Kitabı oku: «Wir», sayfa 3
EINTRAGUNG NR. 7
Übersicht: Die Augenwimper. Taylor. Bilsenkraut und Maiglöckchen.
Nacht. Grün, orange, blau, ein Flügel aus Mahagoni, ein zitronengelbes Kleid. Ein bronzener Buddha. Plötzlich hob er die metallenen Lider — und Saft entströmte ihm. Auch aus dem gelben Kleid rann Saft, an dem Spiegel hingen kleine Tropfen, das große Bett und die Kinderbettchen tröpfelten, und im nächsten Augenblick werde auch ich... Ein banger, süßer Schreck überkommt mich... Ich wachte auf. Gleichmäßiges bläuliches Licht, das Glas der Wände leuchtete, die gläsernen Stühle, der gläserne
Tisch. Das beruhigte mich, mein Herz pochte nicht mehr so ungestüm. Sanft, Buddha... was für ein Unsinn! Mir ist klar, dass ich krank bin. Früher habe ich nie geträumt. Träumen — das soll bei unseren Vorfahren etwas ganz Normales und Alltägliches gewesen sein. Ihr ganzes Leben war ja ein entsetzliches Karussell: Grün-orange Buddha-Saft. Wir aber wissen, dass Träume eine gefährliche psychische Krankheit sind. Und ich weiß: Bis zu diesem Tag war mein Gehirn ein chronometrisch regulierter, blitzender Mechanismus ohne das geringste Stäubchen, jetzt aber...
Ja, ich spüre in meinem Gehirn einen Fremdkörper wie ein feines Wimpernhaar im Auge; man fühlt sich im ganzen recht wohl, aber dieses Haar im Auge — nicht für eine Sekunde lässt es sich vergessen. In meinem Kopfkissen ertönte ein heller, kristallklarer Ton: 7 Uhr, aufstehen. Durch die gläsernen Wände rechts und links sah ich gleichsam mich selbst, mein Zimmer, meine Kleider, meine Bewegungen — tausendfach wiederholt. Das gab mir neuen Mut, ich empfand mich als Teil eines gewaltigen, einheitlichen Organismus. Und welch exakte Schönheit: keine überflüssige Geste, Neigung, Drehung. Ja, dieser Taylor war zweifellos der genialste Mensch der alten Zeit. Er kam freilich nicht darauf, seine Methode auf das ganze Leben auszudehnen, auf jeden Schritt, auf sämtliche vierundzwanzig Stunden des Tages, er vermochte nicht, sein System von einer zu vierundzwanzig Stunden zu integrieren. Dennoch — wie konnten die Menschen von damals ganze Bibliotheken über einen gewissen Kant schreiben, während sie Taylor, diesen Propheten, der zehn Jahrhunderte vorausblickte, kaum erwähnten! Das Frühstück war zu Ende. Wir hatten die Hymne des Einzigen Staates gesungen und marschierten in Viererreihen zum Lift. Die Motoren summten leise, es ging rasch nach unten, tiefer, immer tiefer, und ich spürte einen leichten Schwindel...
Da war wieder dieser unsinnige Traum oder irgendeine unklare Funktion, die von diesem Traum herrührte. Gestern, als wir mit dem Flugzeug landeten, hatte ich das gleiche Gefühl. Im übrigen ist das nun alles vorbei: Punkt.
Und es ist sehr gut, dass ich ihr gegenüber so entschieden und schroff war.
In der Untergrundbahn fuhr ich zur Werft, wo der noch unbewegliche, noch nicht vom Feueratem durchglühte schlanke Leib des Integral auf Stapel lag und in der Sonne blitzte. Ich schloss die Augen und träumte in Formeln: in Gedanken rechnete ich noch einmal aus, wie groß die Anfangsgeschwindigkeit des Integral sein musste. In jedem Atom einer Sekunde verändert sich die Masse des Integral (es gibt Explosionshitze ab). Ich gelangte zu einer höchst komplizierten Gleichung mit transzendentalen Größen.
Wie im Traum sah ich, dass sich jemand neben mich setzte, mich leicht mit dem Ellbogen anstieß und »Verzeihung« murmelte.
