Kitabı oku: «Wir», sayfa 2
EINTRAGUNG NR. 4
Übersicht: Der Wilde und das Barometer. Epilepsie. Wenn...
Bis zum heutigen Tag war mir alles im Leben völlig klar (ich habe wohl nicht zufällig eine gewisse Vorliebe für das Wort klar). Heute aber... Ich kann es nicht fassen.
Erstens: Ich habe tatsächlich Order erhalten, zum Auditorium 112 zu kommen, wie sie mir sagte. Obgleich die Wahrscheinlichkeit dafür nur 1500 : 10,000.000 = 3 : 20.000 war (1500 = Anzahl der Auditorien, 10,000.000 = Anzahl der Nummern). Und drittens... Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Das Auditorium. Eine riesige, sonnendurchglühte Halbkugel aus massivem Glas. Zahllose kugelförmige, glattrasierte Köpfe. Ich blickte mich etwas beklommen um. Ob hier nicht irgendwo über den blauen Wogen der Uniformen ein rosiger Halbmond schwebte, die lieben Lippen von O? Da — eine Reihe ungewöhnlich weißer, scharfer Zähne... Nein, es war etwas anderes, das ich suchte. Heute Abend um 21 Uhr wird O zu mir kommen; der Wunsch, sie hier zu sehen, war also ganz natürlich. Ein Klingelzeichen ertönte. Wir erhoben uns, sangen die Hymne des Einzigen Staates, und auf dem Podium begann der goldfunkelnde Lautsprecher des Phonolektors: »Verehrte Nummern! Vor kurzem haben die Archäologen ein Buch aus dem 20. Jahrhundert ausgegraben. Der Autor erzählt darin von einem Wilden und einem Barometer. Der Wilde hatte entdeckt, dass, sooft das Barometer auf Regen stand, es tatsächlich regnete. Da der Wilde Regen haben wollte, kratzte er so viel Quecksilber heraus, bis das Barometer auf Regen stehen blieb.« Auf der Leinwand sah man einen federgeschmückten Wilden, der das Quecksilber aus dem Barometer entfernte. Gelächter. »Sie lachen, aber meinen Sie nicht auch, dass der Europäer jener Epoche weit lächerlicher war als dieser Wilde? Der Europäer begehrte ebenfalls Regen, aber wie hilflos war er dem Barometer gegenüber! Der Wilde hingegen besaß Mut, Energie und Logik, wenn auch eine recht wilde Logik: er stellte fest, dass es eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Indem er das Quecksilber herauskratzte, tat er den ersten Schritt auf jenem großen Wege, den wir... «
Hier (ich wiederhole, ich will in diesen Aufzeichnungen die volle Wahrheit sagen), hier wurde ich gleichsam wasserdicht, undurchdringlich für die belebenden Ströme, die dem Lautsprecher entquollen. Plötzlich war mir, als wäre es sinnlos, dass ich hierher gekommen war (wieso sinnlos? Ich musste kommen, ich hatte ja den Befehl erhalten!). Alles erschien mir leer und hohl. Mit großer Mühe gelang es mir, mich wieder zu konzentrieren, als der Phonolektor bereits zum Hauptthema gekommen war, zu unserer Musik, zur mathematischen Komposition (die Mathematik ist die Ursache, die Musik die Wirkung), zur Beschreibung des kürzlich erfundenen Musikometers. «... Man dreht einfach an diesem Knopf und kann bis zu drei Sonaten in der Stunde komponieren. Welche Mühe machte das Ihren Vorfahren! Sie konnten nur dann schaffen, wenn sie sich in einen krankhaften Zustand, in >Begeisterung<, versetzten, was nichts anderes ist als eine Form der Epilepsie. Ich gebe Ihnen jetzt ein äußerst komisches Beispiel von dem, was man damals zuwege brachte. Sie hören Musik von Skrjabin, 20. Jahrhundert. Diesen schwarzen Kasten« — der Vorhang auf dem Podium teilte sich, wir sahen ein altmodisches Musikinstrument — »diesen Kasten nannte man damals Flügel, was wiederum beweist, wie sehr ihre ganze Musik .,.« Was er dann sagte, habe ich vergessen, wohl deshalb, weil... nun, ich will es offen gestehen, weil sie, I-330, zu dem schwarzen Kasten ging. Wahrscheinlich hatte mich ihr unerwartetes Erscheinen auf der Bühne verwirrt. Sie trug ein seltsames Kostüm, wie es damals Mode war, ein enganliegendes schwarzes Kleid; es betonte das Weiß der entblößten Schultern und Brüste und den warmen zuckenden Schatten dazwischen... und ihre blendend weißen, fast bösen Zähne ...
