Kitabı oku: «Schauderwelsch», sayfa 6

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Sie schwieg, und er ergriff ihre Hand. Nach einer Pause fragte er: „Weshalb denn wirklicher Retter?“ Sie hatte, hörte er dann, schon einmal einen Verehrer, einen Angler, der sie wohl aufrichtig liebte, aber ohne jedes Ergebnis. Daraufhin stellte sich heraus – sie blieb hier etwas allgemein – dass der Angler bei seinem Alter gemogelt hatte, denn er war schon 32. John griff nach ihrer Hand. Er merkte, dass er immer noch seine Bikerhandschuhe trug und zog sie aus. „Und wo ist deine Schwester?“ Er folgte ihrem Blick in Richtung des Kaninchenstalls.

„Melusine lebt in der Kiste.“ Die alte Frau hielt seine Hand und drückte sie leicht. Ansonsten geschah nichts. „Du musst mich lieben“, hauchte sie. John fühlte ihre raue und schrumpelige Haut und blickte auf ihre weißen dünnen Haare. So konnte das nichts werden! Hier musste die Fantasie über die schlechte Wirklichkeit siegen. Er konzentrierte sich auf die Erinnerung, und stellte sich den Augenblick vor, als sie zu ihm auf das Motorrad gestiegen war, wie hatte sie da ausgesehen? Zugleich küsste er die alte Frau auf die Stirn und bemerkte etwas wie eine Bewegung in ihrer Hand. Er sah genauer hin: Die Hand schien größer zu werden, fülliger, die Haut straffte sich und hellte auf, dunkle Flecken verschwanden und die herausgetretenen Adern waren nicht mehr zu sehen, die ganze alte Frau vollzog in Windeseile eine Verwandlung, sie wurde jünger und jünger, ihr Oberkörper richtete sich auf, sie wuchs, ihre weißen Haare erblondeten, John blickte auf spektakuläre Beine. Als sie ihn anlächelte, hätte er um ein Haar erneut das Bewusstsein verloren. So schön war sie.

Sie lachte und forderte ihn auf, zu warten, sie wolle ihren Rucksack ablegen. Ihre Augen hinter der spiegelnden Sonnenbrille stellte er sich bernsteinfarben vor. Bald würde er ihr ganzes Gesicht zu sehen bekommen, und zwar unverdeckt.

Sie war zwischen dichten Feuerdorn- und Sanddornsträuchern verschwunden. Ihn wunderte, dass nirgends ein Haus zu sehen war, denn er befand sich in einem wunderschönen, aber zugleich fremdartigen Garten. Auf der Rasenfläche vor sich sah er eine Sonnenuhr, davor lud eine Buchsbaumbank täuschend zum Sitzen ein. Von dem untersten Ast eines Walnussbaumes hingen gebundene Sträuße von Kräutern zum Trocknen an der Luft. Er setzte sich vor ein Beet, das mit Lavendel eingefasst war, der leicht duftete. Als guter Koch erkannte er in dem Beet sogleich Oregano, Salbei und Bohnenkraut. Nach einigen Augenblicken wurde das frische Zitronenaroma in seiner Nase durch einen bekannten, würzigen Geruch unterlegt – dies musste eine besonderer Thymian sein. In der linken Hälfte des Beetes sah er purpurrote und die übliche Pfefferminze, als er sich leicht vorneigte, spürte er den typischen Pfefferminzduft. Sein Interesse war geweckt, er richtete sich wieder auf, schloss die Lider und folgte seiner Nase in die überraschenden Geruchslandschaften. In den Nachbarbeeten erkannte er Koriander, Knoblauch, Fenchel, Basilikum, Estragon und Dill. Jetzt müsste er in der Küche stehen: Er würde einen unabwendbaren Liebesbeweis komponieren. Sie würde ja bald wiederkommen.

