Kitabı oku: «Mit dem Mut einer Frau», sayfa 7
III
Die Witwe von Kieckow
1898–1911
Eine Besucherin aus Kniephof
August. Umringt von ihren Kindern, sitzt die junge Witwe auf der Terrasse beim Tee und liest aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm vor. An der Terrassentür steht ein Kindermädchen bereit, sollte das kleine Ruthchen unruhig werden, aber selbst sie, erst eineinhalb Jahre alt, lauscht andächtig Mutters Stimme, die einmal die gute Prinzessin und dann die böse Hexe mimt. Sehr zur Enttäuschung der Kinder findet die nachmittägliche Märchenstunde ein plötzliches Ende, als ein langjähriger Diener der Familie auf der Stufe zur Terrasse erscheint und ein Telegramm für die Mutter in den Händen hält:
Liebe Freundin Stop Unterwegs von Danzig nach Kniephof mit dem Abendzug Stop Um Acht in Tychow Stop Freue mich auf euch und Kieckow Stop deine treue Hedwig Bismarck Stop
Ruth ist hocherfreut über den bevorstehenden Besuch der verwitweten Hedwig von Bismarck, mit der sie durch die allgemeine Familienfreundschaft der Kleists und der Bismarcks verbunden ist. Fast nie hat sie jedoch Zeit mit ihr allein zugebracht. Es ist höchste Zeit, diese Beziehung zu vertiefen! Ruth wendet sich den Kindern zu, um sie an ihrer Freude teilhaben zu lassen, doch hat sie damit in diesem Augenblick keinen Erfolg.
Bislang sind Ruth und Hedwig viermal zusammengetroffen, zweimal in Kniephof und zweimal in Kieckow. Das erste Treffen fand im Sommer 1886 statt, als Hedwig und Philipp von Bismarck Jürgens Braut in die Bismarckschen Kreise einführten. Das zweite fand 1892 in Kieckow statt anlässlich der Beerdigung von Jürgens Vater. Zwei Jahre später trafen sie sich abermals in Kniephof zur Beisetzung von Hedwigs Ehemann Philipp, während der Anlass des bislang letzten Treffens in Kieckow Jürgens Begräbnis war. Dieses Wiedersehen wird anderer Natur sein – ein Zusammentreffen zweier Witwen, die beide große Güter leiten und für je zwei Dörfer verantwortlich sind, also selbstständig die schweren Aufgaben eines preußischen Landbesitzers erfüllen müssen. Schnell gibt Ruth dem Überbringer der Nachricht eine Reihe von Anweisungen – er soll den Kutscher herschicken, die Hausdame das Gästezimmer herrichten lassen, und das Kindermädchen soll die Kinder zur Begrüßung des Gastes vorbereiten. Bevor die Kinder aber losziehen, fragt sie noch, welches Lied sie für die Besucherin singen wollen. Einstimmig kommt die Antwort: »Der alte Barbarossa.« Ruth täuscht ein wenig Überraschung vor, weiß sie doch, dass dies das Lieblingslied ihrer Sprösslinge ist. Es erzählt die Legende Kaisers Friedrich Barbarossa, der unter einem Felsen schläft, das Kinn auf einen Marmortisch aufgestützt, durch den im Laufe der Zeit sein Bart hindurchgewachsen ist, und der hier schlafend auf seine Wiederkehr wartet.
Ebenso wie ihre Kinder ist auch Ruth fasziniert von der Legende des schlafenden Barbarossa, aber im Gegensatz zu ihnen denkt sie auch über die Symbolkraft des beliebten Gedichtes nach. Gerade zu dieser Zeit erhält es besondere Bedeutung durch den Tod Otto von Bismarcks Ende Juli. Er war es und nicht der jetzige Kaiser, auch nicht sein Vorgänger, der seinen Landsleuten Barbarossa wieder ins Gedächtnis gerufen hat. Ruth hegt zwiespältige Gefühle gegenüber Bismarck, der Preußen und die anderen deutschen Staaten zwar zu einem modernen Nationalstaat vereint, jedoch auch den derzeitigen Kaiser gnadenlos verspottet hat. Wie gut wird es tun, sich darüber mit Hedwig auszutauschen.
