Kitabı oku: «Den Kopf hinhalten», sayfa 5
„Wir fahren deinen großen Bruder besuchen“, erklärte man mir. Was das mit meiner Vermummung zu tun, was die vollständige Einschränkung meines Blickfelds zu bedeuten hatte, erklärte man mir hingegen nicht. Seit einigen Monaten lag Umberto, der mittlere von uns drei Jungen und, wie ich erst später herausfand, an einer schweren Gehirnhautentzündung erkrankt, in einer Privatklinik an der Blumenriviera. Ich wusste damals nur, dass es ihm nicht gut ging und dass er nicht mehr daheim sein durfte. Fabrizio, der Älteste, half längst bei unserem Vater in der Schreinerei aus und fuhr zweimal die Woche mit dem Postbus in die Berufsschule nach Dolceacqua.
Soweit ich verstanden hatte, war die Klinik sehr teuer, die Eltern konnten sich die Behandlung gar nicht leisten, und es bestand ansonsten keine Aussicht auf Heilung für Umberto. Selbst Vater Gennarino hatte ich ein paarmal weinen sehen, wenn am Tisch die Sprache auf den kranken Sohn kam oder der Hausarzt bei uns vorbeischaute und mit Grabesstimme davon sprach, dass wir uns wohl bald von dem Dahinsiechenden verabschieden müssten.
Nur ein Wohltäter, so meinten alle, die uns kannten, hätte uns aus dieser verzweifelten Lage befreien können. Zwar gab es ein öffentliches Krankenhaus in Imperia, im Stadtteil Porto Maurizio, doch das war noch viel weiter weg, und außerdem wollte unser Vater auf keinen Fall etwas mit Mussolini und den Schwarzhemden zu schaffen haben, wie er sagte. Die Imperia allem Anschein nach fest im Griff hatten, denen man sich notfalls anbiedern müsste. „Nur über meine Leiche!“ Also schied diese Lösung von vornherein aus.
Irgendwann war dann aber eine Geldquelle gesprudelt, und zwei Pfleger hatten Umberto, der schon seit Monaten gefüttert werden musste, nicht richtig ansprechbar gewesen war und das Bett nicht mehr verlassen hatte, mit einem langen weißen Auto abgeholt, auf dessen Karosserie ein leuchtend rotes Kreuz gemalt war.
Seitdem hatte ich nie wieder etwas von ihm oder über ihn gehört, und ich vermisste ihn jeden Tag ein bisschen weniger. Ich war böse auf ihn, weil er nicht mehr mit mir spielte und mich, so wie ich es gerne mochte, beim Würfeln und Murmelkullern gewinnen ließ.
Nun saßen wir drei Magazzani auf der Ladefläche eines schlecht gefederten Erntefahrzeugs und rumpelten in die weite Welt hinaus. Es war heiß, laut, staubig und wahnsinnig unbequem, und je tiefer wir Sesshaften ins unbekannte Tal hinabfuhren, desto unerträglicher wurde die Hitze.
In den kurzen Abschnitten zwischen den Haarnadelkurven setzte mir Mama Serafina eine Flasche mit lauwarmem Wasser an die Lippen, betete einen Rosenkranz nach dem anderen, und ich versuchte, durch den Stoff hindurch etwas von der neuen Umgebung zu erkennen: ein hoffnungsloses Unterfangen. Meine Haut brannte.
Schließlich waren wir in Bordighera angekommen, jemand hob mich auf die Straße herunter. Ich roch Fisch, in Öl gebraten, fühlte einen Wind, der ein anderer Wind war, und eine Wärme, die ich noch nicht kannte. Mit der Zunge fuhr ich mir über den Mund. Schmeckte Salz. Ich hörte Verkehrslärm, lautes Hupen und knatternde Vespas, Marktgekeife und sirrende Geräusche, wie sie beim Messerschleifen entstehen. Hörte Menschen, die nicht unseren ligurischen Dialekt, sondern richtiges Italienisch sprachen, und merkwürdiges Vogelgeschrei. Und das alberne, nervöse Lachen der Eltern. Für die alles so neu war wie für mich, nur dass sie es wenigstens sehen und begreifen konnten.
Sie zogen mir die Sandalen aus, denn wir waren noch zu früh dran, noch war keine Besuchszeit in der Klinik, sie packten mich an den Schultern und gaben mir den Befehl, vorwärts zu gehen. Ich spürte etwas Weiches und unangenehm Heißes unter meinen Füßen, das beim Laufen ein wenig nachgab. Ich lief wohl durch eine Art Pulver, das plötzlich von etwas Nassem abgelöst wurde. Ich war froh, dass ich nicht stürzte, dass ich nicht gegen ein für mich unsichtbares Objekt stieß.