Wenn sie hier lebte, musste es eine Unterkunft geben, und keine Wohnung ohne Küche! Ihn irritierte, dass in einem anderen Beet Bärlauch und Maiglöckchen durcheinander standen, wie in der Giftecke eines botanischen Gartens. Doch da legte sich schon ihre zarte Hand auf seine Schulter, sie lächelte – noch immer mit Sonnenbrille: „Und jetzt meine Schwester!“ Zuerst war ihm unklar, was sie wollte, er fragte nach, ob Melusine nicht einen eigenen Liebhaber bräuchte. „Fanferlüsch ist nicht nur launenhaft, sie ist auch ungenau und schlampig. Ob wir zwei junge Männer benötigen oder ob einer reicht, ist unklar. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen, wenn du dir das liebesmäßig zutraust.“

John holte tief Luft und ging in sich, um langsam, aber voller Überzeugung zu sagen: „Ich glaube, ich kann euch beide lieben, ich bin sehr liebesstark.“

Nadja streichelte über seine Wange, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief: „Wahre Liebe ist grenzenlos und nicht beschränkt auf eine Person.“ Sie gingen zu dem Holzverschlag und sahen durch einen Spalt Melusine in grauen Kleidern in einem Sessel sitzen, wie in einer Puppenstube. Als sie sich beobachtet fühlte, grüßte sie, erhob sich und kam zu dem Spalt zwischen den Brettern. Sie erschien genau so uralt wie ihre Schwester noch vor wenigen Augenblicken. Offensichtlich war sie über die Ereignisse im Bilde und hatte bereits ihre erlöste Schwester gesehen. Sie sprach direkt John an: „Du kannst mir einen Finger durch den Spalt stecken, damit ich ihn berühre.“

Übermütig antwortete dieser: „Das ist ja wie bei Hänsel und Gretel – und dabei spielen wir doch in einem Feen-Märchen.“

„Feen haben nichts gegen Volksmärchen“, wandte Nadja ein, „sie finden sie nur nicht immer lustig. Und gegen die schlechten sind sie gefeit. Doch wir sollten Melusine aus ihrer Kiste holen, dann wird alles einfacher werden.“ Sie öffnete eine Klappe und holte ihre winzige Schwester aus dem Verschlag.

John überlegte sich, wie er es am besten anstellen sollte; er musste nur auf die faszinierende Nadja sehen und sich einen ähnlichen Wandlungsprozess für Melusine vorstellen, vielleicht reichte das. Er wurde durch Nadja in seinen Gedanken unterbrochen: „Bei Melusine solltest du dir besondere Mühe geben, denn sie muss nicht nur verjüngt, sondern auch entzwergt werden. Die Sache steht also etwas komplizierter als bei mir.“

Er kniff die Augen zusammen und versuchte eine starke Vorstellung von Liebe herzustellen. Vom See her spürte er einen kalten Windhauch, das Schilf und der See verschwammen, als wären sie eingenebelt. Der Garten um ihn herum schien sich zu dehnen. Auf Melusine blickend stellte er fest, dass sie sich mit hoher Geschwindigkeit verjüngte und verschönerte – und immer größer wurde. Gleichzeitig schien sich indes mit seinem Körper auch etwas zu verändern. Er blickte Nadja an, um genau zu sein, er sah an ihr hoch, an ihren Beinen, die jetzt ins Unermessliche verlängert schienen. Mit der Verjüngung hatte es geklappt, nicht aber mit der Entzwergung.

„Leider ist das in Teilen danebengegangen“, hörte er Nadja von weit oben, „wir versuchen es noch einmal, indem wir uns an den Händen halten. “ Sie ging in die Knie und sie hielten sich zu dritt ihre Hände. Dem sprachlosen John fiel auch nichts Besseres ein, er schloss die Augen und versuchte kraft seines Willens erneut einen Liebesstrahl herzustellen. Er dachte an die tausendschöne große Nadja und an die wunderschöne kleine Melusine. Es wurde ihm schwarz vor Augen, um sie herum schien die Erde zu beben, als er die Augen öffnete, schaukelte der See und die Bäume wurden riesig groß. Nadja und Melusine standen vor ihm, gleich groß, ein entzückendes Paar, zum Verwechseln ähnlich. Ebenso gut hätte sich Nadja einfach verdoppeln können. Er wusste auf Anhieb nicht, wer nun Nadja und wer Melusine war, und musste sich erinnern, wo noch vor wenigen Augenblicken jede gestanden hatte. Dann irritierte ihn im Augenwinkel der Baum zu seiner Linken. Beim genauen Hinschauen war es gar kein Baum, vielmehr ein riesiger Lavendel-Stängel. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Sie waren zwar gleich groß, aber alle verzwergt.