Ich öffnete die Augen, und zuerst war mir, als jagte etwas durch den Raum (eine Assoziation vom Integral): ein Kopf — er flog, weil er abstehende, rosige Ohren hatte, die wie Flügel aussahen. Dann die Kurve des gebeugten Nackens, der krumme Rücken, zweifach gebogen, wie ein S...
Und durch die gläsernen Mauern meiner algebraischen Welt drang wieder ein Wimpernhaar; es ist doch sehr unangenehm, dass ich heute... »Bitte sehr, bitte sehr.« Ich lächelte meinem Nachbarn zu und verbeugte mich. Auf seinem Abzeichen funkelte die Nummer S-4711 (darum also hatte ich ihn von Anfang an mit dem Buchstaben S in Verbindung gebracht! Es war ein vom Bewusstsein nicht registrierter visueller Eindruck). Seine Augen blitzten, sie waren zwei spitze Drillbohrer, die sich schnell drehten und immer tiefer in mich eindrangen; im nächsten Augenblick würden sie auf den Grund stoßen und das sehen, was ich sogar vor mir selbst verbarg...
Mit einemmal wusste ich, was das Wimpernhaar bedeutete: Er war ein Beschützer, und es war am einfachsten, wenn ich ihm sofort alles sagte.
»Wissen Sie, gestern war ich im Alten Haus...»Meine Stimme klang fremd und gepresst. Ich räusperte mich.
»Das ist ja ausgezeichnet!« entgegnete er. »Das gibt uns Material für sehr lehrreiche Schlüsse.« »Aber ich war dort nicht allein, ich begleitete die Nummer I-330, und da... «
»I-330? Gratuliere! Eine sehr interessante, begabte Frau. Sie hat so viele Verehrer.«
Jetzt fiel es mir ein, er hatte sie damals auf dem Spaziergang begleitet. Vielleicht war er sogar auf sie abonniert. Nein, ich konnte ihm nichts davon sagen, das war unmöglich, soviel war mir klar.
»Ja, das stimmt! Sehr interessant.« Ich lächelte, immer breiter und törichter, und fühlte, dass dieses Lächeln meine ganze Nacktheit und Torheit offenbarte ... Die Bohrer fraßen sich in mich hinein, dann schnellten sie zurück. S lächelte zweideutig, nickte mir zu und ging zur Tür. Ich entfaltete meine Zeitung (mir war, als blickten alle mich an). Eine Notiz sprang mir in die Augen, die mich so sehr erregte, dass ich darüber das Wimpernhaar, die Bohrer und alles übrige vergaß. Es war nur eine kurze Notiz: »Wie aus wohlinformierten Kreisen verlautet, wurden erneut die Spuren einer bisher nicht fassbaren Organisation entdeckt, deren Ziel die Befreiung der Nummern von dem wohltätigen Joch des Staates ist.« Befreiung? Es ist wirklich erstaunlich, wie stark die verbrecherischen Instinkte im Menschen sind. Ich sage ganz bewusst: verbrecherisch. Denn die Freiheit und das Verbrechen sind so eng miteinander verknüpft wie... nun, wie die Bewegung eines Flugzeugs mit seiner Geschwindigkeit: ist die Geschwindigkeit eines Flugzeugs gleich Null, bewegt es sich nicht. Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, begeht er keine Verbrechen. Das ist völlig klar. Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist, ihn vor der Freiheit zu bewahren. Kaum ist uns das gelungen, da kommen ein paar erbärmliche Narren...
Nein, ich begreife einfach nicht, warum ich nicht sofort, gestern noch, zu den Beschützern gegangen bin. Heute suche ich sie bestimmt auf, gleich nach 16 Uhr. Um 16.10 Uhr verließ ich das Haus, und an der nächsten Ecke begegnete ich O. Gut, dass ich sie treffe, sie kommt mir wie gerufen, dachte ich, sie hat einen gesunden Menschenverstand. Sie wird mich gewiss verstehen und mir helfen.
Aber ich brauchte ja gar keine Hilfe, ich war fest entschlossen.
