, dass ich ihr nicht mehr gesagt hatte, wie wunderbar sie war.
„Hallo Mama“, sagte ich zu ihr und die Tränen liefen mir nur so über die Wangen, „ich liebe dich! Mehr als alles andere auf der Welt. Du bist die Beste.“ Meine Großmutter setzte sich neben mich.
„Mein Kleines, ich liebe dich auch und es tut mir leid. Ich hoffe so sehr, du verzeihst mir. Das ist mein größter Wunsch, dass du mir verzeihst. Ich verspreche dir, dass ich immer für Avery da sein werde. Ich werde ihr nie wieder von der Seite weichen“, sagte meine Großmutter mit brüchiger Stimme zu meiner Mutter. Diese Worte waren nichts anderes als die Wahrheit. Ich kannte meine Großmutter zwar noch nicht sehr gut, aber ich war mir mehr als sicher, dass sie immer bei mir bleiben würde. Ich hatte ihr verziehen. Ich wollte es zwar nicht zugeben, aber ich brauchte meine Großmutter. Ihre Anwesenheit war das Einzig, was mich gerade tröstete und vor dem Zusammenbruch bewahrte.
„Mama, du bist das Beste auf der Welt. Danke für alles. Es gibt so vieles, was ich noch mit dir teilen und mit dir erleben möchte, aber ich weiß, wenn wir es nicht mehr gemeinsam erleben können, bist du trotzdem immer bei mir. In meinem Herzen.“ Ich sagte dies voller Liebe und Verzweiflung. Bildete ich mir nur ein, ein leichtes Zucken in den Zügen meiner Mutter zu erkennen? Ich wusste es nicht hundertprozentig, aber glaubte fest daran, dass sie mich hörte.
„Geht es dir jetzt ein bisschen besser?“, fragte mich meine Großmutter sanft, strich mir beruhigend über den Rücken und sah mich traurig an. Wir blieben die ganze Fahrt neben meiner Mutter sitzen und sagten abwechselnd liebe Worte zu ihr. Wir weinten, aber erzählten uns gegenseitig auch lustige Momente, die wir mit meiner Mutter erlebt hatten und die uns immer zum Lachen brachten. Obwohl es eine sehr schwere Zeit war, war ich so froh, jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich über alles reden konnte. Das fühlte sich gut an.
„Guck mal, wo wir schon sind“, sagte meine Großmutter und zeigte aus dem Fenster nach draußen. Dort konnte ich schon das Ortsschild von Norden sehen.
„Wir sind da, bitte aussteigen“, sagte der etwas ältere Arzt, der die ganze Zeit bei uns gesessen hatte und ich bewegte mich auf meinen Beinen, die sich wie Pudding anfühlten, nach draußen. Ich war um die fünf Stunden nicht mehr draußen gewesen und die Sonne strahlte so hell, dass mir meine Augen wehtaten. Die Luft roch nach Meerwasser und es wehte ein angenehmes Lüftchen. Das Wetter war schon einmal sehr gut. Als ich mich umdrehte, sah ich etwas, das mir den Atem raubte: Eine Klinik, riesengroß und gefühlt hunderte Stockwerke hoch.
Der Anblick dieser Klinik gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut werden würde.
Aber es war nicht nur die Klinik, die mir den Atem raubte. Die ganze Gegend hier sah einfach wunderschön aus.
„Ich weiß nicht warum, aber ich liebe diesen Ort. Er fühlt sich irgendwie besonders an“, sagte ich zu meiner Großmutter, die mich daraufhin unsicher anlächelte. Danach bedankten wir beide uns noch schnell bei den Sanitätern, die uns gefahren hatten und während meine Großmutter diese noch etwas fragte, blieb ich bei meiner Mutter. Sie lag ruhig auf ihrer Liege und es sah eigentlich so aus, als ob sie nur friedlich schliefe. Ich nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. Ihre Haut fühlte sich rau an und war viel kälter als vorher.
Ich sah, wie ihre Kräfte langsam immer weniger wurden und ihr Gesicht, sofern das noch ging, immer blasser. Mir kamen schon wieder die Tränen und ich sagte: „Mama, ich liebe dich!“ Ich sagte es aus tiefstem Herzen und betrachtete meine Mutter noch ein paar Sekunden lang.
In diesem Moment spannten sich ihre Gesichtszüge merklich an und man hörte, wie ihre Atemzüge immer kürzer und die Atempausen immer länger wurden.
Das Piepen der Maschinen wurde immer lauter.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich fühlte mich in dem Moment so hilflos wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, meine Mutter würde gerade vor meinen Augen sterben. Jetzt verlief für mich plötzlich alles wie in Zeitlupe: Ich nahm einen Brief unter der Liege meiner Mutter wahr und griff automatisch danach.