Nadja – oder war es Melusine? – hatte es auch bemerkt: „So ein Pech, es hat wieder nicht geklappt.“ Dann sah sie ihm aufmerksam ins Gesicht: „Wie siehst du denn aus?“

Wenn sich seine Gefühle in seinem Gesicht spiegelten, musste sie das blanke Entsetzen wahrnehmen. Sie näherte langsam ihre roten Lippen seinem Gesicht und gab ihm einen Kuss. Einen Kuss. Der ging ihm so durch und durch, dass Lavendel und Garten und Schilf und See und Himmel verschwanden und alles wurde leicht.

In diese Leichtigkeit hinein hörte er die Stimme von Melusine oder Nadja: „Uns ist wahrscheinlich ein Fehler unterlaufen. Wir müssen uns nicht nur an den Händen halten, sondern sollten uns zugleich mit den Knien berühren.“ Und schon fühlte er sich bei beiden Händen gefasst und in die Hocke gezogen. Als er die Knie der beiden Feen berührte, ging es durch ihn wie ein elektrischer Schlag. Ja, er konnte, er schaffte es. Er liebte beide zugleich, und der Gedanke war kaum gedacht, als er ein schmatzendes Geräusch und dann ein Krachen vernahm, der Garten verfinsterte sich und er hatte das Gefühl, auf Pudding zu stehen. Als dann die Welt zurückkehrte, merkte er sogleich an dem Lavendel, dass alles war, wie es gehörte. Die Formate stimmten und Nadja und Melusine stimmten in ein glockenhelles Gelächter ein.

Melusine nahm seine Hand und führte ihn durch den Garten hindurch zum Ufer des Sees, vorbei an Schafgarbe und Aloe Vera, an Lupinen und großen Fingerhüten, an Rittersporn und Eisenhut. In fleischigem Blattwerk, das er nicht kannte, torkelten Insekten und platzten volle Knospen. Sie setzten sich am Ufer nieder, sahen auf Wasserschierling und Seerosen, er war benommen von einem berauschenden fremden Duft.

„Lass uns schwimmen“, sagte Melusine – oder war es doch Nadja – und begann langsam sich zu entkleiden. Er wollte gerade sein Hemd ausziehen, als er hinter sich eine Bewegung spürte: Vor dem Rosenbusch stand Nadja und winkte ihm lächelnd zu. John wollte aufstehen und zu ihr gehen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, als er im Wasser Melusines oder Nadjas Spiegelbild sah. Sie war nackt, lächelte und sprang – oder besser: Sie warf ihren Körper ins Wasser. Fast ohne Spritzer tauchte sie in Johns Spiegelbild, das für einen Moment zerriss. Er vermochte nicht, ihr zu folgen, und er stand nicht auf. Es war, als würde er sich selbst zuschauen, wie er handlungsunfähig und verzückt zwischen zwei so schönen Frauen am Seeufer saß. Eine sanfte Müdigkeit kam über ihn, er sank zurück und fiel in einen tiefen Schlaf, träumend von einem wunderschönen paradiesischen Garten, in dem die beiden Feen umhergingen. Sie sammelten Kräuter.

*

Im toten Winkel

Er blieb stehen und zog langsam an dem Reißverschluss seiner Hose. Ein paar Meter vor sich: der See, der Holzsteg. Aber das war nicht wichtig. Obwohl alle sechs Männer an einem Seeufer umgebracht worden waren. Zuerst dachte er, das hätte mit Wasser zu tun. Hatte es vielleicht, indirekt. Es gab zu viele Seen in der Gegend. Er hatte sich auch den Kopf darüber zerbrochen, dass alle Opfer Bauern waren. Doch hier lebte fast jeder von der Landwirtschaft, wenn er nicht gerade Handwerker war. Aus dieser Ecke war kein Motiv zu holen.

Hinter ihm fiel das Land ab zum See, wie bei vielen Seen der Region. Oben standen die Häuser mit den Terrassen und Gärten. Würde man über das Land und den See fliegen, dann sähen die Gärten von oben wie lange Handtücher aus, die nach unten ausfransten. Sie gingen über in Wiesen, die sich bis zu den Büschen und Weiden am Ufer erstreckten. Im Augenblick wurde oben gefeiert, gedämpfte Musik und fröhliche Stimmen waren zu hören. Hätte er sich jetzt umgedreht, hätte er von der Feier allerdings gar nichts gesehen, sondern nur die satte grüne aufsteigende Wiese. Er nestelte noch immer an seinem Reißverschluss. Er wollte ihn aufziehen, doch er hakte. Er wollte. Eigentlich gab er auf den menschlichen Willen und ähnlichen Firlefanz gar nichts. Die meisten Menschen wurden durch Gefühle und Triebe gesteuert, ob sie sich das nun zugestanden oder lieber sich etwas vormachten. Und die ließen sich berechnen. Je einfacher ein Trieb war, umso leichter war er kalkulierbar.