Die Schornsteine der Musikfabrik bliesen donnernd den Marsch des Einzigen Staates, den gleichen, täglichen Marsch. Wie beglückend ist diese alltägliche Wiederholung!
O nahm meinen Arm: »Wir wollen Spazierengehen.« Die runden blauen Augen waren weit geöffnet, sie glichen blauen, klaren Fenstern, und ich konnte ungehindert hindurchblicken, ohne an etwas hängenzubleiben. Dahinter verbarg sich nichts, nichts Fremdes, nichts Überflüssiges jedenfalls.
»Nein, ich habe keine Zeit, ich muss... « Ich sagte ihr, wohin ich gehen wollte. Zu meiner großen Verwunderung sah ich: der kreisrunde, rosige Mund wurde zum Halbmond, dessen Spitzen nach unten zeigten zeigten, als hätte sie Säure getrunken. Ich fuhr auf:
»Ihr weiblichen Nummern seid anscheinend unheilbar von Vorurteilen verseucht, ihr seid völlig unfähig, abstrakt zu denken! Entschuldigen Sie, aber das ist einfach dumm!«
»Sie gehen zu den Spionen... pfui! Aber ich, ich war im Botanischen Museum und habe Ihnen Maiglöckchen mitgebracht... «
Warum dieses »aber ich«? Typisch weiblich. Wütend (ja, ich war wütend, ich gebe es zu) nahm ich die Maiglöckchen.
»Na, riechen Sie einmal an Ihren Maiglöckchen. Gut, ja? Also haben Sie wenigstens so viel Logik, festzustellen: Maiglöckchen riechen gut. Aber können Sie von dem Geruch selbst, von dem Begriff Geruch, sagen, er sei gut oder schlecht? Sie können es nicht? Es gibt Maiglöckchengeruch und es gibt den widerlichen Geruch des Bilsenkrauts; beides ist Geruch. Der Staat unserer Vorfahren hatte Spione — und wir haben auch welche. Ja, Spione. Ich fürchte dieses Wort nicht. Denn es ist klar, dass der Spion damals ein Bilsenkraut war, während er bei uns ein Maiglöckchen ist. Jawohl, ein Maiglöckchen!« Der rosige Halbmond zuckte. Ich glaubte, sie lächelte, jetzt aber weiß ich, dass mir das nur so vorkam. Und ich sagte noch lauter:
»Ja, Maiglöckchen! Da gibt es nichts zu lachen, gar nichts!« Runde, glatte Kugelköpfe kamen vorüber; sie wandten sich erstaunt um. O nahm mich zärtlich am Arm: »Sie sind heute so merkwürdig. Sie sind doch nicht krank?« Der Traum — das gelbe Kleid — der Buddha... Richtig, ich musste zum Gesundheitsamt gehen. »Ja, ich bin wirklich krank«, sagte ich sehr erfreut (ein unerklärlicher Widerspruch: wieso freute ich mich?). »Dann müssen Sie sofort zum Arzt gehen. Sie wissen doch, Sie haben die Pflicht, gesund zu sein — es wäre lächerlich, wenn ich Ihnen das klarmachen wollte.« »Sie haben natürlich recht, liebe O, völlig recht!« Ich ging nicht zu den Beschützern. Es half nichts, ich musste mich zum Gesundheitsamt begeben. Dort wurde ich bis 17 Uhr festgehalten. Am Abend kam O zu mir (übrigens ist dort abends ohnehin geschlossen). Wir zogen die Gardinen nicht zu, sondern lösten Aufgaben aus einem alten Mathematikbuch, denn eine solche Beschäftigung beruhigt und klärt den Geist. O-90 saß über ihrem Buch, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, und stieß vor Anstrengung mit der Zunge gegen die linke Wange. Wie kindlich, wie bezaubernd das war! Auch in mir war alles gelöst, exakt, einfach...
Sie ging. Ich war wieder allein. Ich holte zweimal tief Atem (das ist sehr gut vor dem Schlafengehen), und plötzlich spürte ich einen seltsamen Geruch, der mich anwiderte...