Es war aus reinem Reflex, aber ich spürte, es war das Einzige und Richtige, was ich in diesem Moment tun konnte.
Die Sanitäter kamen direkt danach ganz schnell zu uns geeilt, meine Großmutter, die auch direkt zu mir gelaufen kam, hielt mich ganz nah an sich gedrückt und schluchzte. Ich war wie gelähmt. Gerade noch hatte ich gehofft, alles könnte gut werden und dann … Die Sanitäter eilten hin und her und schließlich kam einer langsam auf mich und meine Großmutter zu und sagte traurig: „Es tut mir leid, wir konnten nichts mehr tun.“
Danach brach ich zusammen.
Kapitel 4
3 Monate später.
So, da stand ich also, in meinem neuen Zimmer in einem ganz neuen Haus und einem ganz neuen Dorf. Neben mir standen haufenweise Umzugskartons. In manchen waren Kleider, in anderen Schulsachen, Deko und noch viel mehr. Nach dem schlimmen Ereignis vor drei Monaten waren meine Großmutter und ich nur noch ein einziges Mal in meiner Heimatstadt gewesen und hatten meine Sachen aus unserem alten Haus geholt. Aus dem alten Haus von mir und meiner Mutter. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, genau zu überlegen, welche Sachen ich mitnehmen mochte und welche nicht. Deshalb hatte ich alles Mögliche in die Kartons gestopft und jetzt sollte ich alles in meinem neuen Zimmer einräumen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich was reintuen oder hinlegen, geschweige denn, welche Bilder ich an die Wände hängen sollte. Meine Großmutter hatte mir zwar angeboten, zu helfen, aber ich wollte mein Zimmer alleine gestalten und einrichten. Ich trank einen Schluck von meinem Wasser, machte Musik an und atmete einmal ganz tief durch. Jetzt konnte es losgehen. Also, als erstes legte ich alle Klamotten, die ich mitgenommen hatte, in den Kleiderschrank. Ich achtete nie so richtig auf Ordnung, also legte ich die Klamotten einfach kreuz und quer in den Schrank. So, das hätten wir schon mal. Der erste Karton ist erfolgreich ausgepackt worden. Also fehlten nur noch 14 Kartons. Das konnte ja noch spaßig werden!
Als nächstes nahm ich mir vor, die Schulsachen auf meinen Schreibtisch zu legen und die Bücher in das Regal rechts neben meinem Bett zu stellen. Ich liebte Bücher. Wenn es mir nicht so gut ging oder mir viele Gedanken durch den Kopf gingen, lenkten mich Bücher immer ab. Sie entführten mich in eine Welt, in der ich meine Gedanken und Sorgen einfach vergessen konnte. Für den Moment, in dem ich las, stieg ich einfach in eine neue Welt und erst nach ein paar Stunden hörte ich immer auf zu lesen.
In letzter Zeit las ich sehr viel, da ich auf andere Hobbys oder auf neue Freunde keine große Lust hatte. Zum Glück musste ich in den vergangenen drei Monaten nicht zur Schule, da ich andere Sorgen hatte …
Aber dies war der letzte Tag, an dem ich mich noch einmal ausruhen und einfach nichts tun konnte. Ich musste nur noch mein Zimmer einräumen ...
Jetzt, da ich meine Sachen endlich alle in meine Schränke und Regale geräumt hatte, war ich stolz auf mich, dass ich mein Zimmer alleine so toll hatte einrichten können - mit schöner Deko und vielen Kerzen.
