Kitabı oku: «Mit dem Mut einer Frau», sayfa 8

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Männliche Besucher in Kieckow

1898, September. Im Lauf eines einzigen Monats melden vier Herren ihren Besuch in Kieckow an. Der erste Besucher, wie könnte es anders sein, ist Vater Zedlitz. Er ist gerade auf dem Weg von Berlin nach Großenborau. Kaiser Wilhelm II. hat Graf Robert aus seinem Ruhestand zurück in die preußische Regierung berufen, diesmal als Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau. Nach einer Pause von sechs Jahren, in der er sein eigenes Gut leitete, kehrt der 60-jährige Graf nun in die Politik zurück, um eine Region zu regieren und zu befrieden, in der die Wunden von Bismarcks antikatholischen Erlassen noch deutlich spürbar sind. Auf seiner Fahrt dorthin nimmt der Graf den Umweg über Kieckow. Er ist höchst erfreut über die gute geistige Verfassung seiner Tochter und über die üppigen Ernteerträge dieses Jahres.

Im Verlauf seines Besuches erzählt Ruth dem Vater von ihrer Entscheidung, in Stettin eine Wohnung zu nehmen, damit ihre Kinder eine Schule besuchen können und gleichzeitig ein Zuhause haben. Vorsichtig, um ihn nicht zu verletzen, macht sie deutlich, dass in heutigen Zeiten eine häusliche Schulbildung nicht mehr ausreiche, sie aber einen Internat­aufenthalt für Hans Jürgen und Spes und bald auch für Kons­tantin nicht zu finanzieren vermag. Für Konstantin sei eine gute Schulbildung ganz besonders wichtig. Als Zweitältester habe er keine Aussichten, das Gut zu erben, und für eine militärische Laufbahn scheine er auch nicht geeignet; daher bleibe für ihn der Besuch eines Gymnasiums, danach die Ausbildung an der Universität. Graf Robert ist mit Ruths Idee zwar einverstanden, er fühlt sich aber verpflichtet, sie auf die Probleme hinzuweisen, die entstehen, wenn ein Gutsbesitzer nicht auf seinem Gut lebt. Ruth ist der Meinung, sie könne größere Schwierigkeiten vermeiden, wenn sie jeden Monat zwei Tage in Kieckow verbringe. Sie versichert ihrem Vater, sie sei entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Innerlich ist er glücklich über die wachsende Zuversicht seiner Tochter und er verspricht ihr, alle drei Monate zu Besuch zu kommen.

Während Vater und Tochter die Wirtschaftsgebäude besichtigen und den Fortschritt der Arbeiten begutachten, erspähen sie in der Ferne zwei Reiter, die von Osten im vollen Galopp über die Wiesen auf Kieckow zukommen. Ruth weiß, es kann sich nur um die Kleists aus dem nahen Schmenzin handeln, also um Hermann und einen seiner Söhne. Fünf Mi­nuten später reiten ein Mann und ein Junge in den Hof ein, springen vom Pferd und übergeben dem Stallknecht die Zügel. Die einfache Kleidung Hermann von Kleists würde nie seinen Status als Besitzer dreier riesiger Güter verraten. Der Sohn folgt seinem Vater und reicht der ihm vertrauten Nachbarin, Tante Ruth, und dem Unbekannten die Hand. Als Ruth ihr Erstaunen darüber ausdrückt, dass Ewald nicht im Internat ist, antwortet der Junge mit einem scheuen Lächeln: »Jetzt sind Ernteferien.« Wie sein Vater trägt der neunjährige Ewald grob gesponnene Kleidung, dazu Lederstiefel aus Schmenzin.