Seine Kollegen hatten die Tatorte an den Ufern genau untersucht, doch nichts Wesentliches gefunden – bis auf ein paar abgeknickte Äste und niedergetretenes Gras. Da es in diesem Sommer oft und stark regnete, ergaben sich keine verwertbaren Spuren. Der Abteilungsleiter, der sich selbst immer wieder als den großen Empiriker ausgab, stand erst einmal mit leeren Händen da. Dass drei der Seeuferopfer mit offenem Hosenstall gefunden worden waren, führte zunächst nicht weiter. Schnell war geklärt, dass Sex hier keinerlei Rolle gespielt hatte.

Während er zumindest ein wenig freies Spiel bei seinem Reißverschluss gewann, er zog ihn nun abwechselnd hoch und runter, überlegte er, ob er sich nicht auch als Empiriker bezeichnen könne. Schließlich spekulierte er nicht über Motivcocktails. Er hielt sich neben dem Tatort an die menschliche Natur. Die hatte sich bei der Begehung von zwei Tatorten bei ihm gemeldet: Er musste pinkeln. Am liebsten gleich am Tatort. Wie magisch zog dieser ihn an. Er musste sich zwingen, einige Schritte weiterzugehen. Dort war es ihm ein bisschen peinlich, dass er von oben zu sehen war. Und dabei fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Jeder pinkelt gerne da, wo ihn kein anderer sieht. Im toten Winkel. Spontan, ohne langes Nachdenken. Das war die Lösung. Der Mörder hatte auf die Scham, auf ein Gefühl der Peinlichkeit gesetzt. Keiner der Tatorte am See war von oben einsehbar. Alle Morde hatten sich ereignet, als oben gefeiert wurde: Schützen- oder Erntefeste, große Jubiläen, bei denen jeweils nicht nur die Dorfbewohner, sondern auch Gäste aus den Nachbardörfern und sogar Touristen aus der Stadt zu Besuch waren. Und bei allen Feiern hier auf dem Lande gab es eine hohe Gewissheit: Es wurde gerne und viel getrunken. Auf diese beiden Faktoren musste der Mörder gesetzt haben, Schamgefühl und natürlichen Drang. Auch wenn viele Menschen eine Feier besuchten, konnte er sicher voraussagen, an welchem Ort er seinen Mann im Laufe des Abends treffen würde, und zwar ganz alleine. Dass oben fast immer ein paar Toilettenhäuschen aufgestellt waren, tat nichts zur Sache. Die meisten Männer erledigten sie lieber unter freiem Himmel.

Endlich bekam er seinen Reißverschluss frei. Das leise knackende Geräusch der Waffe, die in den Büschen hinter ihm entsichert wurde, hörte er nicht. Doch er wusste, es musste da sein. Er drehte sich nicht um. Er machte sich nicht klein. Außerhalb des Schattens der Bäume stehend, musste er gut zu sehen sein. Er hielt inne und sagte laut und deutlich über die Schulter nach hinten: „Guten Abend!“

Eine tiefe Stimme antwortete ihm: „Nun begegnen wir uns endlich, Sie schnüffeln ja auf jedem Fest hinter mir her.“ Die Stimme kam ihm bekannt vor, ohne dass er sie gleich zuordnen konnte.

Er war kein Mann rhetorischer Umwege: „Wollen Sie mich umbringen?“

Er hörte, wie der Mann aus dem Gebüsch hervortrat und sich langsam näherte: „Persönlich finde ich Sie nicht unsympathisch. Sehen Sie, es ist eigentlich Ihr Pech, dass Sie ausgerechnet mir in die Quere kommen. Aber nun pischern Sie mal in aller Ruhe gegen die Sträucher, sehen Sie ruhig noch einmal auf den See – solange vertrete ich mir hier die Beine.“