Sie lächelte uns zu. Ein bleckendes, beißendes Lächeln. Dann setzte sie sich und begann zu spielen. Es klang exaltiert, wild und wirr, wie alles aus jener Zeit — bar der Vernunft des Mechanischen. Und alle, die hier saßen, hatten recht: sie lachten. Nur einige wenige .. aber warum auch ich... ich?
Ja, die Epilepsie ist eine Geisteskrankheit, ein Schmerz... ein brennender, süßer Schmerz, wie ein Biss, und ich will, dass er tiefer in mich eindringt, dass ich ihn noch stärker spüre. Und da geht langsam die Sonne auf. Nicht unsere Sonne, die mit kristallblauem, gleichmäßigem Schein durch die gläsernen Wände dringt, nein, eine wilde, unaufhaltsam dahinjagende, alles versengende Sonne — nichts mehr bleibt von mir —, alles zerfällt in kleine Fetzen... Die Nummer links von mir sah mich kichernd an. Ich kann mich noch deutlich erinnern, dass an seinen Lippen ein winziges Speichelbläschen hing und zerplatzte. Dieses Bläschen ernüchterte mich. Ich war wieder ich. Wie die anderen hörte auch ich nur noch das wirre, tosende Rauschen der Saiten. Ich lachte, und alles war plötzlich so leicht und einfach. Was war geschehen? Nur dies: Der Phonolektor hatte jene unzivilisierte Epoche heraufbeschworen. Mit welchem Genuss lauschte ich dann unserer zeitgenössischen Musik (sie wurde zum Schluss als Kontrast gespielt). Die kristallenen chromatischen Tonleitern ineinander verschmelzender und sich wieder lösender unendlicher Reihen, die Akkorde der Formeln Taylors und MacLaurins, die schweren Ganztonschritte der quadratischen Pythagorashosen, die schwermütigen Melodien verebbender Schwingungsbewegungen... Welch erhabene Größe! Welch unerschütterliche Gesetzesmäßigkeit! Wie kümmerlich wirkte dagegen die eigenwillige, sich nur in wilden Phantasien ergehende Musik unserer Vorfahren!
Wie sonst gingen alle in Viererreihen durch die breiten Türen des Auditoriums hinaus. Eine mir wohlbekannte, zweifach gekrümmte Gestalt huschte vorüber; ich grüßte respektvoll.
In einer Stunde würde O zu mir kommen. Ich war in einem Zustand angenehmer und zugleich nützlicher Erregung. Zu Hause ging ich sofort zur Hausverwaltung, zeigte mein rosa Billett vor und erhielt die Genehmigung, die Vorhänge herabzulassen. Dieses Recht haben wir nur an Geschlechtstagen. Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer. Wäre es anders, was könnte dann alles geschehen! Gerade die sonderbaren, undurchsichtigen Behausungen unserer Vorfahren können es bewirkt haben, dass man auf diese erbärmliche Käfigpsychologie verfiel: »Mein Haus ist meine Burg!«
Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riss den Talon ab — und dann... Erst im allerletzten Augenblick, um 22.15 Uhr, löste ich mich von dem rosigen Mund.
Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen und sprach von der Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden, wobei ich mich exakt und gewählt ausdrückte. Sie hörte schweigend zu, und plötzlich tropften Tränen aus ihren blauen Augen und fielen auf mein Manuskript (Seite 7). Die Tinte färbte sich wasserblau und zerfloss. Ich muss die Seite also noch einmal schreiben. »Lieber D, wenn Sie nur... wenn... «
»Was, wenn?«
Die alte Leier; sie möchte ein Kind haben. Oder ist es vielleicht etwas Neues, weil... weil jene andere... ? Sie ist freilich... Nein, das kann nicht sein, es wäre zu unsinnig.