Wohl hundert Meter war ich gelaufen. Da war mein Vater zur Stelle und riss mir das Tuch vom Kopf, so wie man ein Pflaster mit einem Ruck von einer schorfigen, schon fast verheilten Wunde wegreißt, um die Qual zu lindern und zu verhindern, dass kleine, am Streifen festklebende Härchen den Schmerz beim Ablösen in die Länge ziehen.
„Ecco“, riefen meine beiden Erzeuger wie im Chor. Ein Jubelschrei.
Da sah ich es endlich, das Meer. Sah es zum ersten Mal. Sah nichts als endloses, leicht bewegtes Blau. Sah ein durch den Horizont zweigeteiltes, in viele Schattierungen aufgefächertes Blau und Türkis. „Il mare.“ Es offenbarte sich mir.
Da waren keine Berge und Dörfer mehr, keine Bäume oder Felsen, keine Bäche oder Wolken, keine Menschen oder Tiere, und es schien keine Grenzen zu kennen. Es dehnte sich in alle Richtungen aus.
Das also war es, was Serafina und Gennarino mir zeigen, das war es, womit sie mich überraschen wollten. Sie waren wie verwandelt: So fröhlich und sorglos hatte ich sie noch nie erlebt. Sie kreischten vor Vergnügen und spritzten mich nass. Sie rannten, der Vater mit durchnässten Hosenbeinen, die Mutter mit gerafftem Rock, durch die kleinen Wellen, die sich kräuselten und um meine Knöchel schlängelten. Es fühlte sich seidig an, und es kitzelte.
„Sandro, mach doch mit!“ Sie liefen umher wie spielende Kinder, jagten und verfolgten sich, bewarfen sich mit Sandklumpen, betrugen sich wie herumtollende Hundewelpen.
Ich war noch ganz in den Anblick des gigantischen Blaus vertieft. Ich blieb stehen, als hätte ich einen Stock verschluckt.
Meine Eltern ließen sich ins flache Wasser fallen und zogen mich zu sich herab. Es war überraschend lau. Abwechselnd umarmten sie sich und mich. Eine Woge schwappte über mich hinweg, ich bekam keine Luft. Nur für ein paar Sekunden.
„Nicht schlucken, das ist salzig!“, warnten sie mich.
Serafina weinte, keuchte und kicherte in einem fort, feuchte Strähnen klebten ihr am Kopf, ihr nackter Busen war ihr aus der Bluse gerutscht, sie ließ es geschehen, Gennarino küsste sie auf den Hals, küsste sie auch auf die Brustwarze und mich auf beide Augen, wir ließen es geschehen, aber selbst ein Kind sah, dass meine Mutter schon lange nicht mehr so erleichtert gewesen war. So gelöst und so entspannt. Und selbst ein Kind verstand, dass ein Mann eine solche Frau einfach lieben und begehren musste. Auch wenn das womöglich schon lange her war.
Das Bad am Strand hatte ihre Zuneigung wieder angefacht. Eine Zuneigung, der sie daheim in den Bergen, wenn sie sich im Alltag gegenseitig zur Schnecke machten, lediglich nachtrauern konnten. Das neckische Liebesspiel im seichten Gewässer hatte ihre Erinnerung an frühere Verführungsrituale wiederbelebt.
Nicht nur mit Serafina und Gennarino, auch mit mir war eine grundlegende Veränderung vorgegangen: Jetzt hatte ich sehen gelernt. Ihr Plan war aufgegangen: Jetzt hatte ich eine Ahnung davon bekommen, was echte Schönheit war.
Wir drei blieben noch den ganzen Tag in Bordighera. Und auch den nächsten. Danach dauerte es wieder Jahre, bis ich diese Küste erneut zu Gesicht bekam. Oder überhaupt irgendeinen Ozean oder Strand. Meine Emotionen vergaß ich aber auch zwischendurch nicht. Nicht das Blau und nicht das Glück. Das Blindekuh-Spiel war vorbei.
In Paris lernte ich meine zweite Lektion. Ich ließ mich aufs Neue verführen. Paris wurde zu meinem zweiten Meer.