Allein auf der Terrasse zurückgeblieben, denkt Ruth über die komplexe Geschichte dieser erfolgreichen Familie nach, die so viele talentierte Mitglieder hervorgebracht hat, angefangen bei der Mutter aller, Wilhelmine Mencken von Bismarck, Tochter eines Berliner Gelehrten und Professors.
Ruth ist auch bekannt, dass ein Sohn der Familie Mencken gegen den Willen seines Vaters nach Amerika ausgewandert war, was sie an ihren eigenen Bruder Robert und dessen Wunsch erinnert, nach Amerika zu emigrieren, um etwas Neues aus seinem Leben zu machen. Warum nur hegen die jungen Männer immer wieder diesen Wunsch, wo doch in preußischen Landen eine Fülle von Aufgaben und Chancen wartet? Ihr Bruder Robert hatte seine Idee auf Vaters Wunsch aufgegeben und ist nun der persönliche Adjutant eines kaiserlichen Prinzen. Eigentlich spielt er mehr oder weniger die Rolle der Gouvernante eines jungen Mannes, dem nichts anderes einfällt, als die Familie des Kaisers in peinliche Situationen zu bringen. Seit Jürgens Tod war Robert schon oft zu Besuch und unterhielt seine Schwester mit Geschichten über das oberflächliche Leben am Hofe. So sehr Ruth der neueste Klatsch auch amüsiert, so sehr sorgt sie sich um das Haus Hohenzollern. Wenn doch die Machthaber dem jahrhundertealten Ruf Gottes, des Vaterlandes und der Familie folgen würden, wie es die Kleists und die Zedlitze, ja auch die Bismarcks Generation für Generation getan haben.
Ruth analysiert in Gedanken ihre fünf Kinder und überlegt, welches davon eventuell eines Tages den Wunsch haben könnte, nach Amerika auszuwandern. Ihre Gedanken kehren wieder zu Wilhelmine Mencken zurück, der intellektuellen Frau, die Ferdinand von Bismarck, einen preußischen Offizier und Besitzer von drei Gütern in Pommern, geheiratet hat. Er soll der beste aller Junker gewesen sein, er liebte die pommersche Landschaft, schützte Wälder und Felder und war Meister auf dem Gebiet einer in Pommern weitverbreiteten Leidenschaft, der Jagd. Aus dieser etwas überraschenden Heirat gingen drei höchst begabte Kinder hervor – Bernhard, Otto und Malvina. Fast 80 Jahre später spricht man in Pommern noch immer von der unglücklichen Verbindung zwischen der Professorentochter und einem pommerschen Junker!
Das Landhaus in Kniephof war der Geburtsort von Bernhard und Otto und es blieb das Zuhause ihrer Kindheitsjahre mit einer unglücklichen, kränkelnden Mutter. Als sie noch sehr jung waren, wurden die beiden zur Vorbereitung auf ein Universitätsstudium in ein Internat nach Berlin geschickt. Weit entfernt von zu Hause entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden von Heimweh geplagten Jungen vom Lande. Der ältere, Bernhard, beschützte seinen jüngeren Bruder Otto in der fremden, unfreundlichen Umgebung. Die Strenge der Mutter zahlte sich letztendlich aus, indem beide Söhne ihre Ausbildung erfolgreich abschlossen. Bernhard wurde wie Ruths Mann Jürgen Landrat in der preußischen Verwaltung, Otto aber wurde zur Legende. Der entscheidenden Bedeutung des mütterlichen Einflusses auf die Entwicklung ihrer Kinder, selbst einer so unglücklichen Frau wie Wilhelmine, ist sich Ruth bewusst. Im Stillen betet sie zu Gott, sie möge dabei mindestens ebenso erfolgreich sein wie diese arme Frau.