Bald wusste ich, woher er kam — in meinem Bett war ein Maiglöckchenstängel versteckt. Alles in mir empörte sich, alles war von neuem aufgerührt. Es war wirklich sehr taktlos von ihr, mir diese Maiglöckchen ins Bett zu stecken... Nun, ich bin nicht zu den Beschützern gegangen. Aber es ist nicht meine Schuld, dass ich krank bin.
EINTRAGUNG NR. 8
Übersicht: Die irrationale Wurzel. R-13. Das Dreieck.
Vor langer Zeit, ich ging noch zur Schule, begegnete ich zum ersten Mal √-1. Ich kann mich noch genau an alle Einzelheiten erinnern, an den hellen, kugelförmigen Schulsaal, an Hunderte von runden Knabenköpfen, an Plapa, unseren Mathematiklehrer. Wir hatten ihm den Spitznamen Plapa gegeben; er war schon ziemlich abgenutzt, und wenn der diensthabende Schüler ihm den Stöpsel in den Rücken steckte, sagte der Lautsprecher immer »Pla-pla-pla-schschsch —«, und dann begann sofort die Mathematikstunde. Einmal erzählte uns Plapa von irrationalen Zahlen, und ich entsinne mich noch deutlich, dass ich mit den Fäusten auf den Tisch hämmerte und schrie: »Ich mag √-1 nicht! Reißt √-1 aus mir heraus!« Diese irrationale Wurzel wuchs in mir, sie war ein Fremdkörper, ein furchtbares Gewächs, das an mir zehrte, mich verschlang. Man konnte diese Wurzel nicht definieren, sie auch nicht unschädlich machen, weil sie außerhalb der Ratio war.
Und nun meldete sie sich plötzlich wieder, diese Wurzel. Ich las meine Aufzeichnungen durch und erkannte, dass ich mich selbst zum Narren gehalten, mich selbst belogen hatte, nur um √-1 nicht zu sehen. Es ist alles dummes Zeug, dass ich krank bin usw. — ich hätte sehr wohl zu den Beschützern gehen können. Vor drei Tagen noch hätte ich gewiss nicht lange überlegt und wäre sogleich hingegangen. Warum aber jetzt... warum? Heute geschah das gleiche wie gestern. Punkt 16 Uhr stand ich vor der blitzenden Glasmauer. Über mir flammten die goldenen Buchstaben des Schildes in der Sonne. Durch die gläsernen Wände sah ich in dem Gebäude eine lange Reihe blaugrauer Uniformen. Ihre Gesichter strahlten wie die Lampen in den Kirchen der alten Zeit. Sie waren gekommen, um eine große Tat zu vollbringen — um ihre Lieben, ihre Freunde und sich selbst auf dem Altar des Einzigen Staates zu opfern. Und ich — es trieb mich, zu ihnen zu eilen, es ihnen gleichzutun. Doch ich vermochte es nicht, meine Füße waren tief in das gläserne Pflaster eingesunken, ich stand wie angewurzelt, stumpf vor mich hinstarrend, unfähig, mich von der Stelle zu rühren... »He, Mathematiker, träumst du?«
Ich fuhr zusammen. Ich erblickte lackschwarze, lachende Augen und wulstige Negerlippen. Der Dichter R-13, mein alter Freund, stand vor mir, und neben ihm die rosige O. Ich wandte mich verärgert ab (wenn sie mich nicht gestört hätten, wäre es mir vielleicht gelungen, √-1 mit Stumpf und Stiel auszureißen und hineinzugehen). »Ich träume nicht, ich habe nur etwas eingehend betrachtet«, sagte ich schroff.
»Nun ja, mein Lieber, Sie sollten nicht Mathematiker sein, sondern Dichter! Kommen Sie doch zu uns, den Poeten. Wenn Sie wollen, arrangiere ich das sofort.« R-13 spricht unglaublich viel und schnell, die Worte sprühen nur so aus dem wulstigen Mund heraus; jedes p ist eine Fontäne.
»Ich bin ein Diener der Wissenschaft und werde es bleiben«, entgegnete ich mit finsterem Gesicht. Ich liebe solche dumme Späße nicht, ich verstehe sie nicht einmal; aber R-13 hat die hässliche Angewohnheit, Witze zu machen.