Im Studio nahm ich allmorgendlich an meinem Flügel Platz, einem bildschönen, uralten und bestens erhaltenen Érard. Und spielte stundenlang. So inspiriert wie selten. Wie jemand, der gerade erfahren hat, dass er für alle Zeit unverwundbar bleiben wird. „Wie ein junger Gott“, pries der Aufnahmeleiter mich und meine Interpretation. Fast immer, da stimmten er und ich überein, erwies sich der erste Take auch als der beste, der brauchbarste. Also nickten wir, hoben den Daumen als Zeichen der Zustimmung und wandten uns dem nächsten Stück zu. Ich fühlte mich federleicht. Alles gelang mir.
Der Zufall wollte es, dass auch der Toningenieur Italiener war. Und hochgradig freundlich. Der bärtige und stämmige Enzo, ein paar Jahre älter als ich, lebte schon seit der Nachkriegszeit hier und hatte keinerlei Berührungsängste. Er war wohl an die Anwesenheit von Starpianisten gewöhnt und verlor während der Aufnahmesessions in seinem Reich hinter der Glasscheibe kaum ein Wort über die Qualität meines Spiels. Für ihn verstand sich das von selbst. Unbeeindruckt von den Fachdiskussionen, die ich mit dem künstlerisch Verantwortlichen der Plattenfirma, dem Produzenten und den Werbeleuten führte, verrichtete er im Hintergrund schweigend seine Arbeit, drehte aber sofort auf, sobald die Mittagszeit nahte und die anderen Herren verschwunden waren.
Enzo duzte mich, freute sich sehr, endlich einmal wieder für einen Landsmann die Mikrofone und Regler zu betätigen, lud mich mehrfach zum Mittagessen ein, in einem einfachen Arbeiterlokal beim Gemüsemarkt in der Rue Poncelet, und, was viel wichtiger war, er hatte mich, wie er unumwunden zugab, von den ersten Stunden an in sein Herz geschlossen.
Wie ein Familienmitglied behandelte er mich und ging davon aus, dass auch ich ihm grenzenloses Vertrauen schenken würde. Kaum war ich bei ihm im Studio erschienen, ließ er, noch ein wenig übernächtigt, alles stehen und liegen, brachte mir Kaffee, erzählte mir von seiner Familie in Catania, die er selten sah, und von seiner Flamme, einer drallen und pausbäckigen Blonden. Von der er mir eine verblichene, an den Ecken eingerissene Fotografie zeigte und die, wie er vorgab, als zersägte Dame in einem Variété am Pigalle auftrat. Auch bei ihr, bei Nathalie, schien es sich um ein Phantom zu handeln, denn nie stellte er sie mir vor. Und in seine kleine, angeblich so gemütliche Wohnung im Marais bat er mich auch nicht.
Lieber versorgte er mich mit Tratsch und Nachrichten.
„Sandro, hast du eigentlich mitbekommen, dass gestern Stalin gestorben ist?“, rief er, schon bei unserer zweiten Begegnung, ganz aufgeregt und hielt mir die Titelseite des Figaro unter die Nase.
Als er merkte, wie verdutzt ich ihn anschaute, weiteten sich auch seine Augen.
„Und nicht nur das!“, ereiferte er sich. „Stell dir vor, auch Prokofjew ist tot! Beide am selben Tag!“ Darüber berichteten die Pariser Tageszeitungen wie Le Monde und France Soir natürlich nur unter ferner liefen.
Ich wusste auf die Schnelle kaum, welche Nachricht größere Besorgnis bei mir auslösen sollte. Aber wenn ein Komponist, dessen Werke ich verehrte und auch gerne öffentlich vortrug, das Zeitliche segnete, war das für meine empfindsame Pianistenseele immer eine beklagenswerte und auch unverständliche Nachricht.
Doch Enzo war kein Kind von Traurigkeit. Er fand, dass ich nicht die geringste Ahnung von Paris hatte. Was sich seiner Meinung nach schleunigst ändern musste. Und er und nur er, so hatte er bereits entschieden, ohne meine Einwilligung abzuwarten, würde dafür sorgen. Alles, was ich zu tun hatte, war, ihm zu folgen und mitzumachen – und darin war ich ja geübt. Jeden Abend fing er mich vor meinem Hotel ab und führte mich in die verborgensten Winkel seiner Lieblingsviertel.