Bislang haben Hermann und Graf Robert sich erst ein ein­ziges Mal, nämlich anlässlich Jürgens Beerdigung, getroffen. Hermann von Kleist, der sich mit der Bewirtschaftung und Erhaltung der alten Kleistschen Ländereien in Pommern ausgelastet fühlt, hatte nie das Bedürfnis nach einer politischen oder gesellschaftlichen Karriere, die so viele seiner Gleichgestellten eingeschlagen haben. Er hat auch nie die pietistischen Neigungen seiner Verwandten in Kieckow geteilt; er habe, so behauptet er, auf seine Weise mit dem Schöpfer Frieden geschlossen. In adligen Kreisen wird er zwar als Krautjunker von Schmenzin bezeichnet, seine Bauern und Arbeiter haben dem rauen, aber gutmütigen Herrn jedoch immer nur tiefe Loyalität und echte Zuneigung entgegengebracht. Ewald gerät mehr nach der Mutter, er ist zurückhaltend und schämt sich offensichtlich ein wenig der rauen Art seines Vaters. Hermanns Frau Lili ist eine typische Vertreterin der kühlen, zurückhaltenden preußischen Aristokratin. Stets trägt sie das dunkelgraue, hochgeschlossene Kleid der preußischen Ade­ligen, niemals lässt sie einen vergessen, dass sie einst eine Gräfin aus Ostpreußen war. Von Ewald verlangt sie, immer der Beste zu sein. Nur ein Gut im Schulzeugnis reicht ihr nicht. Selbst während der Ernteferien muss er die meisten Tage über seinen Büchern sitzen, um im nächsten Zeugnis ausschließlich »sehr gut« zu erhalten. Ruth fühlt sich dem naturverbundenen Hermann viel näher als seiner gezierten, anspruchsvollen Frau. Den jungen Ewald hat sie schon längst in ihr Herz geschlossen. Sie wünschte nur, er bekäme etwas mehr von der Freiheit, die sie versucht, ihren beiden eigenen Söhnen zu geben.

Die Gelegenheit nutzend, dem Jungen eine Freude zu machen, lädt sie die beiden Besucher aus Schmenzin zum Kaffee ein. Das Angebot wird ohne Zögern angenommen. In der Nähe entdeckt sie einen der Stallknechte und schickt ihn mit zwei Aufträgen zum Gutshaus. Die Hausdame erhält die Anweisung: »Kaffee für drei in der Bibliothek in einer Viertelstunde«; und aus dem Schulzimmer wird Hans Jürgen in die Bibliothek bestellt, um Ewald von Kleist zu begrüßen. Er soll ihn zum Nachmittagstee für die Kinder mitnehmen.

Bei Kaffee und Keksen mit Birnenmarmelade bietet Hermann von Kleist aus Schmenzin seinen Rat und Beistand in allen Kieckow und Klein Krössin betreffenden Belangen an. Er warnt davor, auf Eigentum Geld zu leihen, da Hypotheken das Werk des Teufels in Gestalt der Bankiers, ob Juden oder Christen, seien. Bei dieser Warnung senkt Ruth verlegen den Blick, da sie es nicht wagen würde, die tiefe Verschuldung Kieckows zuzugeben.

Im Kinderzimmer buhlen die Kinder Ruths um die Aufmerksamkeit des sportlich gekleideten Ewald. Seine Stiefel sind eindeutig die eines Reiters und seine derbe, warme Kleidung verbreitet Stallgeruch. Hans Jürgen wünschte, er hätte auch solche Kleidung und einen Vater, mit dem er durch Wälder und über Felder reiten könnte. Als bemerkte er diese unausgesprochene Sehnsucht, lädt Ewald Hans Jürgen ein, bald mit ihm über versteckte Waldwege und Wiesen nahe des Gutes zu reiten.

30 Jahre später werden Ewald und Hans Jürgen zusammen auf diesen versteckten Waldwegen entlangreiten, um mit Mutter Ruth ein Buch zu diskutieren, das sie beide gelesen haben – Mein Kampf von einem Adolf Hitler.

Nur eine Woche nach Vater Zedlitz’ kurzem Besuch erhält Ruth einen Brief von ihrer Schwester Anni von Tresckow, die derzeit in Marburg lebt. Seit der Geburt ihres ersten Kindes, eines Sohns, zu Beginn des Jahres ist Anni depressiv und etwas kränklich; der Brief bestätigt ihren Zustand abermals. In einem etwas fröhlicher gehaltenen Absatz informiert Anni die Schwester, dass ihr Mann Hermann sich auf dem Weg nach Hause von Manövern im Osten befände und beabsichtige, in Kieckow Halt zu machen. Sie nennt es einen brüderlichen Besuch, aber Ruth weiß, wie sehr Anni sich um sie sorgt und deshalb ihren ernsthaften, strengen Mann vorbeischickt, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Zwei Tage später empfangt Ruth in einem weiß getupften, marineblauen Kleid ihren Schwager, den sie kaum kennt, mit einer ihm fast unbekannten Herzlichkeit. Einerseits verbindet die zwei Schwestern eine außerordentlich starke Familienähnlichkeit, andererseits unterscheiden sich die beiden durch eine völlig unterschiedliche Lebensauffassung. Hermann hatte diesen Besuch als Gelegenheit aufgefasst, seiner verwitweten Schwägerin eine kleine Freude zu bereiten. Stattdessen ist nun Ruth diejenige, die den Klagen des Ehemannes über den schlechten Gesundheitszustand seiner unglücklichen Frau zuhört. In ihrer offenen Art versucht Ruth, ihren strengen Schwager zu einer verständnis- und liebe­volleren Einstellung seiner Familie gegenüber zu bewegen. Natürlich sei das Leben einer Offiziersfrau nicht gerade glück­lich – die ständigen Umzüge, keine richtige Heimat und vor allem kein Ort, der zu einem Zuhause werden könnte. Ruth beschwört Hermann, bei der Planung der Zukunft seine Familie, die von Jahr zu Jahr sicher größer wird, stärker mit einzubeziehen. Nach seiner Abreise ist sie zwar nicht sicher, ob dieses Gespräch ihn beeinflusst hat, aber sie bittet Gott um eine glückliche Zukunft für Anni. Der vierte und letzte Besucher im September ist Fritz von Woedtke, ein entfernter Verwandter von Jürgen (in Belgard sind eigentlich alle Landbesitzer auf die eine oder andere Art und Weise verwandt). In der Bibliothek eröffnet Ruth ihm ihren Plan, im nächsten Jahr die Kinder nach Stettin zu bringen.