Sich umzudrehen wagte er nicht. Er spürte seine Rückenmuskeln und bewegte leicht seine Schultern. Er sog den Holunderduft tief ein – und schloss die Augen. Ein Schuss zerriss die Stille, sein Echo rollte über den See. Für einen Augenblick stand er unbeweglich da. Dann drehte er sich sehr vorsichtig um. Zuerst nur mit dem Oberkörper. Dann auch mit den Beinen. Einige Meter entfernt sah er sein Gegenüber, einen großen stattlichen Mann mit verwischtem Gesicht und schwarzem Hut. Langsam begann der Hut sich vorwärts zu neigen. Der große Körper kippte wie in Zeitlupe vornüber und fiel ins Gras, genau aufs Gesicht. Als er sich zu ihm hinunterbeugte, drehte sich der Hut ein wenig zur Seite: „Aber Sie hatten doch keine Waffe!“

Von allen Seiten kamen nun Männer aus Büschen und Hecken, einige mit vermummten Gesichtern und mit Gewehren in den Händen. Der Abteilungsleiter trug einen modischen Trenchcoat. Ihm wendete er sich zu: „Sie haben mit Ihrem Zugriff ja lange gewartet. Unser Gespräch haben Sie doch über Mikro mitgehört, das Geständnis war gleich da. Mir wurde schon ganz mulmig.“

Der Abteilungsleiter holte einen Kaugummi aus der Tasche und grinste: „Sie sind zu emotional, lieber Kollege. Wir hatten ihn die ganze Zeit im Infrarot-Visier von drei Scharfschützen. Mit jeder Sekunde stieg für uns die Sicherheit.“

„Genau das Gefühl hatte ich aber nicht.“

„Sie sehen das falsch, mit jedem Moment wurde für uns sicherer, dass er der gesuchte Mörder ist.“

*

Sardischer Cocktail

Er wusste nicht, was der elegante weiße Rucksack enthielt. Jedenfalls sollte er ihn schon einmal mitnehmen, weil sie ohnehin gleich nachkäme. Sie hatte noch irgendetwas zu erledigen, auf der Post – oder so. Behutsam stellte er ihn auf den Barhocker neben sich und machte eine schnelle Handbewegung über dem Tresen, als wollte er einen leichten Ärger wegwischen. Der Geruch von frischem Kaffee kitzelte ihm angenehm in der Nase. Am Eingang der Bar Centrale war er freundlich, aber bestimmt von einigen breitschultrigen Männern angesprochen worden: Ob sie kurz seine Lederjacke abklopfen dürften, ob dies sein Rucksack wäre. Ja, das sei sein Rucksack, hatte er behauptet, ohne weiter nachzudenken, während gleichzeitig der eine Sicherheitsmann eine flüchtige Leibesvisitation mehr angedeutet als durchgeführt und ihm der andere ein plastikverschweißtes Schriftstück vor die Augen gehalten hatte, auf dem er im Augenblick nur die Worte Security und Securité hatte entschlüsseln können.

Der Barkeeper bestreute einige Crostini mit gehackter Petersilie und schob sie ihm mit Pfeffer und Salz herüber. Ein ritterliches Gefühl stieg in ihm auf. Es gehörte sich nicht, einen ihm anvertrauten Rucksack durchsuchen zu lassen. Dabei lag es auf der Hand, dass dieser schicke Cityrucksack eher zu einer Frau als zu einem Mann mit Motorradjacke gehörte: Sein wasserdichter Biker-Sack mit dem Alpen-Cross-Sticker etwa, den er im Clubhotel zurückgelassen hatte, sah völlig anders aus, er war dunkler, robuster, hatte viel mehr Stauraum und war nicht vom Aussehen her mit einem Kleidungsstück zu verwechseln. Vom Gewicht her gab es allerdings auch bei diesem Designerteil über seine Funktion keinerlei Zweifel. Er fand ihn erstaunlich schwer, mochte sich darüber jedoch keine weiteren Gedanken machen, denn die mit Olivenöl bestrichenen und mit Mozzarella belegten Baguette-Scheiben schmeckten ausgezeichnet. Dazu bestellte er sich einen Averna Shakerato mit Eiswürfeln. Mit Crushed Ice wollte er ihn jetzt nicht verwässern lassen. Dann hätte er sich wie die meisten deutschen und englischen Touristen auch ein Bier bestellen können.