Bis in die frühen Morgenstunden waren wir unterwegs. Enzo nahm mich mit in Cabarets, Puffs, Billardhöhlen, Nachtschwärmer-Lokale und, wenn auch die dichtmachten, in stickige Kellerkneipen ohne Schild an der Eingangstür und ohne Klingel, in die man mithilfe eines bestimmten Klopfzeichens hereingelassen wurde und in denen schwarze US-Musiker bis zum Umfallen höllisch guten Bebop spielten. Dutzende von Paaren tanzten dort im Tabaknebel eng an eng auf zwanzig oder dreißig Quadratmetern, bei den langsamen Nummern auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Zu trinken gab es wenig, zu essen so gut wie nichts.
Am Ende, wenn wir nicht links der Seine im „Tabou“ strandeten, landeten wir immer in der Rue de Lappe, gleich hinter der Bastille. Rechts vom Fluss. Dort, in der „Boule Rouge“, schenkte ein alter, gichtkranker Bretone Rum in klitzekleinen Gläsern und starken Kaffee in Blechbechern aus, ein Teller mit fettigen Würstchen wurde herumgereicht, aber niemand griff zu, Schnapsleichen lagen unter den Tischen, im Hinterzimmer spielten Lastwagenfahrer Poker, es roch nach Erbrochenem und der kalten Asche von Gauloises.
Es war eine Reise in die Pariser Unterwelt. Nirgendwo zahlten wir Eintritt oder mussten anstehen; überall schien man uns zu erwarten. Von Nathalie gab es auch weiterhin keine Spur. Aber Enzo, mein heiterer Charon, hatte viele andere Freundinnen. In jeder Bar mindestens eine. Frauen ohne männliche Partner oder Begleiter. Gott weiß, womit er sie bestach oder sie sich gefügig machte.
Manchmal sah ich Geldscheine von einer Hand in die andere wandern. Dann wieder in die Gegenrichtung. Drogen waren wohl nicht im Spiel. Nur konnte man sich da so sicher sein? Manchmal sah ich ihn mit einem der Mädchen im Labyrinth eines Untergeschosses verschwinden; eine halbe Stunde stand Enzo dann lachend und schwer atmend wieder vor mir.
Nie verstand ich, was genau sich da abspielte. Nie sagte er mir, ob wir es mit Huren zu tun hatten oder mit Künstlerinnen. Vielmehr, so war mein Eindruck, mit Lebenskünstlerinnen oder Überlebenskünstlerinnen.
„Nimm sie dir“, war das Einzige, was er mir auftrug, wenn er bemerkte, wie ich einer von ihnen mit den Augen folgte. „Sie gehören uns beiden.“
Lange Zeit hörte ich gleich wieder weg, wenn er so daherredete. Und irgendwann, selten, manchmal, regelmäßig, griff ich tatsächlich zu.
Es war ja nichts dabei.
Einige von Enzos Freundinnen konnten tanzen oder singen, einige trugen nur einen Fummel, einige wussten seinen Namen nicht oder benutzten einen anderen. Anderen fehlten fast alle Zähne, andere hatten wunderschöne Porzellangesichter, andere trugen Perücken. Einige ignorierten mich, einige umschmeichelten mich, einige griffen mir noch auf der Straße in den Schritt und stießen mir ihren heißen Atem ins Gesicht, einige zerkratzten mir mit ihren langen, messerscharfen Fingernägeln den Rücken, wenn ich mich über sie warf und sie verzweifelt zu lieben versuchte. Keine von ihnen ahnte, dass sie sich von einem weltberühmten Pianisten beschlafen ließ, der ihr Paris mit dem Mittelmeer seiner Kindheit gleichsetzte. Keine von ihnen wollte Geld.
Einige taten alles dafür, dass man sie gleich wieder vergaß, andere sah man nie wieder, und manche blieben einem im Gedächtnis haften wie eine besonders hohe Welle, ein gelungener Zweiunddreißigstel-Lauf oder ein bemerkenswertes Wort. Manche wollte man einfach nur minutenlang betrachten, so attraktiv und verträumt waren sie, so verschlagen und so unergründlich, und darauf warten, dass sie sich in einen verknallten. Tomber amoureux, sagten die Franzosen – in die Liebe hineinfallen, hineinstolpern, hinunterstürzen. Das hatte Enzo mir beigebracht. Und gleich hinterhergeschoben: „Fall ja nicht auf sie rein. Mach besser einen Rückzieher.“ Keine Fortsetzung!