»Gehen Sie mir mit Ihrer Wissenschaft! Diese Wissenschaft ist nichts als Feigheit! Ihr wollt einfach das Unendliche mit einem Mäuerchen umgeben und fürchtet euch, hinter diese Mauer zu blicken. Ja! Und wenn ihr hinüberseht, dann kneift ihr die Augen zu!«
»Die Mauern sind der Anfang jener menschlichen...«, begann ich. R spritzte mir eine ganze Fontäne ins Gesicht, O lachte übermütig. Ich winkte ab: Lacht nur, das macht mir nichts aus. Mir war nicht zum Lachen zumute. Ich musste irgend etwas tun, um diese verfluchte √-1 zu betäuben.
»Wie wäre es«, sagte ich, »wir gehen auf mein Zimmer und lösen Rechenaufgaben.« (Ich dachte an die stille Stunde von gestern; vielleicht würde sie heute wiederkehren.)
O sah R an, dann richtete sie ihre klaren, runden Augen auf mich, und ihre Wangen nahmen das zarte Rosa unserer Billetts an.
»Heute?... Ich habe ein Billett für ihn« — sie deutete mit dem Kopf auf R —, »und am Abend ist er beschäftigt, so dass... «
Die feuchten, wie Lack glänzenden Lippen schnalzten: »Wir kommen auch mit einer halben Stunde aus, nicht wahr, O? Ihre Rechenaufgaben interessieren mich nicht. Gehen wir doch zu mir und unterhalten uns ein wenig.« Ich hatte Angst, mit mir allein zu bleiben, oder, genauer gesagt, mit diesem neuen, mir fremden Menschen, der durch einen seltsamen Zufall meine Nummer trug — D-503. Ich folgte R. Es fehlt ihm zwar der exakte Rhythmus, er hat eine verdrehte, lächerliche Logik, dennoch sind wir Freunde. Nicht umsonst haben wir uns vor drei Jahren diese reizende, rosige O ausgesucht. Das verbindet uns noch stärker als die gemeinsame Schulzeit. Wir saßen in Rs Zimmer. Auf den ersten Blick sah alles genauso aus wie bei mir: die Gesetzestafel, gläserne Stühle, Tisch, Schrank und Bett aus Glas. Doch kaum war R hereingekommen, da hatte er die beiden Sessel zurechtgerückt — und die Flächen waren wie weggefegt, das feste, dreidimensionale Ordnungssystem zerstört, alles wurde uneuklidisch.
R ist immer noch der gleiche wie früher. In Taylor-Kunde und Mathematik war er stets der Letzte in der Klasse. Wir erzählten von dem alten Plapa, wie wir seine gläsernen Beine mit kleinen Dankesbriefen beklebt hatten (wir liebten Plapa sehr). Dann sprachen wir von unserem Religionslehrer. (Im Religionsunterricht haben wir natürlich nicht die Zehn Gebote unserer Vorfahren gelernt, sondern die Gesetze des Einzigen Staates.) Er hatte eine ungewöhnlich laute Stimme, sie drang wie Sturmesheulen aus dem Lautsprecher, und wir Kinder wiederholten den Text mit schreienden Stimmen. Einmal hatte ihm der freche R-13 gekautes Löschpapier ins Sprachrohr gestopft, und bei jedem Wort schossen Papierklümpchen heraus. R wurde selbstverständlich bestraft, es war auch wirklich ein hässlicher Streich gewesen, aber wir lachten alle — ich muss gestehen, ich auch.
»Und wenn er lebendig gewesen wäre wie die Lehrer in alten Zeiten, dann hätte er erst gespuckt...« Eine Fontäne spritzte über die dicken, schnalzenden Lippen. Die Sonne drang durch Decke und Wände und spiegelte sich im Fußboden. O saß auf Rs Knien, in ihren Augen schimmerten kleine Sonnenflecke. Mir war warm geworden, und ich verabschiedete mich. Die irrationale Wurzel rührte sich nicht mehr.