EINTRAGUNG NR. 5
Übersicht: Das Quadrat. Die Herren der Welt. Eine angenehm-nützliche Funktion.
Wieder drücke ich mich unklar aus, wieder spreche ich mit Ihnen, lieber Leser, als wären Sie — nun, sagen wir, mein alter Schulfreund R-13, der Dichter mit den wulstigen Negerlippen, den alle kennen. Sie aber leben auf dem Mond, auf der Venus, auf dem Mars oder dem Merkur, wer weiß, wo und wer Sie sind.
Also, stellen Sie sich ein Quadrat vor, ein lebendiges, schönes Quadrat. Und es soll von sich, von seinem Leben erzählen. Sehen Sie, dem Quadrat würde es nie einfallen, davon zu sprechen, dass alle seine vier Seiten gleich sind, das sieht es schon gar nicht mehr, so selbstverständlich erscheint es ihm. Ich bin die ganze Zeit in einer ähnlichen Lage. Nehmen wir zum Beispiel die rosa Billetts und alles, was damit zusammenhängt: für mich ist das so selbstverständlich wie die vier gleichen Seiten für das Quadrat, Ihnen jedoch erscheint es vielleicht raffinierter als ein Newtonsches Binom.
Nun, hören Sie zu. Irgendein alter Philosoph hat, natürlich rein zufällig, ein kluges Wort gesagt: »Liebe und Hunger regieren die Welt.« Ergo: um die Welt zu beherrschen, muss der Mensch die Beherrscher der Welt bezwingen. Unsere Vorfahren haben einen hohen Preis gezahlt, um den Hunger auszurotten, ich meine den 200jäh-rigen Krieg, den Krieg zwischen Stadt und Land. Wahrscheinlich hielten die wilden Heiden nur aus religiösen Vorurteilen hartnäckig an ihrem Brot fest. (Dieses Wort wird heute nur noch als Metapher gebraucht, die chemische Zusammensetzung dieses Stoffes ist uns nicht bekannt.) Aber fünfunddreißig Jahre vor der Gründung des Einzigen Staates wurde unsere heutige Naphtha-Nahrung erfunden. Es waren freilich nur 0,2 Prozent der Bevölkerung der Erde übrig geblieben. Doch dafür erstrahlte das von tausendjährigem Schmutz gereinigte Antlitz der Erde in neuem, ungeahntem Glanz, und diese 0,2 Prozent genossen das Glück im Paradies des Einzigen Staates. Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Glück und Neid Zähler und Nenner jenes Bruches sind, den wir Zufriedenheit nennen. Welchen Sinn hätten die unzähligen Opfer des 200jährigen Krieges gehabt, wenn es in unserem Leben noch immer einen Grund zum Neid gäbe? Und doch existiert er noch, da es immer noch »Knollennasen« und »klassische Nasen« gibt (ich erinnere an das Gespräch auf dem Spaziergang), weil viele um die Liebe der einen werben, während um die andere sich keiner kümmert.
Nachdem der Einzige Staat den Hunger besiegt hatte, führte er einen Krieg gegen den zweiten Beherrscher der Welt, die Liebe. Schließlich war auch dieser Feind geschlagen, das heißt, organisiert, mathematisch festgelegt, und vor rund 300 Jahren trat unsere Lex sexualis in Kraft. Jede Nummer hat ein Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner.
Alles weitere war dann nur noch Technik. In den Laboratorien des Amtes für sexuelle Fragen wird man sorgfältig
untersucht, der Gehalt an Geschlechtshormonen wird genau bestimmt, und dann erhält jeder eine seinen Bedürfnissen entsprechende Tabelle der Geschlechtstage und die Anweisung, sich an diesen Tagen der Nummer Soundso zu bedienen, und man händigt ihm zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosa Billetts aus.