„Hey Avery, wie weit bist du denn?“, hörte ich draußen die Stimme meiner Großmutter fragen und antwortete mit einem kurzen: „Komm rein!“
Die Tür ging langsam auf und meine Großmutter trat ins Zimmer- „Wow, das ist ja wunderschön geworden“, sagte sie und brachte mich dabei zum Lächeln: „Ja, ich habe dir ja gesagt, es wird noch was, selbst wenn ich es auf den letzten Tag schiebe.“
„Ich muss zugeben, ich bin sehr stolz auf dich. Das hast du wirklich toll gemacht“, lobte sie mich und fragte anschließend: „In einer Viertelstunde gibt es Essen, in Ordnung?“
Ich hatte solchen Hunger und mein Bauch knurrte schon die ganze Zeit. „Ja, klar. Bis gleich“, antwortete ich und wandte mich meinem Schreibtisch zu. Darauf lagen ein paar Blätter Papier und mein Schulmäppchen. Es war bestimmt schon Jahre her, dass ich das letzte Mal gezeichnet hatte, aber früher konnte ich es ganz gut. Also änderte ich die Musik auf Spotify zu der Playlist „Ruhige Musik“ und begann zu zeichnen. Ich malte einfach drauflos. Stellte mir einen Jungen in meinem Alter mit grünen Augen und schwarzen Haaren vor. Früher, in Kunst, hatte ich ein Bild schon immer viel schneller fertig gemalt, als jeder andere. Ich hatte immer höchstens zwei Doppelstunden für ein Bild mit allem Drum und Dran gebraucht, während meine Mitschüler immer vier oder mehr Doppelstunden gebraucht hatten. So bekam ich meinen um die siebzehn Jahre alten gezeichneten Jungen, mit allen Einzelheiten, wie Konturen im Gesicht und Falten auf dem Pullover, in weniger als zehn Minuten fertig und als ich mein Bild genauer betrachtete, fiel mir auf, dass ich immer noch ziemlich gut zeichnen konnte. Sofort wollte ich das Bild an meine Wand hängen, brauchte aber dafür noch Reißzwecken. Mit viel Glück hatte Großmutter sogar welche für mich bereitgelegt. Sie hatte mir nämlich eine Kiste ins Zimmer gestellt, in der lauter neue Schulsachen, wie Hefte, Mappen oder Schreibutensilien waren.
Ich stöberte kurz in der Kiste rum und BINGO, da war eine ganze Schachtel voller Reißzwecken. Also beeilte ich mich und hing mein Bild an die Wand.
Da wir in weniger als fünf Minuten essen würden, beschloss ich, mich schon mal in die Küche zu begeben und meiner Großmutter noch bei den restlichen Essensvorbereitungen zu helfen. „Und, soll ich schon mal den Tisch decken oder eine Gurke schneiden?“, fragte ich meine Großmutter, die gerade Paprika wusch. „Ja, du kannst gerne schon mal eine Gurke schneiden. Sie liegt …“, weiter kam sie nicht, da ich ihren Satz zu Ende brachte, „… unten im Kühlschrank, ja Oma, ich weiß, ich wohne hier schon seit drei Monaten. Ich kenne mich hier aus.“ Meine Großmutter musste schmunzeln. „Ja, stimmt, ich vergesse immer wieder, dass du schon so lange bei mir wohnst. Die vergangenen drei Monate haben sich irgendwie wie drei Wochen angefühlt. Geht es dir auch so oder bin ich da die Einzige?“
„Ja, das stimmt. Aber es waren schöne drei Monate, ich konnte dich kennenlernen, musste nicht zur Schule, konnte den ganzen Tag lesen und mit Sky telefonieren und konnte meinen kleinen Cassi kennenlernen.“ Bei seinem Namen musste ich lachen. Ich liebte es, ihn so zu nennen. „Du weißt genau, dass er es hasst, so von dir genannt zu werden, oder?“, fragte meine Großmutter mich, konnte ein Grinsen aber nicht unterdrücken. „Nein, seit wann hasst er denn seinen tollen Spitznamen?“, fragte ich ironisch. Plötzlich klingelte es an der Haustür und ich sagte nur: „Wenn man vom Teufel spricht. Ich geh schon.“
Ich öffnete die Tür und davor stand er, der Grund, der mich vor drei Monaten endgültig überzeugt hatte, hierher zu ziehen. Mein kleiner Bruder Cassius, den ich natürlich immer Cass nannte. Obwohl, um ihn zu ärgern, nannte ich ihn „kleiner Cassi“. Ich kannte ihn zwar erst genauso lange wie meine Großmutter, nämlich seit drei Monaten, aber mit seiner ganz eigenen Art, konnte ich ihn innerhalb von ein paar Stunden schon in mein Herz schließen. Er ist erst acht Jahre alt und an dem Tag, als unsere Mutter von uns gegangen ist, kam er gerade vom Fußballtraining zurück. Meine Großmutter hat Cass einen Tag nach meinem Zusammenbruch alles erzählt. Alles über mich und dass unsere Mutter jetzt nicht mehr da sei. Er kannte unsere Mutter auch.
Unsere Großmutter hat ihm immer von ihr erzählt und als meine Mutter ab und zu wegen ihrer „Arbeit“ wegfahren musste, ist sie immer zu Cass gefahren, hat ein Wochenende mit ihm verbracht. Meine Großmutter ist an solchen Wochenenden immer zum Wellness gefahren, da sie genau wusste, dass meine Mutter den Kontakt mit ihr für immer abgebrochen hatte.