Wie aber soll es mit Kieckow weitergehen? Ruth bittet um seine Meinung. Sie habe vor, jeden Monat zwei Tage in Kieckow zu sein, um überall nach dem Rechten zu sehen und die Buchhaltung eigenhändig zu überprüfen. Erfreut über die erstaunliche Zuversicht dieser Frau bietet Fritz von Woedtke seine Dienste in den Wochen von Ruths Abwe­senheit an. Er verwalte schließlich den Besitz der Familie Woedtke schon seit Jahren und im näheren und weiteren Umkreis gebe es keinen Besseren. Ruth unterbricht ihn mit der Bestätigung, dass das Gut der Familie Woedtke tatsächlich ein Musterbetrieb und Vorbild in der ganzen Gegend sei. Beim Abschied wird die Abmachung getroffen, dass er wenigstens einmal im Monat, während der Aussaat und während der Ernte auch öfter, Kieckow und Klein Krössin besuchen würde. Mit einem Handkuss und militärischem Gruß verabschiedet er sich von Ruth.

November. Wenn Fritz von Woedtke sich in Kieckow aufhält, nimmt er das Abendessen im Gutshaus ein. Sind auch die Kinder anwesend, sitzt er bei Tisch auf dem Platz, an dem der Gutsherr immer saß. Auf diese Weise und durch viele andere Kleinigkeiten signalisiert die Witwe von Kieckow nach außen und vor allem den Gutsarbeitern, dass Herrn von Woedtke die Stellung und Rechte des Gutsherrn für die Dauer seiner Anwesenheit übertragen wurden. Sie beginnt, ihrem neuen Berater völlig zu vertrauen, und zeigt ihm die Bücher, die Ställe und Scheunen, die Schmiede, die Sattlerei, die Schreinerei, die Molkerei, das Dorf, die Kirche mit der Gruft, das Gutshaus vom Erdgeschoss bis zum Dach, die Schule, den Dorfteich und sogar den Friedhof.

Zu Hause in Stettin

1899, April. Als »Kinderpension« bezeichnet Ruth die teilmöblierte Wohnung, die sie mit den Kindern sowie der Köchin aus Kieckow und einem Dienstmädchen bewohnt. Sie liegt in der neuen Wohngegend von Stettin, einer Stadt so alt wie die Familie Kleist. Ursprünglich beschränkte sich die Stadt auf das Tal westlich der Oder. Sie wurde bewacht von einer Burg und geschützt durch eine Stadtmauer. Beides stammt noch aus der Zeit, als Stettin zur Hanse gehörte. Damals war Stettin als Handelszentrum die Verbindung zwischen dem pommerschen Hinterland und der Ostsee, dessen Wohlstand mit den Geschicken der Hanse eng verknüpft war. Wäre die industrielle Revolution nicht gewesen, hätte dieser stille natürliche Hafen mehr mit den anderen, Hunderte von Kilometern entfernten Ostseehäfen gemein gehabt als mit den Städten seines großen Hinterlandes.

Zu Ruths Lebzeiten hat sich der Charakter dieser alten Stadt gewandelt. Vor 15 Jahren wurde die mittelalterliche Stadtmauer eingerissen, um die Entstehung von Wohnsiedlungen auf den umliegenden Hügeln zu fördern. In der Folge entstand außerhalb der Altstadt eine hübsche Gartenstadt mit Seen und Parkanlagen sowie weiten Grünflächen entlang der Flussniederung.