Otto kehrte als junger Mann nach Kniephof zurück und übernahm die Leitung des Gutes, gab sich gleichzeitig jedoch Trinkgelagen hin und gebärdete sich wie ein Wilder. Die Gesellschaft taufte ihn den »wilden Junker von Kniephof«. Dennoch gelang es ihm in dieser Zeit, die tief verschuldete Landwirtschaft auf eine gesunde wirtschaftliche Grundlage zu stellen. Bernhard heiratete ein Mädchen vom Nachbargut Lasbeck; aus der Verbindung ging lediglich ein einziger Sohn namens Philipp hervor, da die junge Mutter wenige Wochen später starb. 22 Jahre später zeichnete sich Philipp, nun junger Leutnant in der preußischen Armee, durch außerordentliche Leistungen im Krieg gegen Frankreich aus, einem Krieg, den nach der Meinung vieler sein Onkel heraufbeschworen hatte. Der Sieg ging an Preußen und zum Dank belohnte der Kaiser Otto von Bismarck mit Grundbesitz in dem von Preußen neu eroberten westlichen Landesteil. Philipp kehrte aus dem Krieg zurück, übernahm Lasbeck von seinen Großeltern mütterlicherseits und vereinigte es mit Kniephof, das er von seinem Onkel Otto von Bismarck erworben hatte. Seine Laufbahn als Gutsbesitzer begann Philipp, indem er heiratete und seiner jungen Frau zunächst ein neues Gutshaus in Kniephof errichten ließ. Später baute er eine Straße durch den dichten Wald zwischen den zwei Dörfern, sodass für die Arbeiter und all die anderen, die jeden Tag zwischen den Gütern pendeln mussten, der Weg erleichtert wurde. Die Dorfbewohner tauften diesen romantisch gelegenen Weg den »Leutnantspfad«, der nach Philipps Tod zu einer lebendigen Erinnerung an den Herrn von Kniephof und Lasbeck wurde. Ruth erinnert sich eines Spaziergangs Arm in Arm mit Jürgen kurz nach ihrer Hochzeit. Sie wanderten die ganze Strecke hin und wieder zurück und träumten von ihrem künftigen Leben in Kieckow.
Wie schon seine Mutter, so starb auch die Frau Philipp von Bismarcks kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes. Das schreckliche Schicksal dieser Frauen erinnert Ruth an zwei Geburten im Dorf, denen sie kürzlich beiwohnte. Bei der ersten konnte die Mutter eines gesunden Kindes nicht gerettet werden und bei der zweiten gebar eine gesunde Mutter ein Kind, das innerhalb weniger Stunden starb. Von der Herrin von Kieckow wird erwartet, bei Geburten anwesend zu sein. Aus diesem Grund hat Ruth nun begonnen, sich Kenntnisse über die Pflege und Versorgung werdender Mütter und über Geburtshilfe anzueignen. Als Mutter von fünf gesunden Kindern zählt sie sich selbst zu denen, die vom Glück begünstigt wurden.
Kurze Zeit nach dem Tod seiner Frau lernte Philipp Hedwig von Harnier kennen und heiratete sie. Sie stammte aus der lieblichen Landschaft entlang des Rheins. Nun hatte sein Sohn wieder eine Mutter und Kniephof und Lasbeck eine neue Herrin. Ruths Gedanken verweilen bei den Wörtern Herr und Herrin, Wörtern, die für althergebrachte Privilegien und genau definierte Pflichten stehen, eine Art Arbeitsteilung, die sich in Hunderten von Jahren in der Feudalgesellschaft entwickelt hat. Erstaunlicherweise funktioniert dieses System um die Jahrhundertwende noch immer, solange Herr und Herrin am Leben sind oder, wie in Hedwigs Fall, die Herrin die Rolle des Gutsherrn zu übernehmen vermag.
Hedwig trifft spätabends in einem überdachten Wagen in Kieckow ein. Die fortgeschrittene Zeit erlaubt wenig mehr als eine herzliche Umarmung und ein paar Worte, um sie willkommen zu heißen. Ruth geleitet Hedwig zu ihrem Zimmer, gefolgt von einem Zimmermädchen, das eine Kanne heißen Tee bringt.