So gibt es nun keinen Grund mehr zum Neid, denn der Nenner des Bruches Zufriedenheit ist Null geworden — und der Bruch wird zur großartigen Unendlichkeit. Das, was bei unseren Vorfahren eine Quelle unzähliger, sinnloser Tragödien war, haben wir zu einer harmonischen, angenehm-nützlichen Funktion gemacht, ebenso wie den Schlaf, die körperliche Arbeit, die Nahrungsaufnahme, die Verdauung und alles übrige. Darin zeigt sich, wie die große Kraft der Logik alles reinigt, was sie berührt. Ach, mögen auch Sie, ferner unbekannter Leser, diese göttliche Kraft erkennen und lernen, ihr in allem zu folgen. Seltsam, ich habe heute von den Gipfelpunkten der Menschheitsgeschichte geschrieben, ich habe die ganze Zeit die reinste Höhenluft des Geistes geatmet, doch in mir selbst ist alles düster, von dunklen Wolken, von Spinnweben verhangen, irgendein vierfüßiges X hat von mir Besitz ergriffen. Vielleicht kommt das nur von meinen Händen, ich hatte sie so lange vor Augen, meine behaarten Hände, die wie Pfoten aussehen. Ich spreche nicht gern von ihnen, ich liebe sie nicht, sie sind ein Überbleibsel aus jener längst vergangenen, unzivilisierten Epoche... Eigentlich wollte ich dies alles ausstreichen, weil es nicht zum Thema gehört, aber dann habe ich mich entschlossen, es doch stehenzulassen. Meine Aufzeichnungen sollen wie ein Seismograph selbst die geringfügigsten Schwankungen meines Gehirns registrieren, denn mitunter sind solche Schwankungen eine Warnung...
Nein, das ist ja absurd, ich hätte es durchstreichen müssen: wir haben alle Elemente gebändigt, es kann keine Katastrophe mehr geben.
Jetzt ist mir plötzlich alles ganz klar: dieses seltsame Gefühl kommt nur von der sonderbaren Lage, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde. Es gibt kein X in mir (das ist unmöglich), im Gegenteil, ich befürchte, dass in Ihnen irgendein X zurückbleibt, lieber Leser. Aber ich glaube, Sie werden mich deswegen nicht verurteilen. Sie werden verstehen, dass es für mich viel schwieriger ist, zu schreiben, als es für alle Schriftsteller in der ganzen Geschichte der Menschheit je gewesen ist. Die einen schrieben für ihre Zeitgenossen, die anderen für ihre Nachkommen, aber keiner hat für seine Vorfahren oder für Wesen geschrieben, die seinen ungesitteten Ahnen aus grauer Vorzeit glichen...
EINTRAGUNG NR. 6
Übersicht: Ein Zufall. Das verfluchte klar. 24 Stunden.
Ich wiederhole: Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, in meinen Aufzeichnungen nichts zu verschweigen. Darum muss ich an dieser Steile bemerken — so betrüblich es auch ist —, dass selbst in unserem Staat der Prozess der Verhärtung, der Kristallisation des Lebens noch nicht abgeschlossen ist. Wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht (das ist klar), bei uns hingegen... Was sagen Sie dazu: Heute las ich in der Staatszeitung, dass übermorgen der Tag der Gerechtigkeit auf dem Platz des Würfels stattfindet. Also hat wieder irgendeine Nummer den Lauf der großen Staatsmaschine gehemmt, wieder ist etwas Unvorhergesehenes, nicht Vorausberechnetes geschehen. Auch mit mir ist etwas geschehen, zwar in der Persönlichen Stunde, das heißt, in jener Zeitspanne, die für Unvorhergesehenes bestimmt ist, dennoch...