Die »Kinderpension« umfasst das gesamte Erdgeschoss eines stattlichen Wohnhauses. Dazu gehört ein Musikzimmer, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und vier Schlafzimmer sowie Küche, Bad mit Zentralheizung und fließendem Wasser. Die Kinder finden vor allem das fließende Wasser faszinierend, das sie weder von Kieckow noch von den größeren Herrenhäusern der Umgebung kennen, ganz zu schweigen von den Dörfern. Keine Dienstboten mehr, die Porzellankrüge die Treppen hinauf- und hinuntertragen – glücklicherweise, denn hier in Stettin hat die Familie nur noch ein einziges Dienstmädchen. Zunächst sind der Wasserhahn und die Toilettenspülung im Badezimmer eine Quelle höchsten Vergnügens für Maria und Ruthchen, bis die Mutter diesem Spiel ein rasches Ende setzt.

Spes herrscht über das Schlafzimmer der Mädchen, das mit einem Doppelbett, einer Liege und einem riesigen Kleiderschrank ausgestattet ist. Hans Jürgen und Konstantin teilen sich das Jungenzimmer trotz ihres Altersunterschieds brüderlich. Die beiden in vielen Dingen unterschiedlichen Brüder verbindet eine enge, erstaunlich konfliktfreie Freundschaft. Ruth hat sich das kleinste Schlafzimmer reserviert. Auf die Frage des immer wissbegierigen Konstantin, warum sie den kleinsten Raum gewählt habe, antwortet Ruth mit einem liebevollen Lächeln: »Weißt du, ich betrachte die ganze Wohnung als mein Zimmer.« Der achtjährige Kons­tantin versteht diese Einstellung nicht so ganz.

Das vierte Zimmer mit dem Doppelbett, einem geräumigen Schrank und einem Schreibtisch ist das Gästezimmer. Selbst auf Kosten des Raumangebots für die Kinder besteht Ruth darauf, ständig ein zusätzliches Schlafzimmer zur Ver­fügung zu haben. Zu tief sitzt bei ihr die Einstellung aus den Landhäusern, wo es zu jeder Zeit Platz gibt für unerwarteten Übernachtungsbesuch.

Alles in der Stettiner Wohnung ist kleiner als in Kieckow. Das Musikzimmer wird vollständig von dem Flügel ausgefüllt, der mit einem Wagen aus Kieckow hergebracht wurde. Dort stand der Flügel in der großen Halle, wo er, außer wenn Spes bei warmen Wetter darauf übte, kaum genutzt wurde. Zu den Morgen- und Abendgebeten spielte Ruth immer auf dem Harmonium im Esszimmer. Bei kaltem Wetter erhielt Spes dort auch ihren Klavierunterricht. In Stettin aber steht der Flügel im Zentrum des Geschehens – bei den Morgen- und Abendgebeten, bei Spes’ täglichem Üben und den häu­figen, vierhändigen Konzerten, zu denen Ruth keine Gelegenheit auslässt, wenn sie einen geeigneten Partner findet. Ruth genießt dabei die Gemeinschaft wie auch die Gelegenheit, sich im Notenlesen zu üben und so ihre Fähigkeit, vom Blatt zu spielen, zu verbessern. In ihren Gedanken an Jürgen hat sie oft bereut, ihm nicht eine bessere Begleiterin am Klavier gewesen zu sein. Allzu oft hatte er sie getadelt: »Meine liebste Ruth, wenn du nur ein wenig für unser gemeinsames Spiel üben würdest.«

Das Esszimmer ist viel kleiner als das in Kieckow, ebenso der Tisch und das Büfett, aber die Zahl der Personen ist dementsprechend auch geringer – eben eine Mutter und ihre fünf Kinder. Nicht einmal die Lehrerin der jüngeren Kinder lebt bei der Familie. Sie stammt aus Stettin und kommt jeden Tag, um Maria im Wohnzimmer Unterricht zu geben. Das Wohnzimmer sieht mit den zwei kleinen Schulbänken aus Kieckow ein wenig wie ein Schulzimmer aus.