Beim Morgengebet im Speisezimmer von Kieckow werden Hedwig die Kinder vorgestellt. Ruth nimmt am Harmonium Platz und improvisiert über ihr Lieblingslied – ein Talent, um das Jürgen seine Frau angeblich beneidete. Sie jedoch beneidete ihn wiederum um die Gabe, gut vom Blatt spielen zu können, was ihr nicht gelingen mag. Hedwig sitzt auf einem der Stühle am Esstisch, dem Harmonium zugewandt, während Kindermädchen und Gouvernante zu ihrer Linken und Rechten sitzen. Dahinter stehen die Hausdame, die Dienstmädchen und zwei ältere männliche Bedienstete. Ruth erhebt sich von der Bank, nimmt die Bibel und öffnet sie an einer Stelle, die speziell für einen lang erwarteten Gast markiert wurde. Sie liest die entsprechenden Bibelverse vor und spricht dann ihre eigenen Begrüßungsworte, erinnert die Anwesenden an ihre individuellen und kollektiven Pflichten Gott gegenüber und spricht schließlich ein Dankgebet für Gottes Segen im Namen aller Anwesenden. Zum Abschluss wird ein Lied gesungen, das Ruth wieder begleitet. Das Lied ihrer Wahl überrascht keinen, denn es ist ebenso das Lied der Bismarcks wie das der Kleists – »Morgenglanz der Ewigkeit«. Die größeren Kinder kennen alle fünf Strophen auswendig. Unter der Melodie fällt eine klare, saubere Altstimme auf, die souverän dem Gesang die Qualität einer Kirchenaufführung verleiht. Es ist die Stimme von Spes, die mit ihren zehn Jahren die Bedeutung von Harmonie begriffen hat, lange bevor sie Noten lesen kann. Ihre musikalische Begabung ist der Mutter eine große Freude. Wenn Besucher im Hause sind, erhält das Frühstück eine Festlichkeit, die sonst nur für Sonntage reserviert ist. Statt Schweineschmalz gibt es frische Butter aufs Brot (normalerweise wird die gesamte in Kieckow hergestellte Butter außerhalb des Gutes verkauft); außerdem wird hausgemachte Birnenmarmelade aus der letzten Ernte gereicht. Nach dem Frühstück ziehen sich Ruth und Hedwig in die Bibliothek zurück, denn es gibt viel zu besprechen.
Im Esszimmer sind die Kinder, wie es ihre Aufgabe ist, damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen. Spes erteilt die Anweisungen; der kleinen Ruth hat sie aufgetragen, die Servietten abzuräumen. Zwar hat die Kleine soeben erst das Laufen gelernt, aber schon nimmt sie stolz jede Serviette einzeln, rollt sie vorsichtig zusammen, steckt sie in den dazugehörenden gravierten, silbernen Serviettenring und versucht vergeblich, sie auf das Büfett zu legen. Konstantin, siebeneinhalb Jahre alt und groß genug, um auf das hohe Büfett langen zu können, bemerkt ihre Schwierigkeiten und hilft ihr. Von allen Kindern ist Konstantin derjenige, der sich am meisten um die Bedürfnisse anderer kümmert. Er ist fast immer ein sanfter Junge, mit einer Ausnahme, wenn es gilt, seine Schwestern zu beschützen. Erst kürzlich musste ihn seine Mutter zurechtweisen, da er ein älteres Kind im Dorf geschlagen hatte, das den kleinen Wagen der Kinder mit Maria umgeworfen und sich dann selbst an ihren Platz gesetzt hatte. Die Zurechtweisung war für Mutter und Sohn gleichermaßen schmerzhaft.
In der Bibliothek beginnen die beiden Frauen, beim Tee über Familie und Kinder zu plaudern. Hedwig erzählt von ihrer Ankunft in Pommern, damals, als jung Verheiratete – die desolate Landschaft, die einfache Infrastruktur, die ernsten Gesichter, alles ein starker Kontrast zu der warmen, kultivierten Atmosphäre in Südwestdeutschland, wo sie aufwuchs. Ruth muss lachen, als Hedwig von der Verlorenheit spricht, die sie beim ersten Anblick von Kniephof empfand, erinnert sie sich doch an ihre eigene Enttäuschung beim ersten sonntäglichen Besuch an einem tristen Wintertag in Kieckow. Bereits jetzt fühlen sich die beiden Frauen enger verbunden.