»Na, wie steht's mit dem Integral? Können wir bald zu den Marsmenschen fliegen und sie beglücken? Beeilt euch, sonst schreiben wir Dichter so viele Verse, dass euer Integral nicht mehr hochkommt. Jeden Tag von 8 bis 12 Uhr...« R-13 schüttelte den Kopf und kratzte sich auf dem Rücken. Er hatte einen viereckigen Rücken, der wie ein hinten aufgeschnallter Koffer aussieht (ich musste an ein altes Bild denken: Im Reisewagen). Ich wurde mit einemmal lebendig:
»Ach, Sie schreiben auch für den Integral? Über welches Thema? Was haben Sie zum Beispiel heute geschrieben?« »Heute habe ich keinen Strich getan, ich war mit anderen Dingen beschäftigt...« »Womit?«
R machte ein düsteres Gesicht: »Womit, womit? Nun, wenn Sie es unbedingt wissen wollen — mit einem Urteilsspruch. Ich habe ein Urteil poetisiert. Da hat so ein Idiot, einer von unseren Dichtern... Zwei Jahre saß er neben mir, war ganz normal, und auf einmal fängt er an zu schreien: >Ich bin ein Genie, für mich gibt es kein Gesetz!< und ähnlichen Unsinn... Na ja... ach!« Die dicke Unterlippe hing herab, der Lack der schwarzen Augen wurde stumpf. R-13 sprang auf, kehrte uns den Rücken zu und starrte durch die gläserne Wand. Ich blickte auf seinen Rücken, der wie ein fest verschlossener Koffer war, und dachte: Was mag er wohl jetzt in diesem Koffer suchen?
»Zum Glück sind die vorsintflutlichen Zeiten der Shakespeares und Dostojewskijs — oder wie man sie damals nannte — vorbei«, sagte ich betont laut. R wandte sich mir zu. Die Worte sprühten, sprudelten wie immer aus seinem Mund hervor, doch mir schien, dass seine Augen allen Glanz verloren hatten. »Ja, lieber Mathematiker, zum Glück, zum Glück! Wir sind vollkommen glückliche arithmetische Durchschnittsgrößen... Wie heißt das doch bei euch? Von Null zu Unendlich integrieren, vom Kretin zu Shakespeare... Ja, so ist das!«
Ich weiß nicht, warum mir plötzlich I-330 einfiel, ihre Stimme; irgendein hauchdünner Faden verband sie mit R-13. Aber was für ein Faden? Wieder regte sich die irrationale Wurzel. Ich öffnete mein Abzeichen: 17.35 Uhr. O hatte laut Billett noch 45 Minuten Zeit. »Ich muss gehen...« Ich küsste O, drückte R die Hand und ging zum Lift.
Draußen überquerte ich die Straße und blickte zurück: In dem hellen, sonnendurchfluteten Glasblock waren hier und dort undurchsichtige, blaugraue Zellen, Zellen eines rhythmischen, taylorisierten Glücks. Ich spähte zum 7. Stock hinauf, wo sich das Zimmer von R-13 befand; die Gardinen waren zugezogen.
Liebe O... Lieber R... In ihm ist etwas, das ich nicht recht begreife. Und trotzdem bilden ich, er und O ein Dreieck, wenn auch kein gleichschenkeliges, so doch ein Dreieck. Wir sind, mit den Worten unserer Vorfahren ausgedrückt (vielleicht verstehen Sie, lieber Leser, auf fernen Planeten diese Sprache besser als die unsere), eine Familie. Und es tut wohl, für eine kleine Weile auszuruhen, sich in einem einfachen, starken Dreieck von allem abzuschließen.
EINTRAGUNG NR. 9
Übersicht: Liturgie. Jamben und Trochäen. Die eiserne Hand.
Ein strahlend klarer Tag. An solch einem Tag vergisst man seine Sorgen, Unzulänglichkeiten und Gebrechen, alles ist kristallen, ewig, wie unser neues Glas... Auf dem Platz des Würfels. Sechsundsechzig riesige konzentrische Kreise — die Tribünen. Und Sechsundsechzig
Reihen — die Gesichter leuchten still wie die Lampen in den Kirchen der Alten, die Augen spiegeln den Glanz des Himmels wider, oder vielleicht auch den Glanz des Einzigen Staates. Blutrote Blumen, die Lippen der Frauen. Zarte Girlanden, Kindergesichter in der vordersten Reihe, ganz nahe dem Ort der heiligen Handlung. Tiefe, feierliche, gotische Stille.