Für die drei älteren Kinder bedeutet Stettin das Ende ihrer Ausbildung durch Hauslehrer im Schulzimmer des Gutshauses. Hans Jürgen und Konstantin werden am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium angemeldet, wo sie im Laufe der Zeit auf ein Universitätsstudium vorbereitet werden sollen. Spes besucht eine private Lehranstalt, eine Art höhere Töchterschule, die aber in ihren Lehrplänen nicht dem Standard des Gymnasiums für Jungen entspricht. Für Ruth jedoch, die ihre gesamte Schulbildung entweder zu Hause oder im Pfarrhaus in der Nähe von Oppeln erhielt, ist die Ausbildung ihrer Tochter bereits avantgardistisch. Spes erhält neben dem Schulbesuch eine ernsthafte Klavierausbildung, die ihr später eine gewisse Karriere als Pianistin eröffnet. Dies war vor ihr noch keiner Frau der Familie Kleist gelungen. Selbst für die Köchin und das Dienstmädchen hat das Leben in der Stettiner Wohnung eine neue, abenteuerliche Qualität gewonnen. Sie bewohnen ein Zimmer drei Stockwerke höher unter dem Dach, wo alle Dienstboten, auch die der anderen Wohnungen, untergebracht sind. Darin unterscheidet sich ihr Leben nicht viel von Kieckow, außer dass es einsamer ist ohne die vielen anderen Dienstboten und Dorfbewohner in der Nähe. Aber in vieler Hinsicht ist das Leben in Stettin leichter. Gleich im Anschluss an das Esszimmer und nicht mehr im Keller wie in Kieckow befindet sich eine moderne Küche; es müssen keine Porzellankrüge mehr geschleppt werden, außer wenn heißes Wasser zum Baden benötigt wird.

In anderer Hinsicht ist Stettin aber nicht so bequem wie Kieckow. In der Stadt muss die Köchin jeden Tag frische Milch, Fleisch und andere Dinge einkaufen, die nicht über längere Zeit gelagert werden können. Doch ist die Speisekammer gefüllt mit Früchten, Gemüsen und anderen Produkten aus der Landwirtschaft des Gutsbetriebes. Da das Dienstmädchen nicht alle Aufgaben im Haushalt allein bewältigen kann, besteht Ruth darauf, dass alle fünf Kinder mithelfen und beispielsweise ihre Betten selber machen, den Tisch decken und das Geschirr abtrocknen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben beobachtet Ruth die Gesellschaft einer Industriestadt und muss feststellen, dass sich die Welt viel schneller verändert, als sie es je für möglich gehalten hätte. Ihr vertrauter Lebensstil könnte sich, so folgert sie, entscheidend verändern, bevor vielleicht ihre Kinder, sicher aber ihre Enkel, erwachsen sind.

Zu oft schon hat die Herrin von Kieckow das Leid der Familien im Dorf erlebt, wenn Söhne oder Töchter den Entschluss äußern, das Dorf verlassen zu wollen, um ihr Glück in der Welt zu versuchen. Häufig enden diese jugendlichen Ambitionen in den Fabriken und Armensiedlungen der deutschen Industriestädte. Gelegentlich erleiden diejenigen, die das Dorf verlassen, ein noch schlimmeres Schicksal – Armut, Krankheit und früher Tod. Manchmal kehrt aber auch ein Sohn, der zu Wohlstand gekommen ist, auf Besuch in das Dorf seiner Kindheit zurück. Dann sind seine Eltern überglücklich und die Nachbarn kommen, um ihn zu bewundern. Nie jedoch ist ein Nachkomme eines Dorfbewohners von Kieckow, der mehr oder weniger erfolgreich sein Glück woanders in der Welt versucht hat, zurückgekehrt, um wieder dort zu leben.

Juni. Ruth ist ihrem Entschluss treu geblieben, die Leitung von Kieckow weiterhin zu überwachen. Während des Frühjahrs fährt sie einmal im Monat dorthin – mit dem Zug von Stettin nach Groß Tychow, weiter mit der Kutsche nach Kieckow und am nächsten Nachmittag wieder zurück mit dem Wagen nach Groß Tychow und mit dem Zug nach Stettin.

Heute Mittag kommt die Herrin von Kieckow zu Besuch. Ein bedachter Wagen wartet bereits am Bahnhof von Groß Tychow. Fritz von Woedtke ist von seinem Landsitz herübergefahren, um sie abzuholen. Mit seinem Sohn Jürgen, etwa im Alter von Hans Jürgen, erwartet er sie auf dem Bahnsteig. Dann ist es so weit, Fritz von Woedtke hilft Ruth auf den gepolsterten Sitz im hinteren Teil der Kutsche und nimmt dann mit seinem Sohn vorne beim Kutscher Platz. Ruth fühlt immer einen kleinen Stich im Herzen, wenn sie einen Vater mit seinem Sohn in enger Verbindung sieht, weiß sie doch, dass ihre Söhne diese Erfahrung nie machen werden.