Ich kam um 16 Uhr, genau gesagt, 10 Minuten vor 16 Uhr, nach Hause. Plötzlich rasselte das Telefon. »D-503?« fragte eine weibliche Stimme. »Ja.«
»Ich bin's, I-330. Ich hole Sie gleich ab, wir gehen zusammen zum Alten Haus. Einverstanden?« I-330... Diese I hat etwas Aufreizendes, sie stößt mich ab, erschreckt mich fast. Aber gerade darum sagte ich ja. Fünf Minuten später saßen wir im Flugzeug. Ein majolikablauer Maihimmel. Die warme Sonne folgte uns summend in ihrem goldenen Flugzeug, ohne uns einzuholen und ohne zurückzubleiben. Aber dort, vor uns, hing eine milchig-weiße Wolke, hässlich und rund wie die Backen eines antiken Cupido, und das störte mich. Das vordere Fenster des Flugzeuges war geöffnet, ein scharfer Wind wehte, meine Lippen wurden trocken. Unwillkürlich feuchtete ich sie an und dachte an nichts anderes. In der Ferne tauchten trüb-grüne Flecken auf, das Land jenseits der Mauer. Dann erfasste mich ein leichter Schwindel, es ging hinab, immer tiefer, einen steilen Hang hinunter: wir landeten vor dem Alten Haus. Das morsche, düstere Gebäude ist rings von einer gläsernen Hülle umschlossen, sonst wäre es natürlich längst eingestürzt. Vor der Glastür hockte ein uraltes Weib; ihr Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt, der Mund bestand nur aus Falten, er sah aus wie zugewachsen, und man konnte nicht glauben, dass sie ihn noch öffnen könne. Doch die Alte sagte:
»Na, Kinderchen, wollt ihr euch mein Häuschen ansehen?«, und ihr verrunzeltes Gesicht strahlte. »Ja, Großmutter, es hat mich wieder einmal hierher gezogen«, antwortete I.
Die Runzeln lachten: »Ja, die Sonne! Ach, du Teufelsmädchen! Ich weiß schon, ich weiß! Na gut, geht nur hinein, ich will in der Sonne sitzen bleiben... « Meine Begleiterin war offenbar kein seltener Gast in diesem Haus. Ich wollte etwas von mir abschütteln, es war wohl immer noch jenes bedrückende Bild — die Wolke am blanken Majolikahimmel.
Als wir die breite, dunkle Treppe hinaufgingen, sagte I: »Ich habe die alte Frau sehr gern.« »Warum?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ihres Mundes wegen. Vielleicht auch aus keinem besonderen Grund. Ich habe sie einfach gern.«
Ich zuckte die Achseln. Lächelnd fuhr sie fort: »Ich fühle mich schuldbewusst. Selbstverständlich darf es kein >Einfach-Gernhaben< geben, sondern nur ein Gernhaben, das begründet ist. Alle Urelemente müssen... « »Klar«, sagte ich, ertappte mich sogleich bei diesem Wort und blickte I verstohlen an. Hatte sie es bemerkt oder nicht?
Sie blickte zu Boden, ihre gesenkten Lider glichen heruntergelassenen Vorhängen. Dabei fiel mir ein: Wenn man abends um 22 Uhr durch die Straßen geht, sieht man in den hellerleuchteten, durchsichtigen Glashäusern hier und dort dunkle Zimmer mit zugezogenen Gardinen, und dahinter... Was sie dann wohl tut? Warum hat sie mich heute angerufen, und was soll das alles bedeuten? Ich öffnete eine schwere, undurchsichtige, knarrende Tür, und wir traten in einen dunklen Raum (so etwas nannten
unsere Vorfahren Wohnung). Ein seltsames Musikinstrument stand dort, ein Flügel, und in dem ganzen Zimmer war der gleiche regellose Wirrwarr von Formen und Farben wie in der alten Musik. Eine weiße Decke, dunkelblaue Wände, alte Bücher in roten, grünen, orangefarbenen Einbänden, gelbe Bronzen — zwei Leuchter und eine Buddha-Statuette —, die Linien der Möbel epileptisch verzerrt, zuckend, in keine Gleichung zu bringen. Nur mit größter Anstrengung vermochte ich dieses Chaos zu ertragen. Meine Begleiterin hingegen hatte offenbar eine kräftigere Konstitution.