Wenige dieser Mädchen gab es, die keine Fallenstellerinnen waren. Die den Mut hatten, die Rollen zu tauschen und auch zurückzustarren. Die sich auf mich konzentrierten. Die in meinem Gesicht wie in einer aufgeschlagenen Partitur lasen, die unsere stummen Flirts wie mit einer inneren Kamera festhielten und darauf achteten, dass ich mich nicht außerhalb der Reichweite ihres Suchers befand. Die darauf spekulierten, dass unsere Blicke sich vereinigen und nie mehr aus ihrer Umklammerung lösen würden.
Die waren mir die liebsten.
Und eine davon warst du, Géraldine.
3
Die Liste
Bevor Rupert Beaufort zunächst ein solider Handwerker des Todes wurde, dann ein Könner und hernach ein Künstler am Galgen, musste er erst einmal seine Berufung spüren. Musste, nicht allein bildlich gesprochen, Lehrjahre absolvieren und sich einer Gesellenprüfung unterziehen. Musste reifen und sich vervollkommnen, musste humane Züge entwickeln und Verluste verwinden, musste verzweifeln und herbe Rückschläge einstecken. Ein langer, mühseliger Prozess. Musste zu einem gewissenhaften Menschen ohne Gewissen werden, um an vielen Samstagen skrupellos und voller Überzeugung Straftäter hängen und an vielen Sonntagen wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. Musste lernen, sich teilnahmslos zu verhalten und dennoch voller Anteilnahme zu agieren. Bevor er zunächst zum Jüngling wurde und dann zum erwachsenen Mann, hatte er erst einmal die Knabenjahre hinter sich zu bringen. Ein hartes Stück Arbeit.
In Clayton, im Westen von Bradford, und später in Huddersfield, ein gutes Stück weiter südlich, wo er als einziger Junge zwischen zwei Schwestern aufwuchs, war diese Knabenzeit eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Ein kleiner Knirps zu sein im ländlichen Yorkshire in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wo Leeds eine Weltreise entfernt war, von York, Manchester oder Liverpool ganz zu schweigen, wo ein rauer Ton herrschte und die Armut groß war, hatten Kinder wenig zu lachen. Küsschen wurden nicht verteilt in seiner Familie, Küsse schon gar nicht, auch nicht an die Allerkleinsten, und Umarmungen waren so selten wie richtige Weihnachtsgeschenke.
Sein Vater Matthew, mal unbeherrscht, dann wieder die Freundlichkeit in Person, war selten zu Hause, schwach auf der Brust, kränkelte ständig und wechselte die Jobs wie andere Männer seines Alters die Hemden, und in der Nachbarschaft galt als ausgemacht, dass er als notorischer Trinker niemals so richtig auf den grünen Zweig kommen würde. Auch ging er, vor allem, als Rupert noch ganz klein war, oft allein auf Reisen, ausnahmsweise fein gemacht und mit ernster Miene, worüber nie gesprochen wurde. Was genau er da trieb, war im selben Maße unklar wie seine Berufsbezeichnungen im Alltag: besser, man fragte nicht nach.
Mutter Mary, eine zarte Person, war trotz ihrer Jugend eine verhärmte Gestalt, wirkte kraftlos und verblüht, rang in einem fort die Hände und hörte nie auf zu jammern, besonders wenn ihr Gatte nicht arbeiten ging und daheim Däumchen drehte. Die Nachbarsfrauen gingen ihr aus dem Weg, weil sie nichts als Traurigkeit verbreitete und ausschließlich von ihren Sorgen sprach.
Mary war keine Frau zum Pferdestehlen. Im Gegensatz zu ihrem unsteten, aber umgänglichen Mann, der wenigstens improvisieren konnte, wenn er eine Anstellung nach der anderen ausprobierte, war Mary unbeliebt.
Rupert konnte angesichts ihrer Litaneien, bei denen er sich die Ohren zuhielt oder nach draußen rannte, fast verstehen, wenn sein alter Herr wieder einmal zur Flasche griff oder mit seinen Kumpanen an Samstagabenden um die Häuser zog, um dann am Sonntagmorgen den Kirchgang auszulassen und seinen Rausch auszuschlafen. Wenn er schließlich verkatert vom durchgelegenen Sofa aufstand und sich die Augen rieb, war nicht gut Kirschen mit ihm essen. Dann verzogen sich seine drei Kinder in den Garten oder zu Spielkameraden, und Mary greinte. Noch auf der Straße hörte man die beiden zanken. Türen knallten, unflätige Ausdrücke hingen in der Luft. Weinerliche Tiraden wollten kein Ende nehmen.