Die Pferde setzen sich in Bewegung in Richtung Süden auf der Straße nach Klein Krössin. Die großblättrigen Ahornbäume, deren Äste die Straße überspannen, bilden über ihnen ein Dach, das an das Gewölbe einer Kathedrale erinnert. Die Straße führt durch Felder und Weideland, das früher einmal den Kleists gehörte, wie auch die Wälder in der Ferne. Dahinter erkennt Ruth ihre eigenen Ländereien – den Wald des Dorfes, dann die scharfe Linkskurve, hinter der das Dorf Klein Krössin liegt. Ein Kind am Straßenrand winkt dem herankommenden Wagen zu. Nun sind es noch drei Kilo­meter nach Kieckow, es folgt eine weitere Linkskurve und schon mündet man in die kurze Straße zum Gutshof ein. Die Kutsche fährt an der alten Eiche vorbei und die Auffahrt hinauf zum Haupteingang, wo die treue Hausdame bereits wartet, um ihre Herrin willkommen zu heißen.

Es ist der Beginn eines geschäftigen Nachmittags in Kieckow. Ruth begibt sich direkt in ihr Zimmer im ersten Stock, wo ihre Kleidung für Kieckow bereitliegt. Da die Zeit bei diesen Besuchen immer knapp ist, wartet bereits ein Dienstmädchen, um Ruth beim Ablegen der schweren Reisekleidung zu helfen und ihr das im Gutshaus übliche einfache Kleid und den Umhang zu reichen. Ohne sich aufzuhalten, begibt sich Ruth ins Büro, um mit dem Verwalter die neuen Einträge im Hauptbuch durchzugehen. Beim nachfolgenden Essen allein mit Fritz bespricht sie ihre Vorhaben und eventuell anstehende Probleme.

Nach dem Essen ist es höchste Zeit, die Arbeiten dieses Monats zu überprüfen. Ruth geht zunächst zu Fuß zu den Ställen, den Scheunen, der Molkerei und zum Kornspeicher, dann besteigt sie den Wagen, um die Felder zu besichtigen, wobei sie der Verwalter normalerweise begleitet. Noch immer fühlt sich Ruth nicht ganz sicher im Umgang mit den Feldarbeitern, obwohl dieses Gefühl der Unsicherheit nicht aufkommt, wenn sie dieselben Männer und ihre Frauen im Dorf aufsucht. Wie Vater Zedlitz ihr jedoch vorausgesagt hat, wird sich auch das zu gegebener Zeit bessern.

Rechtzeitig zum Tee kehrt sie ins Gutshaus zurück. Auf ihre Einladung nehmen der Pastor von Groß Tychow, der Lehrer von Kieckow und Fritz daran teil. Für Ruth ist es eine gute Gelegenheit, Details aus der Schule und von Prob­lemen, die gelöst werden müssen, zu erfahren.

Fritz von Woedtke und sein Sohn verabschieden sich nach dem Tee und kehren auf ihr Gut zurück, während Ruth sich in ihr Zimmer zurückzieht und die Post dieses Monats durchgeht. Die Hausdame hat die Briefe bereitgelegt, obenauf befindet sich ein Umschlag mit dem Poststempel Kniephof und dem Siegel der Bismarcks, also ein Brief von Hedwig. Sie äußert sich besorgt über ihre Söhne, den 18-jährigen Gottfried und den 15-jährigen Herbert. Beide sind in Stettin untergebracht, wo sie, wie auch Ruths Söhne, das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium besuchen. Hedwig fragt Ruth, ob sie ihr eine bessere Unterkunft empfehlen könne, wo die vaterlosen Söhne eine etwas diszipliniertere Umgebung vorfinden würden als das Haus einer älteren Witwe nahe der Schule, in welchem sie jetzt wohnen. Während Ruth über das Problem sinnt, kommt ihr die naheliegende Lösung – was nützt ein Gästezimmer in Stettin, wenn es nicht denjenigen zugute­kommt, die es benötigen? Sofort nimmt sie den Federhalter zur Hand und schreibt: »Liebe Hedwig …«

Spät am nächsten Morgen unternimmt Ruth ihren monatlichen Besuch im Dorf. Auf der Straße herrscht reges Treiben. Gerade ist die Schule zu Ende, die Kinder sind überall beim Spiel anzutreffen, entweder Murmeln oder Fangen, die Alten sitzen vor ihren Häusern und sehen ihnen zu. Einige Frauen rühren Butter vor dem Haus, der Duft von frisch gebackenem Brot liegt in der Luft. Ruth trägt zwei Blumensträuße auf dem Arm, der erste ist für eine junge Mutter und ihr Neugeborenes. Trotz Ruths Abwesenheit bei der Geburt geht es Mutter und Kind gut. Ruth nimmt sich Zeit für ein Gespräch mit der Frau, sie erinnert sie an die Bedeutung von Reinlichkeit, Ernährung und frischer Luft für die Gesundheit des Säuglings.