Er sah zu, wie der Bartender mit sicheren schnellen Griffen Eiswürfel in ein Aperitifglas gab, Vermouth und Cynar auf ihnen verrührte und mit Orange abspritzte. Er hantierte hinter einem Wald verschiedenster Flaschen, bunten Sirup- , hohen Prosecco- und Vermouth-Flaschen, Martini und Cinzano, gedrungenen Wodka- und Gin-Flaschen, kantigem Amaretto, kleinen Avernas und Fernets, langhalsigem Grappa. Mit dem Markennamen Serner konnte er nichts anfangen. Es roch nach Apfelsine, als ihm der Cocktail auf die Glastheke gestellt wurde.

„Heute kommt der Ex wohl wieder“, knurrte er wenig begeistert und nickte in Richtung Eingang, wo im Halbdunkel die Security-Leute oder Bodygards standen.

Carlo, der Barmann, hatte ihm die Geschichte in verschiedenen Versionen erzählt, barock und ausschweifend, und im Zusammenhang natürlich: „Du darfst nichts isoliert sehen, Mann, dann wird es falsch.“ Der Zusammenhang war gerne die Geschichte Sardiniens, und das konnte dauern. Dann nahm er den Zustand mit Erleichterung zur Kenntnis, dass die Bar gut besucht war und Carlo alle Hände voll zu tun hatte. Früher oder später musste eine Unterbrechung kommen, ein Intermezzo. Den guten Besuch hatte er zu anderen Zeitpunkten, beim Warten auf die Cocktails, auch schon verflucht.

Dieser Ex war nun auch außerhalb italienischer Verhältnisse kein Unbekannter. Mit Zeitungen und privaten Fernsehsendern hatte er ein großes Vermögen angehäuft und war mit dieser Starthilfe zum führenden Politiker aufgestiegen. Sein Erfolg war ihm überraschend lange treu geblieben. Bei der letzten Wahl musste er staunend zur Kenntnis nehmen, dass ihm zum zweiten Mal politisch die Mehrheit abhanden gekommen war. Auf der steten Suche nach lukrativen Investitionsmöglichkeiten war ihm die Idee gekommen, zwischen Olbia und der Costa Smeralda eine riesige Feriensiedlung für Tausende von Touristen zu errichten. Diese Idee polarisierte die ansässige Bevölkerung: Einige wenige sahen die Chance auf kurzfristig verfügbare Arbeitsplätze, die meisten befürchteten die architektonische Verschandelung der Küste mit der Folge abnehmender Touristenströme.

Carlo machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, er trug es auf der Zunge: „Heute Abend muss ich ihm wahrscheinlich wieder einen Bellini servieren! Leider kannst du am Tresen nicht streiken.“ Er zeigte auf den weißen Rucksack: „Soll ich diesen edlen Sac à Dos nicht an die Garderobe hängen oder hinter den Tresen nehmen?“ Carlo, der Barmann, den er schon im Urlaub vor zwei Jahren kennengelernt hatte, sprach Französisch, Deutsch und Englisch. Genau in dieser Reihenfolge – unter dem Gesichtspunkt der Qualität gesehen. Dankend winkte er ab und dachte an Isabella, die ihm so einiges durcheinandergebracht hatte. Seinen Tagesablauf, seine Gefühle, seine Gedanken. Und dabei wusste er noch immer nicht so ganz genau, wie ihr Gesicht eigentlich aussah, denn sie trug eine spiegelnde Sonnenbrille und hatte die meiste Zeit diesen roten Seidenschal gegen den Fahrtwind vor dem Mund. Verstecken musste sie den weiß Gott nicht. Von ihren verlockenden Lippen konnte nur Gutes kommen. Über kurz oder lang würde er ihr ganzes unverdecktes und schönes Gesicht sehen, wenn sie gleich neben ihm säße.

Schließlich lag es nicht an ihr, dass ihre erste Begegnung eher tastend und fühlend verlief, dass die Gespräche über die Schulter schreiend gegen den Fahrtwind geführt wurden. Gleich hinter Orgosolo, dem alten Banditen-Dorf inmitten von Sardinien, hatte sie unter einem durchlöcherten Verkehrsschild am Straßenrand gestanden und gewunken, bis auf ihren Schal und die Sandaletten ganz in Weiß: ihr Käppi, die Bluse und die Hot Pants über ihren braungold schimmernden Beinen. Eine Erscheinung wie im Traum oder im Film. Er hatte sofort gebremst und schon genickt, ehe sie ihre Frage, ob er nach Norden an die Küste führe, formuliert hatte. Auf Englisch und Italienisch hatte sie gefragt, später waren sie dann beim Französischen hängen geblieben.