Hedwig teilt mit Ruth ihre Erinnerungen an die zärtlichen und auch schwierigen Erfahrungen, die sie machte, als sie begann, bei Philipps kleinem Sohn die Mutterrolle zu übernehmen, und auch an die Schwierigkeiten und Fehlschläge zu Beginn ihrer Ehe – ihr Heimweh, ihre Bestürzung über den rauen und sarkastischen Humor der Bismarcks und die Erkenntnis, dass der Name Bismarck vor allem Tradition bedeutet. Sie erinnert sich, wie fremd sie sich bei ihrem ersten Auftritt in der Gesellschaft benachbarter Gutsbesitzer fühlte, als sie die Ablehnung der Damen spürte, weil sie ein weißes Kleid trug statt der hier üblichen grauen und schwarzen Farben. Dennoch konnte sie sich auf Philipp, ihren treuesten Verbündeten, verlassen und in dem schönen Park von Kniephof und auf dem Weg durch den Wald nach Lasbeck fand sie immer Trost. Langsam schwanden Hedwigs anfängliche Bedenken, vor allem, nachdem sie drei weitere Kinder geboren hatte – Gottfried, Herbert und schließlich Elisabeth. Jedes Kind schlief die ersten Monate seines Lebens in der Bismarckschen Wiege, einem Prunkstück, das aus dem Stamm einer riesigen Eiche gefertigt worden war. In das Holz sind Ornamente aus Wald und Feld hineingeschnitzt. Hedwig zählt die Namen der Bismarckschen Nachkommen auf, die bereits in diesem Familienerbstück gelegen haben. Der erste war Otto von Bismarck, obwohl seine Mutter Wilhelmine den Auftrag für die Wiege erteilte, als sie mit Bernhard schwanger war. Unglücklicherweise jedoch wurde der Handwerker, dessen Name nicht mehr bekannt ist, erst mit der Arbeit fertig, als Bernhard bereits der Wiege entwachsen war. Auf diese Weise wurde sie als »Ottos Wiege« bekannt und gehört seitdem zu Kniephof. Seit Elisabeth hat kein Kind mehr in der Wiege gelegen und Hedwig fragt sich, wessen Kind wohl das nächste sein würde.
Keine der beiden Frauen kann wissen, dass das letzte Kind, das in Otto von Bismarcks Wiege geschaukelt wird, ihrer beider Urenkel sein wird, kurz bevor die Wiege zusammen mit allem anderen Hab und Gut in Flammen aufgehen wird.
Hedwigs jüngste Erinnerungen an ihren Onkel Otto von Bismarck gehen zurück auf dessen letzten Besuch in Kniephof vor fünf Jahren. Er war zur Beerdigung seines Neffen Philipp hergekommen. Alt war er geworden, gar nicht mehr der große Kanzler, vor dem ganz Europa einst zitterte. Nach dem Begräbnis ging er auf Hedwig zu und bat sie, mit ihm einen letzten Spaziergang durch den Park der Heimat seiner Kindheit zu machen. Offenbar betrachtete der alte Herr dies als eine Gelegenheit zum Abschiednehmen. Arm in Arm wandelten der alte Kanzler und die soeben verwitwete Herrin durch den Park, bis sie an eine freie Wiese gelangten. Sie standen vor einer riesigen Fichte und der alte Mann erzählte ihr: »Als Kind habe ich oft mit meiner Mutter hier gesessen, außer Sicht des Hauses und des Dorfes. An warmen, sonnigen Nachmittagen nahm meine Mutter, was nur ich weiß, ein Vergrößerungsglas aus ihren Rocktaschen. Sie fing die Sonnenstrahlen damit ein und hielt es über ihren Leib, um ihre kranke Leber zu wärmen und die Schmerzen zu lindern.« Bei diesen Worten versagte ihm die Stimme und Hedwig legte zärtlich ihre Arme um den alten Mann, um mit ihm die Trauer über das verschwendete Leben dieser begabten Frau zu teilen, die immer eine Fremde in Pommern geblieben war.