»Diese Wohnung gefällt mir am besten von allem im Alten Haus«, sagte sie, und plötzlich schien sie sich auf irgend etwas zu besinnen; ihr Lächeln — ein Biss, die scharfen weißen Zähne blitzten: »Sie ist die hässlichste aller Wohnungen von einst.«
»Der hässlichste aller Staaten von einst«, verbesserte ich sie. »Jener Tausenden von mikroskopisch kleinen Staaten, die beständig miteinander Krieg führten, grausam wie...«
»Ja, ich weiß... «, unterbrach mich I ernst. Wir gingen durch ein Zimmer, in dem Kinderbetten standen (in jener Epoche waren die Kinder noch Privateigentum). Und dann ein Raum nach dem anderen — blitzende Spiegel, riesige Schränke, unerträglich bunte Sofas, ein ungeheurer Kamin, ein großes Mahagonibett. Unser schönes durchsichtiges, unzerbrechliches Glas sah ich nur in Form von armseligen, trüben Fensterscheiben. »Seltsam, hier haben die Menschen >einfach so< geliebt, geglüht, sich gequält...« (wieder schlug sie die Augen nieder), »welch eine sinnlose, unwirtschaftliche Verschwendung menschlicher Energie — nicht wahr?« Damit sprach sie meine eigenen Gedanken aus, doch in ihrem Lächeln las ich die ganze Zeit dieses aufreizende X. Hinter ihren gesenkten Lidern ging irgend etwas vor, das mich aus dem Gleichgewicht brachte.
Ich wollte ihr widersprechen, wollte sie anschreien, aber ich musste ihr zustimmen — sie hatte recht. Wir blieben vor einem Spiegel stehen. In diesem Augenblick sah ich nur ihre Augen. Da kam mir der Gedanke: Der Mensch ist genauso unzivilisiert wie diese scheußlichen Wohnungen; sein Kopf ist undurchsichtig, nur zwei kleine Fenster gestatten einen Blick ins Innere: die Augen. Anscheinend hatte sie meine Gedanken erraten, denn sie wandte sich um:
»Nun? Das sind meine Augen.« (Sie sagte das natürlich nicht laut, sondern nur mit den Blicken.) Vor mir zwei traurig-dunkle Fenster, dahinter ein unbekanntes, fremdes Leben. Ich sah nur, dass dort drinnen ein Feuer brannte, irgendein Kamin, und da waren Gestalten, ähnlich wie...
Es war ganz natürlich: ich sah mein Spiegelbild in ihren Augen. Aber dieses Spiegelbild war unnatürlich und glich mir ganz und gar nicht (das kam gewiss von der bedrückenden Umgebung) — ich fühlte deutlich ein Entsetzen, fühlte mich gefangen, in diesem Käfig eingeschlossen, vom wilden Wirbel des einstigen Lebens fortgerissen. »Ach«, sagte I, »gehen Sie doch bitte für eine Minute ins Nebenzimmer.«
Ich ging hinaus und setzte mich. Von einem Bücherbrett lächelte mir das stupsnasige, asymmetrische Gesicht eines antiken Dichters entgegen (ich glaube, es war Puschkin). Wie kommt es nur, dass ich hier sitze und dieses Lächeln gelassen hinnehme? Ja, warum bin ich überhaupt hier? Woher kommt dieser sonderbare Zustand? Diese aufreizende, abstoßende Frau, dieses seltsame Spiel.
Nebenan klappte eine Schranktür, Seide rauschte leise, es kostete mich große Selbstbeherrschung, nicht hineinzugehen und ihr sehr harte Worte zu sagen. Doch da kam sie schon. Sie trug ein kurzes, altmodisches gelbes Kleid, einen schwarzen Hut und schwarze Strümpfe. Das Kleid war aus dünner Seide, ich konnte hindurchsehen und erkennen, dass die Strümpfe bis übers Knie reichten. Ihr Hals war entblößt, ich sah den Schatten zwischen ihren Brüsten...