Rupert beneidete seine Mitschüler um ihre polternden, selbstbewussten Väter, Männer, die malochten und zu Hause mit der Faust auf den Tisch hauten. Männer, die das Sagen hatten und den Kurs vorgaben. Die ihre Frauen und Kinder im August in ein Ausflugslokal am Fluss ausführten. Die ihre Söhne mit ins Stadion nahmen, die Reifen ihrer Fahrräder flickten, mit ihnen paddeln oder angeln gingen und ihnen beibrachten, wie man eine Spielzeugdampfmaschine zum Zischen bringt. Schon damals schwor er sich, selbst später einmal ein anständiger, ein gestandener Mann zu werden. Und dafür zu sorgen, dass seine Familienkasse gefüllt sein würde, um nicht jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen. Nicht dass er Matthew hasste oder verachtete: Er dauerte ihn nur.
Und wenn er auch noch nicht in vollem Umfang wusste, was das Wort Verantwortung bedeutete, so ahnte er doch schon jetzt, dass das etwas war, was man ernst nehmen musste und was seinem Erzeuger, so sehr er sich auch anstrengen mochte, immer wieder durch die Hände glitt. Wie ein glitschiges Stück Seife.
Er konnte wohl einfach nicht anders, dieser schmale, schwache Vater, er vermurkste alles, wirkte hilflos, verlor die Orientierung.
Irgendwann hörten dann auch die mysteriösen Reisen auf, er wurde zunehmend unzufrieden und zuweilen jähzornig. Das knappe Geld wurde noch ein wenig knapper. „Du wirst noch zum Tagelöhner“, schimpfte die Mutter.
Und doch fühlten sich Rupert und seine Schwesterchen, wenn Matthew ihnen an einem der seltenen heiteren Tage ein Wassereis spendierte oder, einmal im Jahr, auf den Rummel ging und für sie mit dem Luftgewehr auf bewegliche Ziele schoss, bis sie alle drei einen Plüschbären mit nach Hause nehmen konnten, auf eine verquere Weise von ihm geliebt. Dad strengte sich so sehr an, gutmütig zu sein, gutherzig zu bleiben und auch Gutes zu tun, es gelang ihm nur einfach nicht so richtig. Dad gab nie auf, fand immer Arbeit, hielt es dann nur wenige Tage aus. Dann konnte er nicht mehr. Er zeigte oder erklärte seinen Kindern nichts und spielte nicht mit ihnen. Er funkte ihnen aber auch nie dazwischen, sah darüber hinweg, wenn sie Unsinn anstellten, nicht rechtzeitig zum Essen nach Hause kamen oder wenn sie herumtobten und in der Küche ein Glas zu Bruch ging oder eine Fensterscheibe beim Ballspiel. Es sprach für ihn, dass ihm so gut wie nie die Hand ausrutschte. Und Mary sorgte gerade einmal für das Nötigste. Vieles, was das Leben schön und erfreulich gemacht hätte, überforderte sie oder kam ihr gar nicht erst in den Sinn. Ruperts Eltern, da war nichts zu machen, waren alles andere als bösartig, aber sie standen sich selbst im Weg.
Da waren die kurzen Wochenendausflüge und längeren Sommeraufenthalte im Hause von Onkel und Tante ein willkommener Lichtblick. Der von Frohsinn und guter Laune bestimmte Tagesablauf bei Matthews älterem Bruder und seiner Frau gab dem Jungen, im Vergleich zur dumpfen, stumpfsinnigen Zeitverschwendung zu Hause in Huddersfield, eine gute Vorstellung davon, wie das Dasein wirklich sein konnte, wenn man nur wollte. Nämlich ein Vergnügen. Der Kontrast war wie Tag und Nacht. Je älter er wurde, desto mehr sehnte sich Rupert danach.
Uncle Theo und Aunt Mildred, die er insgeheim bald als seine „richtigen Eltern“ erachtete, wohnten nur ein Dutzend Tramstationen weiter nördlich, noch in der alten Heimat Clayton, aber schon näher an den Außenbezirken von Bradford, doch als ihn seine Eltern das erste Mal zu ihnen schickten, damit für etwas Abwechslung gesorgt war und wohl auch, damit sie einen hungrigen kleinen Burschen, der ihnen die Haare vom Kopf fraß, für ein paar Tage loswaren, ging ihm augenblicklich das Herz auf.
Schon wie er begrüßt wurde! Seine Tante nahm ihn bei beiden Händen und strahlte ihn an, als hätte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so gefreut wie jetzt, als sie ihn endlich erblicken und herzen durfte.