Aber nun kommt Hedwig auf den Hauptgrund ihres Besuches in Kieckow. Sie ist mit der Absicht hergekommen, der jungen Witwe, deren Lebensweg dem ihren so ähnlich ist, mit Rat zur Seite zu stehen. Ihr jüngstes Kind war gerade acht Jahre alt, als Philipp an Grippe erkrankte und innerhalb einer Woche starb. Zurück ließ er eine Frau, die nun ohne Mann ihr Leben meistern musste, vier Kinder, denen der Vater genommen war, und ein Gut, das keinen Gutsherrn mehr hatte. Hedwig weist darauf hin, dass in Pommern das Gut immer an erster Stelle steht; das Wichtigste sei, einen vertrauenswürdigen Verwalter zu finden, der seine Arbeit gut macht und von den Arbeitern respektiert wird. Ruth zuckt zusammen, denn diese drei Eigenschaften vermisst sie eher bei dem Verwalter, den Jürgen kurz vor Beginn seiner Krankheit eingestellt hat. Ebenso obliege es der Witwe, fährt Hedwig fort, in allen Aufgaben, die im Haus oder im Dorf anfallen und von ihr persönlich überwacht werden, größte Geschicklichkeit zu beweisen, sei es beim Reinigen der Lampen, beim Anpflanzen und Pflegen des Gemüsegartens, Einkochen, Spinnen, Weben, Nähen, selbst beim Schlachten von Schweinen und Hühnern habe sie besser zu sein als alle anderen. Ruth nickt mit dem Kopf. Vom Weben und Nähen abgesehen, brachte sie aus Großenborau wenige praktische Fertigkeiten mit, doch hatte sie sich in zwei Jahren in Kieckow schon vieles angeeignet. Sie schwört sich, Hedwigs Rat zu befolgen und all diese Fähigkeiten zu erlernen. Hedwig rät ihr auch dringend, das Kaufen oder Verkaufen von Tieren, seien es Pferde, Schweine oder Rinder, am besten Männern zu überlassen, da es in Pommern keine Frau gebe, die mit einem Juden handeln könne! Ruth wundert sich, wie unterschiedlich die Ansichten über diese Menschen sind. Hedwigs Aussage hätte ebenso die Meinung ihres Schwiegervaters sein können, wäre jedoch niemals von ihrem eigenen Vater oder von Jürgen gemacht worden.
Schließlich sei die Buchhaltung nicht zu vergessen. Das Fehlen entsprechender Fertigkeiten habe in den letzten Jahrzehnten ein Gut nach dem anderen im östlichen Preußen ruiniert. Ruth hat sich bereits intensiv mit der Buchführung von Kieckow beschäftigt und festgestellt, dass die Vergangenheit tatsächlich einige Unklarheiten aufweist. Unter Jürgens Herrschaft waren die Bücher durchschaubarer geworden, sodass die Schulden nun klar ersichtlich sind. Ruth nimmt sich vor, die Bilanzen auszugleichen, und schwört, das Gut niemals so tief verschuldet an ihren Sohn zu übergeben, wie Jürgen es vor einigen Jahren übernehmen musste. Ihr Sohn Hans Jürgen, inzwischen zwölf Jahre alt, ist mit seinen großen, offenen, ehrlichen Augen dem Vater sehr ähnlich.