Er war sich nicht sicher, ob sie nun Italienerin oder Französin war, vielleicht Korsin. Als Isabella hatte sie sich vorgestellt, sehr selbstbewusst, sehr charmant – und dann mit spöttisch geschürzten Lippen hinzugefügt, als wäre sie eine lokale Schutzheilige: Isabella von Orgosolo. An Heiligenlegenden, religiösen Erweckungserlebnissen oder Wunderheilungen hatte das Bergdorf natürlich wenig vorzuweisen. Immerhin wurde die Vergangenheit, die von Blutrachen und der ständigen Auseinandersetzung zwischen Carabinieri und den in die Macchia wegtauchenden Banditen geprägt war, für den Tourismus kommerziell ähnlich gut genutzt wie der Devotionalienhandel in einem gut organisierten Wallfahrtsort. Ob die vielen durchsiebten Verkehrsschilder auf den Zufahrtsstraßen, die offensichtlich als Zielobjekte für Schießübungen gedient hatten, im Rahmen dieser Vermarktung zu sehen waren, blieb ihm ein ungelöstes Geheimnis.

Und dann saß sie auch schon auf seinem Sozius und er konnte es sich nicht verkneifen, hochzuschalten und seine Yamaha kurz auf Zweihundert zu beschleunigen. Sie presste sich mit aller Kraft an seinen Rücken und rief etwas, was wohl langsamer bedeuten sollte, pas trop vite. Ihre Hände spürte er auf seinem Bauch und seinen Rippen, als er langsamer wurde, ihre festen Brüste und ihren Bauch auf seinem Rücken, ihre Wangen zwischen seinen Schulterblättern. Er war mit nacktem Oberkörper und ohne Helm unterwegs.

Nur für den Rundgang durch Orgosolo und den Macchiato in der Bar hatte er sich ein Hemd übergezogen. Er fuhr nicht sehr schnell, also ohne großes Risiko, und war auch schon so braun, dass er die Sonne nicht fürchtete. Am Morgen war er in seinem Touristik-Club gestartet. Vor den anderen Touristen, den Animations-Programmen und vor allem vor einem Mädchen aus Leipzig namens Birgit wollte er einmal einen Tag Ruhe haben. Er war ihr am zweiten Abend bei deutlich zu vielen Cocktails etwas näher gekommen. Seinem Prinzip war er dabei untreu geworden, sich bei jeder neuen Bekanntschaft zu überlegen, wie er sie sich wieder vom Halse schaffen könnte. Also war er zu einer Motorradtour gestartet, weg aus dem Club, weg von der Küste und ihren Touristen, ins Landesinnere, ins echte ursprüngliche Sardinien. Er war überrascht über die hohen Berge, darüber, dass alles braun und verdörrt und schwarz war. Manchmal traf er bei seiner stundenlangen Fahrt durch das gebirgige Innere der Insel auf einen Schäfer mit seiner Herde und überlegte, wo die Tiere etwas Grünes zum Fressen finden sollten. Ihm fielen die Erzählungen seines Barkeepers in Olbia über die traditionelle kämpferische Konkurrenz zwischen Hirten und Bauern ein. Beruhigenderweise wurden die Touristen an den Küsten davon nicht in Mitleidenschaft gezogen. Einige Male sah er rechts und links der Straße Feuer in vertrockneten Wiesen und Hecken. Als er eine Feuerwand sah, die quer über die Straße stand, hatte er sich seine Lederjacke und seinen Helm wieder angezogen, um sie mit hohem Tempo zu durchfahren. Dies war auf der Hinfahrt gewesen, dies war die Zeit, bevor jener schöne langbeinige Engel zugestiegen war, den er dann so sanft in seinem Rücken spürte, die Zeit vor Isabella.

Die Eiswürfel in seinem Cocktailglas erinnerten ihn an die Berge bei Nuoro während der Rückfahrt nach Norden, der durch das Barlicht rot leuchtende Shakerato hatte die Farbe der allmählich untergehende Sonne kurz vor Olbia. Er war längere Zeit genau in sie hineingefahren, seine Augen waren geblendet – wie sein Verstand isabellen geblendet war. Als die Straße abrupt in einen Tunnel führte, in dem es keinerlei Licht gab, hatte er zuerst einen großen Schrecken bekommen. Er hatte gefürchtet, gegen die Wand zu fahren und hielt für einen Augenblick mit aller Kraft den Lenker fest, es blieb keine Zeit, das Licht einzuschalten. Der Tunnel war voller Motorenlärm, Echos und ursprüngliche Geräusche waren ununterscheidbar. Zum Bremsen war er viel zu schnell, sehen konnte er so gut wie nichts. Er fühlte, wie sich ihr Körper anspannte, als wolle sie Schutz von hinten geben. Da schaltete ein Auto weit vor ihm sein Licht an und er konnte sich an den roten Rücklichtern orientieren. Sonst wäre er wohl doch gegen die Wand gekommen, da der Tunnel eine leichte Kurve nach links machte.