Die uns erhaltenen Schilderungen beweisen, dass unsere Ahnen während ihrer Gottesdienste nichts dergleichen erlebten. Doch sie dienten einem dummen, unbekannten Gott — und wir verehren eine weise, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannte Gottheit. Ihr Gott gab ihnen nichts außer einem ewigen, qualvollen Suchen, ihm fiel nichts Besseres ein, als sich aus einem unbekannten Grund für sie zu opfern — wir aber bringen unserem Gott, dem Einzigen Staat, ein Opfer dar, ein genau durchdachtes, vernünftiges Opfer. Ja, dieses Opfer war eine feierliche Liturgie für den Einzigen Staat, eine Erinnerung an die schweren Tage und Jahre des 200jährigen Krieges, der erhabene Feiertag des Sieges der Masse über den einzelnen, der Summe über die Zahl... Auf den Stufen des sonnenblitzenden Würfels stand ein einzelner. Sein Gesicht war weiß, nein, nicht weiß, es hatte keine Farbe mehr, es war gläsern, durchsichtig wie die Lippen. Nur die Augen waren zwei schwarze Schlünde, sie sogen gierig jene Welt ein, zu der er noch vor wenigen Minuten gehört hatte. Das goldene Abzeichen mit der Nummer hatte man ihm abgenommen, seine Hände waren mit einem Purpurband zusammengebunden (das ist eine uralte Sitte. Sie ist gewiss damit zu erklären, dass die Menschen einst, als dies alles nicht im Namen des Einzigen Staates geschah, sich berechtigt glaubten, Widerstand zu leisten, und darum mit Ketten gefesselt wurden).
Oben auf dem Würfel, neben der Maschine, reckte sich stumm wie aus Erz gegossen jener, den wir den Wohltäter nennen. Sein Gesicht war von unten nicht zu erkennen, man sah nur seine strengen, majestätischen, quadratischen Umrisse. Aber die Hände... Sie erinnerten an Hände, wie man sie bisweilen auf Photographien sieht; weil sie der Kamera zu nahe sind, werden sie riesig und verdecken alles andere. Diese schweren Hände, die noch müßig auf den Knien ruhten, waren wie Stein, die Knie konnten kaum ihr Gewicht tragen... Plötzlich hob sich die eine ganz langsam — eine gemessene, strenge Geste —; der gehobenen Hand gehorchend, löste sich eine Nummer von den Tribünen und schritt zu dem Würfel. Ein Staatsdichter, dem das Glück beschieden war, den Feiertag mit seinen Versen zu weihen. Der göttliche, eherne Rhythmus dröhnte über die Tribünen hin und über jenen Narren mit den gläsernen Augen, der dort auf den Stufen stand und die logischen Folgen seiner Wahnsinnstat erwartete... Feuersbrunst. In den Jamben erzittern die Häuser, sprühen als flüssiges Gold empor, stürzen donnernd zusammen. Die grünen Bäume krümmen sich, sinken, das Harz fließt — und schon sind sie schwarze, verkohlte Skelette. Und da erschien Prometheus (damit sind natürlich wir gemeint):
Und zwang das Feuer in Maschin' und Stahl, das Chaos in die Fesseln des Gesetzes.
Alles war neu, stählern: die Sonne war Stahl, die Bäume, die Menschen. Plötzlich kam ein Wahnsinniger und »befreite das Feuer von seiner Kette« — und wieder wird alles zugrunde gehen...
Leider habe ich ein schlechtes Gedächtnis für Verse, aber an diesen erinnere ich mich noch: eine lehrreichere und schönere Metapher kann es kaum geben. Wieder eine langsame, strenge Bewegung, und ein zweiter Dichter stand auf den Stufen des Würfels. Ich wäre beinahe von meinem Sitz aufgesprungen — war das ein Spuk? Nein, er war es, mein Freund mit den wulstigen Lippen... Warum hat er nichts davon verraten, dass ihm die große Ehre... Seine Lippen zuckten, sie waren aschfahl. Ich begriff: vor dem Wohltäter, vor den Beschützern zu stehen, das ging fast über die Kraft, dennoch, wie konnte man sich nur so erregen...