„Unser Rupert!“, rief sie entzückt aus, und ihr Busen wogte.
„Unser“, so als gehörte er schon ihnen.
Alles, was sie tat, tat sie mit Überschwang, versah es mit Ausrufezeichen. Und Theo, von früh bis spät im Overall, nach Heu oder Motorenöl riechend, begrüßte ihn ebenso herzlich, wuschelte ihm durchs Haar und schlug sofort etwas vor, eine Unternehmung oder einen Spaziergang.
„Wollen wir zwei uns gleich mal auf den Weg machen?“, fragte er seinen Neffen, ohne die Antwort abzuwarten, „ich entführe dich – und nachher gibt es was Feines zu essen.“ Immer hatte er einen Plan, hatte etwas für ihn ausgeheckt oder eine Überraschung parat. Immer hatte er sich auf Ruperts Besuche vorbereitet.
Theo schnappte ihn sich, zeigte ihm Felder und Tiere, hievte ihn auf einen Pflug, erklärte ihm die Apparate und Maschinen in der Baumwollmanufaktur, wo auch am Wochenende rund um die Uhr gearbeitet wurde und er als Fahrer beschäftigt war. Er sorgte dafür, dass „sein“ Rupert herzliche Bekanntschaft mit einem eigensinnigen und auch recht widerspenstigen Ziegenbock namens Joey schloss, und er stellte Rupert, mit dem er Hand in Hand durchs Dorf ging, mit Stolz seinen Nachbarn vor.
Wie eine Trophäe präsentierte er ihn. Alle schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, alle schienen glücklich, dass er da war. Und das hatte Rupert einfach noch nie erlebt.
Uncle Theo kannte die große weite Welt und hatte Lust, sie seinem Neffen zu zeigen. Abenteuerlust trieb ihn an, genau das Richtige für Rupert. Vorn neben sich platzierte er ihn, auf der Sitzbank der Pferdekutsche, mit der er seine Auslieferungen erledigte und Waren zum Bahnhof transportierte. Rupert durfte auf dem Kutschbock hocken wie ein Alter, durfte die Zügel halten und lenken, beim Tragen von Kartons und Kisten helfen, bekam das Fachvokabular der Grossisten erklärt und jede Menge Kopfrechenaufgaben von seinem Onkel gestellt. Addition, Subtraktion, Multiplikation.
Theo erklärte ihm, dass es im Leben ständig und überall auf Genauigkeit ankäme. „Die Dinge müssen stimmen“, konstatierte er mehrmals täglich. „Dann ist alles erträglich.“
Rupert schwirrte anfangs der Kopf vor lauter Zahlen und Eselsbrücken, aber nach ein paar Tagen blickte er schon ein bisschen besser durch. Er war glücklich, wenn er die Pferde striegeln und ihnen Futter bringen konnte, wenn Theo ihn mit Botengängen zu kleineren Firmen in der Nachbarschaft beauftragte und ihn aufforderte: „Wenn sie dir ein Trinkgeld geben wollen, nimm es ruhig, wir haben es uns sauer verdient“, und wenn er abends, genauso schmutzig, verschwitzt und nach Pferdekot stinkend wie sein Onkel, nach Hause kam und sich, Seite an Seite mit ihm, kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.
Aunt Mildred wartete schon auf die beiden, hatte stets ein Glas frische Buttermilch oder eine Karaffe Ingwerbier anzubieten, hatte selbst gemachte Plätzchen oder ein Stück Pie vorrätig – all diese Köstlichkeiten schienen in Huddersfield nicht zu existieren; er kannte sie bislang nicht einmal dem Namen nach.
„Der Junge muss was auf die Rippen kriegen“, sagte Theo zu seiner Frau, „sonst wird er noch so ein klappriges Gestell wie Matt.“
Und auch beim Abendessen ließ Rupert es sich schmecken, langte ordentlich zu. Mildred tätschelte ihm die Hand. „Fein, dass du hier bist, sweetheart“, rief sie aus. Und als er rot anlief, fügte sie lachend hinzu: „Du brauchst dich doch nicht vor uns zu genieren.“
Genieren tat er sich auch nicht, als er an diesen drückenden Sommersamstagnachmittagen, wenn die Sonne wie ein roter Ball am Himmel glühte und die Felder rings um Theos Häuschen zu versengen drohte, gleich nach seinem Onkel nackig in die Messingwanne stieg, die im Innenhof aufgestellt und von gackernden Hühnern umringt war. Ausgelassen planschte er im Badewasser, das nach Lavendel duftete. Alle paar Minuten goss seine Tante heißes Wasser aus einer großen Karaffe nach, und Theo schrubbte ihm mit einer Bürste den Rücken.