In der Bar hörte er nun aber keinen Motorenlärm, sondern das Zischen der Espressomaschine, das matschende Sauggeräusch der Saftpresse, das Crunching der Eisportionierer. Sogar der schöne weiße Rucksack schien Geräusche zu machen, als hätte jemand einen Wecker hineingesteckt.

Wo war Isabella? Wie lange wartete er schon? Wo sie nur blieb? Zwei Touristen am unteren Ende der Bar bestellten lachend in fließendem Italienisch und mit unüberhörbarem Akzent einen T.N.T., einen Zombie und die Rechnung – sie diskutierten heftig über apokalyptische Entwicklungen in der Welt. Der Mecklenburger argumentierte für die ökonomische Katastrophe, der Berliner sah die Welt ökologisch kollabieren. Carlo merkte wenig geschäftsfördernd an, die Welt könnte auch an Alkohol zugrunde gehen, als er ihnen die Cocktails servierte.

Er bestellte bei Carlo einen Italian Pousse Café und beobachtete, wie dieser mit sicheren Griffen die Farben der italienischen Flagge ins Glas zauberte. „Lass deine Antipathien gegen deinen Ex nicht auf meinen Cocktail überspringen, Carlo!“ Nachdem Carlo die Grenadine in ein hohes Shotglas gefüllt hatte, gab er den Orangenlikör behutsam über einen Löffelrücken auf den Grenadinesirup, verrührte Wodka und Crème de Menthe in einem Becher und ließ die grün leuchtende Mischung langsam auf den Orangenlikör fließen: Viva Italia! Grünweißrot lagen die Schichten sauber unterschieden übereinander, Carlo war ein Künstler! Mit einem „Ciaaaaao!“ verabschiedeten sich die beiden deutschen Endzeitvisionäre.

Er hatte gerade die Hälfte der grünen Schicht der italienischen Nationalfarbe in kleinen Schlucken zu sich genommen und spürte versonnen dem Minze-Geschmack nach, als draußen plötzlich ein durchdringendes Quietschen zu hören war, das mit einem ohrenbetäubenden Knall abschloss. Er lief Carlo sofort hinterher. Vor ihnen waren die Sicherheitskräfte aus der Bar schon am Unfallort: Die apokalyptischen deutschen Touristen hatten ihren Porsche etwas zu schnell beschleunigt und waren mit einem großen Fiat der Carabinieri zusammengestoßen, der offenbar das Vorauskommando einer Wagenkolonne bildete. In gebührendem Abstand weiter hinten wurden bei zwei Fahrzeugen weitere Blaulichter aufgesteckt und eingeschaltet, Männer stiegen aus und kamen auf die beiden zusammengeprallten Autos zu. Zwei Carabinieri in Uniform stiegen langsam aus dem einen Unfallwagen, aus dem Porsche waren kräftige Tritte gegen die Wagentür zu hören, die wohl klemmte. Er dachte kurz an Isabella und griff nach der Porschetür, um sie zu öffnen. Zugleich mit seinem Ziehen erfolgte die Detonation, markerschütternd und durchdringend. Er hielt in der Bewegung inne und drehte sich um zur Bar Centrale, die sich in ihre Bestandteile auflöste. Teile des Daches flogen in den Abendhimmel, die Fassade stürzte nach vorne, verharrte einen Moment in der Luft, als bliebe sie stehen – und brach dann in viele Einzelteile auseinander, die auf den gepflasterten Boden des Platzes prasselten. Ob die übrigen Hauswände noch standen, war nicht zu sehen, denn aus dem, was einmal das Innere der Bar gewesen war, wuchs eine Rauchwolke, die sich sehr schnell nach oben und allen Seiten ausbreitete. Ziegel, Steine und andere Gebäudeteile fielen klatschend und klirrend auf den Boden – alle duckten sich um und hinter die Autos.

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