Schneidende, rasche Trochäen, messerscharf. Beilhiebe. Sie kündeten von einem unerhörten Verbrechen, von gotteslästerlichen Versen, in denen der Wohltäter mit Namen belegt wird, wie... Nein, ich bringe es nicht über mich, die Worte zu wiederholen.
R-13 war totenbleich; mit niedergeschlagenen Augen (ich hätte nicht vermutet, dass er so schüchtern ist) stieg er die Stufen hinab und setzte sich auf seinen Platz. Eine halbe Sekunde lang sah ich ein Gesicht neben ihm — ein scharf umrissenes schwarzes Dreieck —, und im gleichen Augenblick war es wie weggewischt: meine Augen, Tausende von Augen, waren auf die Maschine dort oben gerichtet. Die übermenschliche Hand machte eine dritte Bewegung. In einem unsichtbaren Wind schwankend, stieg der Verbrecher hinauf, eine Stufe, noch eine — ein Schritt, der letzte seines Lebens — und er lag, das Gesicht zum Himmel gekehrt, den Kopf zurückgeworfen, auf seinem letzten Lager. Schwer, ehern wie das Schicksal, schritt der Wohltäter um die Maschine herum, legte die riesige Hand auf den Hebel... Totenstille. Aller Augen hingen an dieser Hand. Welch feurig glühender Sturm, welch innerer Aufruhr — das Werkzeug, die Resultate von 100.000 Volt zu sein! Welch großes Los! Eine unendliche Sekunde. Die Hand hatte den Strom eingeschaltet und sank herab. Die unerträglich helle Schneide des Strahls blitzte auf — ein Zittern, ein kaum vernehmliches Geräusch in den Röhren der Maschine. Der ausgestreckte Körper war in eine dünne, leuchtende Rauchwolke gehüllt — und da zerschmolz er vor unseren Augen, zerfloss, löste sich mit erschreckender Schnelligkeit auf. Nichts blieb von ihm als eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers, das noch eben rot im Herzen pulsierte... All das war höchst einfach, jedem von uns vertraut. Es war nichts weiter als die Dissoziation der Materie, die Spaltung der Atome des menschlichen Körpers. Dennoch war es jedes Mal von neuem ein Wunder, ein Zeichen der übermenschlichen Macht des Wohltäters. Dort oben, vor Ihm, standen zehn weibliche Nummern mit glühenden Wangen und vor Erregung halbgeöffneten Lippen. Die Blumen in ihren Händen schwankten sacht im Wind. (Diese Blumen stammten natürlich aus dem Botanischen Museum. Ich kann an Blumen nichts Schönes finden, wie auch an allen anderen Dingen der unzivilisierten Welt, die wir längst hinter die Grüne Mauer verbannt haben. Schön ist nur das Vernünftige und Nützliche: Maschine, Stiefel, Formeln, Nahrung usw.)
Nach altem Brauch schmückten diese zehn Frauen die noch nasse Uniform des Wohltäters mit Blumen. Mit dem majestätischen Schritt eines Oberpriesters stieg Er langsam die Stufen herab, ging langsam an den Tribünen vorbei — die Frauen streckten Ihm die Arme wie zarte weiße Zweige entgegen, donnernde Hochrufe, ein Sturm aus Millionen von Kehlen. Dann die gleichen Rufe für die Beschützer, die irgendwo unsichtbar in den Reihen sitzen.
Wer weiß, vielleicht hat die Phantasie der Menschen von einst unsere Beschützer vorausgeahnt, als sie die wohlwollend-strengen Schutzengel schuf, die jedem Menschen von seiner Geburt an zugesellt waren. Etwas von der alten Religion, etwas Reinigendes, wie Sturm und Gewitter, war in der ganzen Feier spürbar. Ihr, die ihr diese Zeilen lesen werdet, kennt ihr solche Augenblicke? Ihr tut mir leid, wenn ihr sie noch nicht erlebt habt...
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