Ganz schön grob, fand er, seine Haut brannte wie Feuer, genoss aber auch das Kitzeln, die gespielte Folter – eine richtige Abreibung – und das gegenseitige Nassspritzen. Gemeinsam wurde gejuchzt. Und dann, selbst von oben bis unten nass und in der Unterwäsche wie ein Wilder umherhüpfend, sang der Onkel unvermittelt. Warf sich in Pose und intonierte einen Shanty. Mit viel Gefühl.
„Haben mir die Schauerleute in Liverpool beigebracht“, erklärte er, als Rupert ihn überrascht anschaute. Eine schöne Bassstimme hatte der Onkel.
„Sing doch mal mit!“, forderte er ihn auf.
Anfangs eine holprige Angelegenheit. Nach drei Tagen beherrschte der Junge den Text, alle fünf Strophen. Noch fiepste er ein wenig, war ja gerade mal neun Jahre alt.
„Das wird schon“, beruhigte ihn der Onkel, „wart’ erst mal ab, bis du in den Stimmbruch kommst. Dann duettieren wir.“
Das Auswendiglernen lag Rupert, und er liebte es, wenn sein kleiner Körper zum Resonanzraum wurde. Wenn alles in ihm vibrierte und wenn er den letzten Ton des Songs nachklingen lassen konnte, sodass er noch eine Weile in der Luft hing. Mildred summte mit, brutzelte schon wieder etwas in der Küche. Oder erschien mit einer Süßigkeit – als Zwischenmahlzeit. Einen Heidenspaß hatten die drei.
Abends würfelten sie um die Wette. Zwanzig Kichererbsen waren der Einsatz für jeden Spieler, Rupert bekam noch eine Limonade vorm Schlafengehen, wenn er mal wieder gewonnen und nicht geschummelt hatte – noch merkte er nicht, dass ihn die beiden gewinnen ließen –, und als er schon im Bett lag, hörte er die Eheleute unten im Vorgarten, wo Theo sich allabendlich noch eine Pfeife ansteckte, lachen, bis sich die Balken bogen.
Alle Zeit der Welt nahmen sie sich für Rupert. Gaben ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Dass es auf ihn ankam, dass seine Anwesenheit zählte.
Die Wochen vergingen wie im Fluge. Viel zu schnell war der Sommer um. Jedes Jahr würde er wiederkommen, nahm er sich fest vor, auch zwischendurch. Und so geschah es auch. Obwohl jetzt der Krieg ausbrach. Mary und Matthew hatten nichts dagegen. Sie wunderten sich nicht einmal, dass ihr Sohn, noch vor wenigen Wochen ein Dreikäsehoch in kurzen Hosen, auf einmal so kräftig geworden war. Und dass er, ausgerechnet im Sommer 1914, das Leben jetzt mit Inbrunst umarmte und einfach wunderschön fand.
Der Ausruf „Unser Rupert“ blieb übrigens haften, verselbständigte sich. Der Junge war so etwas wie Theos und Mildreds Auserwählter. Unbewusst ging er davon aus, dass deren Ehe wohl kinderlos geblieben war, ob gewollt oder ungewollt, dass sie sich deshalb einen Sohn wünschten, den sie als den ihren, als ihr Eigentum ansehen konnten. Erst nach Jahren erfuhr er durch eine unbedachte Bemerkung seiner Mutter, die sich sogleich auf die Lippen biss, von der Existenz einer Tochter, die, wie er dann nach und nach erzählt bekam, sehr viel älter war als er, als schwierig und unberechenbar, als schwer erziehbar und regelrecht gefährlich galt, zu Tobsuchtsanfällen neigte, mit einem Messer auf andere Kinder losgegangen war und deshalb weggesperrt werden musste. Schon vor Jahren hatten die Behörden sie, seine Cousine also, Theo und seiner Frau weggenommen. Für kurze Zeit, hatte es zuerst geheißen, danach war von einer Rückkehr bald nicht mehr die Rede. In einem Heim in Staffordshire, weit weg von zu Hause, war sie interniert, „eine Tragödie“, meinte der Vater, und Mildred erwähnte sie nie. Theo schon gar nicht.
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