Von dort aus geht Ruth zu einem anderen Haus, um einen schwer kranken, dem Tode nahen Mann zu besuchen. Neben Blumen bringt sie der Familie des Mannes Trost und Zuspruch. Ihre Worte bedeuten ihnen viel, da auch sie selbst auf der Höhe ihrer Jugend ihren Mann verloren hat, der nach schwerem Leiden gestorben ist. Zwar ist das Paar noch ziemlich jung, doch sind die Kinder bereits erwachsen. Eine Tochter arbeitet im Gutshaus, sie wird demnächst den Kutscher heiraten. Eine weitere Tochter und zwei Söhne sind bereits verheiratet. Die Söhne haben selbst Kinder, daher steht ihnen ein eigenes Haus im Dorf zu, die verheiratete Tochter muss jedoch mit ihrem Mann bei den Eltern leben. Mit einem Blick bemerkt Ruth, wie beengt sie hier sind; die Küche ist viel zu klein für die zwei Frauen und es gibt keine Möglichkeit, sich ein wenig zurückzuziehen. Ruth lädt die Frau des schwer kranken Mannes zu einem Spaziergang die Straße entlang ein und teilt ihr dann mit, sie werde in den letzten Stunden ihres Mannes nicht anwesend sein können, verspricht ihr aber, zur Beerdigung zu kommen. Sie solle das Gutshaus benachrichtigen, damit ein Telegramm nach Stettin geschickt werden könne.

August. Hans Jürgen, Konstantin und Spes haben einen ganzen Monat schulfrei. Ruth ist mit den Kindern, der Köchin und der Magd nach Kieckow zurückgekehrt, wo die Kinder vier Wochen auf dem Lande und in den Wäldern verbringen werden. Die Hauslehrerin bleibt in Stettin, sodass auch die kleine Maria Ferien hat, eine Zeit der Freiheit innerhalb der von ihrer Mutter weit gesteckten Grenzen. Ruth hat den August zum »französischen Monat« erklärt. Dies bedeutet, dass die Unterhaltung bei den Mahlzeiten auf Französisch geführt wird. Wie sich herausstellt, ist sie bei der Konversation hauptsächlich auf sich allein gestellt, zu ihrer Überraschung jedoch entdeckt sie, dass die Beteiligung ihrer Kinder umgekehrt proportional zu deren Alter ist. Klein Ruth­chen zeigt die beste Ausdrucksweise und Aussprache, Maria kommt auf den zweiten Platz.

Der August ist auch der Gewittermonat, der sowohl Land­besitzern als auch Dorfbewohnern gleichermaßen Angst macht. Gewitter bringen Blitze mit sich und Blitze bergen die Gefahr von Bränden. Es gibt kein Gut in Pommern, dessen Bewohner nicht lebhafte Erinnerungen an Feuer hätten, bei denen sie hilflos zusehen mussten, wie ihre Häuser den Flammen zum Opfer fielen. Über die Jahrhunderte haben die Wälder von Pommern den Menschen das brennbare Baumaterial für ihre Häuser, Ställe und Scheunen geliefert. Erst seit Kurzem weicht die Fachwerkbauweise langsam modernen, ganz aus Ziegeln gebauten Häusern.

Das Gutshaus von Kieckow steht auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Dorfes und der Gebäude des Gutshofes. Der Putz auf den Außenwänden verdeckt die darunterliegende Holzkonstruktion; außer dem roten Ziegeldach und dem Fliesenfußboden ist nichts daran feuerfest. Die Nebengebäude und Häuser im Dorf sind sogar noch mehr ge­fährdet, da ihre Dächer mit Stroh gedeckt sind. An diesem Augustabend ist die Luft schwer und feucht, in der Ferne hört man das dumpfe Grollen eines Gewitters. Viele Generationen sind in Kieckow mit der Angst vor diesem Geräusch und den darauf folgenden verheerenden Gewitterstürmen aufgewachsen. Die Kinder im Gutshaus liegen im Bett, Ruth aber bleibt auf. Sie rechnet damit, dass das Gewitter nach Mitternacht über Kieckow hereinbrechen wird, und beschließt, mit der Hausdame und dem alten Beschließer, der noch aus Vater Kleists Zeiten stammt, unten im Esszimmer der Dienstboten beim Tee darauf zu warten.