»Das soll wohl originell sein, aber glauben Sie denn wirklich...«
»Ja«, unterbrach mich I, »originell sein heißt, sich von den anderen unterscheiden. Folglich zerstört die Originalität die Gleichheit... Das, was in der idiotischen Sprache unserer Ahnen banal sein bedeutete, das heißt bei uns: seine Pflicht erfüllen. Denn... «
Ich konnte nicht mehr an mich halten. »Das brauchen Sie mir gar nicht erst zu sagen... «
Sie trat zur Büste des stupsnasigen Dichters, schlug die Augen nieder und sagte, diesmal anscheinend ganz ernst (vielleicht um mich zu besänftigen), etwas sehr Kluges: »Finden Sie es nicht höchst sonderbar, dass die Leute einmal solche Gestalten geduldet haben? Nicht nur geduldet, dass sie sie sogar verehrt haben? Welch sklavischer Geist! Nicht wahr?«
»Klar... das heißt, ich wollte... « (O dieses verfluchte klar!)
»Schon gut, ich verstehe. Und diese Dichter waren mächtiger als die gekrönten Häupter jener Zeit, Warum hat man sie nicht isoliert, nicht ausgerottet? Bei uns...« »Ja, bei uns...«, begann ich. Plötzlich lachte sie spöttisch. Ich erinnere mich, dass ich am ganzen Leib zitterte. Am liebsten hätte ich sie gepackt, und ich weiß nicht mehr, was... Ich musste irgend etwas tun. Ich öffnete mechanisch mein goldenes Abzeichen und sah auf die Uhr. 10 Minuten vor 5.
»Meinen Sie nicht, dass es Zeit ist für uns?« sagte ich so unbefangen wie möglich.
»Und wenn ich Sie bitten würde, mit mir hier zu bleiben?« »Wissen Sie, was Sie damit sagen? In zehn Minuten muss ich im Auditorium sein.«
»Alle Nummern sind verpflichtet, an dem Kurs für Kunst und Wissenschaft teilzunehmen«, sagte I mit meiner Stimme. Dann blickte sie auf und sah mich an; hinter den dunklen Augenfenstern glühte das Feuer. »Ich kenne einen Arzt vom Gesundheitsamt, er ist auf mich abonniert. Wenn ich ihn bitte, schreibt er Ihnen ein Attest, dass Sie krank waren. Nun?« Ich begriff endlich, wohin dieses ganze Spiel führte. »Auch das noch! Sie wissen wohl, dass ich, wie jede anständige Nummer, eigentlich sofort zu den Beschützern gehen müsste und... «
»Aber uneigentlich« — sie lächelte spöttisch — »wüsste ich zu gern, ob Sie hingehen oder nicht.« »Sie bleiben hier?« Ich griff nach der Türklinke. Sie war aus Messing, wie meine Stimme. »Einen Augenblick bitte. Darf ich?«
Sie ging zum Telefon, wählte eine Nummer — ich war so aufgeregt, dass ich sie mir nicht merkte — und sagte: »Ich erwarte Sie im Alten Haus. Ja, ich bin allein.« Ich drückte auf die kalte Messingklinke: »Gestatten Sie, dass ich Ihr Flugzeug nehme?« »Natürlich, bitte... «
Am Ausgang träumte die Alte wie eine Pflanze in der Sonne vor sich hin. Wieder wunderte ich mich, dass der zugewachsene Mund sich öffnete und sprach:
»Und Ihre Freundin — ist sie allein im Haus?« »Ja, allein.«
Die Alte schüttelte schweigend den Kopf. Selbst ihr schwaches Hirn schien zu begreifen, wie tollkühn, wie wahnwitzig diese Frau handelte.
Punkt fünf Uhr war ich in der Vorlesung. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich der Alten nicht die Wahrheit gesagt hatte — I war jetzt nicht allein. Vielleicht quälte und lenkte gerade dies mich jetzt ab, dass ich die Alte gegen meinen Willen belogen hatte. Ja, sie war nicht allein.
21.30 Uhr — ich hatte eine freie Stunde. Ich hätte noch heute zu den Beschützern gehen und Anzeige erstatten können. Aber diese dumme Geschichte hatte mich müde gemacht. Außerdem beträgt die gesetzliche Frist für eine Anzeige zweimal vierundzwanzig Stunden. So hatte es noch Zeit bis morgen.