Zum Mittagessen ist die Zahl der Kinder auf neun angestiegen, denn im Dorf ist eine Frau erkrankt. Der Vater arbeitet mit den anderen Männern auf dem Feld und Ruth hat angeordnet, dass in solchen Fällen die Kinder das Mittagessen im Gutshaus einzunehmen haben. Spes und Hans Jürgen haben bereits die richtige Anzahl von Plätzen gedeckt, auch die zusätzlichen Servietten und hölzernen Serviettenringe aus den Beständen der Dienstboten sind aufgelegt. Für Ruths Kinder ist das Tischdecken neben dem Zusammensetzen von Puzzles die liebste Freizeitbeschäftigung. Noch erkennen sie nicht, dass jedes von der Mutter für sie erdachte Spiel sie auf das spätere Leben vorbereiten soll.
Heute ist es die fünfjährige Maria, die leise, aber mit einer Klarheit und Ernsthaftigkeit, die die Besucherin tief berühren, das Tischgebet spricht. Nach dem Essen gibt die Mutter bekannt, dass Spes eine Auswahl von Mozartstücken auf dem Flügel in der großen Halle vortragen werde, gefolgt von einem Lied, das die Kinder zu Ehren des Gastes singen würden. Spes’ Vorspiel einer Sonatine ist fehlerfrei. Ruth ist glücklich über Spes’ Talent, auch freut sie sich über ihre eigenen Erfolge als Klavierlehrerin, aber es ist ihr auch bewusst, dass dieses begabte Kind eine bessere Ausbildung benötigt, als sie ihm von der Mutter geboten werden kann. Über das erfolgreiche Vorspiel und den Applaus freut sich natürlich auch Spes, sie bedankt sich dafür mit einem tiefen Knicks. Während die Mutter sich am Klavier niederlässt, stellen sich die fünf Geschwister vor ihrem kleinen Publikum auf – bestehend aus Hedwig, der Gouvernante, dem Kindermädchen, dem Verwalter und den vier Kindern aus dem Dorf. Nach einer kurzen Einleitung auf dem Klavier beginnt der Chor das Lied vom alten Barbarossa:
Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterirdschen Schlosse
Hält er verzaubert sich …
Später am Nachmittag spazieren die beiden Frauen Arm in Arm vom Gutshaus aus, die eine in Grau, die andere in einem blauen Kleid mit weißen Tupfen. Der Anblick der Witwe von Kieckow, einmal nicht in Schwarz gekleidet, erregt bei allen Aufsehen. »Gnädige Frau«, grüßt der Gärtner, der kurz die Harke aus der Hand legt und den Hut abnimmt. »Gnädige Frau«, grüßt auch der Schmied, der sich von seinem Hocker erhebt und mit der Hand über sein Gesicht fährt. Und so geht es weiter, während Ruth der Freundin den Gemüsegarten zeigt, über den Hof geht, die Pferdeboxen und die Schweineställe, die Futterweiden und das ganze Gut vorführt. Beim neu angelegten Blumengarten verweilt sie etwas länger, um einen dicken Strauß mitzunehmen. Dieser Blumengarten ist die erste Veränderung in Kieckow, das ansonsten keine Veränderungen aufweist. Nun machen sich die beiden Frauen auf den Weg zu einer alten Frau, die von Geburt an auf dem Gut lebt und heute ihren 90. Geburtstag feiert.
Als die Zeit für Hedwig von Bismarcks Abreise gekommen ist, versammelt Ruth ihre Kinder auf der Terrasse der großen Eingangshalle. Jedes Kind hält eine andere Blume aus Mutters Garten in der Hand. Hedwig nimmt die Blumen entgegen, um daraus einen Strauß zu binden, und als die kleine Maria an der Reihe ist und ihr das Geschenk entgegenstreckt, kann sie nicht anders, als die Kleine in die Arme zu nehmen. Nachdem sie ihre Freundin ein letztes Mal umarmt hat, steigt die Besucherin in den wartenden Wagen. Ruth ruft ihr noch einen letzten Abschiedsgruß zu, der jedoch schon im Geräusch der Räder des die Anfahrt hinunterrollenden Wagens untergeht. Die Kutsche lässt die mächtige Eiche im Hof hinter sich, rollt auf die befestigte Straße, dann geht es durch das Dorf, zwischen den Feldern Kieckows hindurch, an Klein Krössin vorbei und schließlich zum Bahnhof in Groß Tychow.