Um zwei Uhr morgens werden alle aus dem Schlaf gerissen. Die Kinder erhalten den Auftrag, Regenkleidung mitzubringen, da unter Umständen alle das Haus verlassen müssen. Während die Dienstboten mit ihrem Regenzeug in der Hand in der Küche warten, versammelt Ruth ihre Söhne und Töchter im Esszimmer und singt mit ihnen die drei sogenannten Sturmlieder, die sie so nennt, weil in ihnen Gott um Gnade angefleht wird – Gott tröste die Ängstlichen und schütze die Gefährdeten. Die beiden Jungen bemühen sich, ihren beiden jüngeren Schwestern beizustehen und sich mutig zu zeigen. Sie singen mit einer normalerweise nicht vorhandenen Inbrunst. Nur Spes lässt sich von der drohenden Gefahr nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen bemerkt sie, sie werde sich auf dem Sofa in der Bibliothek schlafen legen und wünsche geweckt zu werden, wenn die Aufregung vorbei sei. Bei anderen Gelegenheiten würde Ruth ihre eigenwillige Tochter zur Ordnung gerufen haben, aber heute Nacht empfindet sie ihr unbekümmertes Auftreten als gutes Vorbild für die anderen. Sollte im Übrigen der Blitz einschlagen und das Haus in Brand setzen, müssten sowieso alle an der Bibliothek vorbei nach draußen.

Oktober. Die Zahl der Kinder in der Kleistschen »Kinderpension« ist mit der Ankunft der beiden Pflegekinder – Gottfried und Herbert von Bismarck – von fünf auf sieben gestiegen. Sie erhalten das Doppelbett im Gästezimmer.

In der deutschen Literatur gibt es einen Ausdruck, vor allem in einem Frühwerk des großen Goethe, der die Schwierigkeiten eines Jungen beim Erwachsenwerden vortrefflich beschreibt. Es ist der »Sturm und Drang«, der Gottfried offensichtlich in eine Krise geführt hat. Im Alter von fast 19 Jahren ist er keineswegs ein glücklicher junger Mann. Auch von seinen Abschlussprüfungen ist er noch weit entfernt. Er zeigt aber durchaus Talent auf dem Gebiet der Musik und der Kunst. Am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium wurde Gottfried kürzlich ernstlich getadelt, da er sich über die ungerechte Behandlung einiger Schüler durch den Direktor der Privatschule erzürnt hatte. Ruth, die von Herzen mit diesem sensiblen Jugendlichen fühlt, der so mit dem Leben zu kämpfen hat, versucht, Hedwig davon zu überzeugen, ihn auf eine andere, nämlich die staatliche Schule wechseln zu lassen. Die beiden verwitweten Mütter tauschen eine Vielzahl von Briefen darüber aus, ob Gottfried die Schule abschließen oder aber eine kaufmännische Lehre aufnehmen sollte. Eines Tages wird er natürlich das Gut Kniephof übernehmen, wofür eine kaufmännische Ausbildung doch viel wertvoller als ein Universitätsstudium sei. Das ist jedenfalls Ruths Beurteilung der Sturm-und-Drang-Periode des Sohnes ihrer Freundin.

Ruth nimmt auf Gottfrieds Alltagsleben auf ihre Art und Weise Einfluss, ohne seine Mutter damit zu behelligen. Vor drei Jahren begann er zusammen mit anderen Schülern seiner Klasse und gleichaltrigen Mädchen des Lyzeums mit Tanzstunden. Diese Kurse dienen zur Vorbereitung der Jungen und Mädchen auf ihre spätere Rolle in der Gesellschaft. Ruth, die damals, kaum 16 Jahre alt, an der Ballsaison in Oppeln teil­genommen hatte, kennt den Ablauf und den eigentlichen Zweck dieser Veranstaltungen. Doch ist Stettin mit Oppeln nicht zu vergleichen und die ungestümen Mädchen in den Tanzstunden hier unterscheiden sich sehr von den wohlbe­hüteten Komtessen aus Großenborau. Am schlimmsten ist, dass sie Gottfried von Bismarck über die Maßen den Kopf verdrehen.

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22 aralık 2023
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