Cass ist aber genauer gesagt mein Halbbruder, da meine Mutter an einem Abend mal wieder einen Rückfall und viel zu viel getrunken hatte. Sie war an jenem Abend in einer Bar und dann ist es passiert. Mit einem Barkeeper. Danach musste sie für mehrere Monate zu einem „Arbeitsausflug nach New York - das hatte sie mir auf jeden Fall gesagt. So entstand Cass, der von meiner Großmutter aufgenommen wurde, nachdem meine Mutter widerwillig bei ihr angerufen hatte. Meine Großmutter dachte, ihre Tochter würde wieder Kontakt wollen und sie könnte mich endlich kennenlernen, aber meine Mutter wollte nur, dass meine Großmutter Cass zu sich nahm. Als sie dies getan hat, konnte meine Großmutter meine Mutter nie wiedersehen. Nur über Kurznachrichten hatten meine Mutter und sie sich immer wieder mal geschrieben, aber diese Nachrichten lauteten fast immer gleich: „Ich bin nächste Woche bei Cass … du hast ja bestimmt was vor.“
Das machte meine Großmutter immer wieder sehr traurig, aber sie freute sich auch für Cass, dass er seine Mutter sehen konnte. Die ersten Tage nach deren Tod wollte ich meiner Großmutter das alles nicht glauben, aber nach und nach sah ich ein, dass meine Mutter nur mit mir alles geteilt hatte und nur mir gegenüber sie selbst sein konnte. Sie hatte nur mir vertraut, aber hatte trotzdem ein großes Geheimnis vor mir gehabt. Cass.
Nachdem mein Vater sie verlassen hatte, konnte sie niemandem mehr vertrauen. Niemandem mehr. Aber obwohl Cass bis vor drei Monaten auch nichts von meiner Existenz wusste und eigentlich genauso in Vertrauensangelegenheiten war, wie ich und unsere Mutter und all das für ihn sehr schwer zu glauben war, kam er einen Tag nach dem Tod unserer Mutter von selber zu mir ins Zimmer und versuchte, auf seine eigene Art, mir zu helfen. Das hieß, er kam zu mir, kuschelte sich einfach neben mich ins Bett und erzählte mir von sich, von seinen Freunden und von unserer Mutter und unserer Großmutter.
Cass lag bestimmt mehrere Stunden einfach neben mir und erzählte mir aus seinem Leben. Ihn störte es auch nicht, dass ich nicht antwortete. Nein, im Gegenteil. Er konnte nicht mehr aufhören zu erzählen.
Es dauerte noch nicht mal einen Tag, bis ich ihm auch vertraute. Schon am nächsten Morgen schlich ich mich in Cass‘ Zimmer und erzählte ihm von mir. Ich konnte mich noch nie so schnell einem Menschen anvertrauen wie ihm. Er war der Grund, warum ich jetzt hier in Norddeich lebte und diese Entscheidung, hier zu wohnen, die richtige war.
Cass umarmte mich, ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: „Hallo kleiner Cassi, wie war die Schule?“
„Gut, wir schreiben in zwei Wochen Mathe, du musst mir bei dem Thema helfen“, antwortete er und ich nickte ihm zu. „Übrigens, nenn mich nicht immer so!“
Diesen Kommentar quittierte ich mit einem Lächeln. Dann stürmte er in die Küche und fragte unsere Großmutter, was es zu essen gebe. Dieser kleine Rabauke wollte, im Gegensatz zu mir, eine Woche nach dem Tod unserer Mutter wieder direkt in die Schule gehen.
Er wollte, dass ich auch in die Schule gehe, aber ich war noch nicht bereit dazu. Das war ich zwar jetzt immer noch nicht ganz, aber ich würde es morgen durchziehen. Ehe ich noch einen weiteren Gedanken an morgen verschwendete, ging ich auch in die Küche und aß mit meiner neuen kleinen Familie zusammen zu Mittag. Cass erzählte uns wieder, wie jeden Mittag, etwas über die Schule, schwärmte von einer Schulfreundin und regte sich über seine Lehrer auf.
Den restlichen Tag lag ich in meinem Bett und las in meinem Buch. Am Abend spielten Cass und ich Karten und ich sagte ihm, dass ich Angst vor morgen hätte. Daraufhin sagte er: „Hey, Ave, du schaffst das. Wenn nicht du, wer dann? Du bist die beste Schwester der ganzen Welt und bestimmt auch die beste und coolste Schülerin. Das schaffst du. Ich hab dich lieb!“ Danach war ich so gerührt, dass ich ihn in eine lange Umarmung schloss. Ich gab ihm einen Kuss und wir wünschten uns Gute Nacht. Er war einfach der Beste und ich bin so dankbar, dass ich ihn als kleinen Bruder habe. Ich wüsste ganz ehrlich nicht, was ich ohne ihn tun sollte.
Da ich am nächsten Morgen schon um sechs Uhr aufstehen musste, sagte ich meiner Großmutter noch schnell Gute Nacht und ging ins Bett.