Kitabı oku: «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», sayfa 3

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20. Juli. Zürich – Wien

Sami, mon cher

Der Weizen steht. Ein blendend heller Morgen. Enge Täler, obwohl wir durch das Mittelland fahren. Dazwischen Ausblick auf die kleinräumige Landschaft.

Du hast auf die Bahnhofsuhr geschaut und den Zug schnell verlassen. Nachdem du mir, ohne die anderen Fahrgäste zu beachten oder zu grüssen, einen Platz gesucht hast. Er ist nicht besser als andere, es geht dir nur darum, ihn auszusuchen. Eine Art letzte Liebestat, Fürsorge statt Worte, die äussern könnten, was du fühlst. Ich sage auch nicht, was ich fühle. Du hast mir beigebracht, über Gefühle nicht zu sprechen, nein, es hat sich mir von selbst beigebracht, da du damit nicht zu erreichen bist. Du würdest nichts fühlen, hast du gesagt, du wüsstest nicht, wie das geht.

Sex. Und Einsamkeit verhindern. Nur darum geht es. Ich wundere mich über die Selbstverständlichkeit, mit der du das sagst.

Du hast den Zug schnell verlassen. Nachdem du leise, aber fordernd gesagt hast: «Du sagst mir, wo du bist! Jeden Tag! Vergisst du es nicht?»

Deine Bewegungen waren hektisch. Unbeholfen.

Dabei bist du sonst so gelassen. Ich liebe deinen lockeren Gang, deinen schmalen Körper. Wenn du läufst, erinnerst du mich an einen jungen Hund, der sich durch frisch gefallenen Schnee kugelt – alles an dir springt.

Bist du deshalb so unsicher, weil man dir die Liebe, die du für mich empfindest, ansehen kann?

Du liebst mich. Du denkst unentwegt an mich, an dich, an uns. Und obwohl es dir nicht gefällt, kannst du es nicht ändern. Ich weiss um deine Furcht, ich könnte dich betrügen und verlassen, ich weiss um deine Hoffnung auf mein Einlenken: Ich will dich. Will dich um jeden Preis. Ich akzeptiere deine Bedingungen.

Ein Stück von mir bleibt im Bahnhof, geht mit dir die Südtreppe hinunter in die Passage, in der die Geschäfte gerade öffnen, die Pendler hastig frühstücken und gehetzt aufbrechen, die Nordtreppe hinauf in das blendende Sonnenlicht, am Restaurant mit dem vergilbten Schweizerkreuz über dem Eingang vorbei – hier unser erster gemeinsamer Kaffee –, du gehst, den Blick vorwärtsgerichtet, um rechtzeitig ausweichen zu können – keine Zeit, keine Energie verschwenden –, du erreichst das braune Gebäude mit den unordentlichen Büros, das der weltweit grössten Rückversicherung gehört – wie du mit stolzer Verachtung zu betonen pflegst. Den Badge bereits in der Hand lächelst du dem Portier freundlich zu, ist er doch ein Mensch, läufst in die Kantine, um ein Rosinenbrötchen zu kaufen, so jedenfalls hast du es erzählt, so jedenfalls geh ich mit dir in Gedanken den Weg.

Warum ein Rosinenbrötchen? Du wüsstest nicht einmal, ob es dir schmeckt, hast du gesagt.

Aber du bist kein herzloser Mensch. Dein Herz schlägt für den Portier, für die Putzfrau, für die Bauarbeiter. Für all diejenigen, die immer noch sind, was du gewesen bist. So jedenfalls stell ich mir das vor. Und doch bist du bereit, jedem, der in deiner Versicherung die Karriereleiter erklommen hat, in den Arsch zu kriechen. Du würdest alles tun, um so zu sein wie sie oder um zu bekommen, was sie bereits besitzen. Wenn ich dir das an den Kopf werfe, dich mit solchen Bemerkungen kränken will, bist du glücklich. Du fühlst dich erkannt. Das erstaunt mich.

Nun bist du an deinem Platz am Fenster angekommen. Im Grossraumbüro, das durch die vielen Trennwände eng und wegen der gestapelten elektronischen Geräte und des Durcheinanders von Kabeln verwahrlost wirkt. Du setzt dich hin. Und lässt die anderen deine Gleichgültigkeit spüren. Wenn dir Menschen oder eine Sache etwas bedeuten, trägst du Verachtung zur Schau. Machst dich unsichtbar, ziehst den Kopf ein und lässt die Ereignisse scheinbar unberührt über dir zusammenschlagen und bist dann doch beleidigt, ja regelrecht empört, wenn man dich übersieht und vergisst.

Oder verstehe ich nicht, was dir etwas bedeutet?

Es ist schwerer für diejenigen, die zurückbleiben. Du verbringst mit diesem Unbehagen deinen gewohnten Alltag. Es gibt kein aufregendes Erlebnis, keinen tröstenden Ausblick auf eine nette Überraschung, für dich ist alles wie bisher, nur: Ich bin nicht mehr da!

Und du verstehst nicht, warum ich diese Reise mache. Du verstehst nicht, warum ich in die Ukraine fahre, an den Ort, von dem die schwarze Hannah und der Jankel Yuter aufgebrochen sind. Du verstehst nicht, warum ich meine Mutter in Chile nicht mehr aufsuchen will, warum ich dem Inhalt in Paulines Kiste auf den Grund gehen muss.

Und du weisst nicht, was ich in der rosafarbenen Tupperwaredose gefunden hab. Nein. Das kannst du dir nicht einmal vorstellen.

Und du verstehst nicht, warum ich Pauline gehorchen würde, aber niemals dir. Dabei träumst du davon, in den Libanon zurückzukehren, um deine Mutter glücklich zu machen. Ja, du solltest verstehen, dass unser beider Leben von den Wünschen alter Frauen bestimmt sind – alter Frauen, die weit weg sind.

Und du verstehst nicht, warum ich in meinem Alter mit einer Freundin zusammenwohne. Du bist nicht mehr zwanzig – benimmst dich jedoch wie ein Kind, hast du gesagt.

Du verstehst nicht, warum ich als Redakteurin einer anstrengenden und zeitraubenden Arbeit nachgehe, die wenig Geld einbringt und eine ungewisse Zukunft verspricht.

Und du verstehst nicht, warum ich es zulasse, dass Joel zu Diogo zieht. Du verstehst nicht, warum ich die Freundschaft mit Diogo aufrechterhalte, ja sogar für ihn arbeite, du lässt keine Gelegenheit aus, ihn schlecht zu machen, parodierst einen Hahn, hüpfst durch deine Wohnung und krähst seinen Namen: Diogo Pintor Eloy. Was für ein schöner Name! Diogo Pintor Eloy.

Ich hab NUR Freunde. Und du hast NUR Familie. Du wüsstest nicht, wie man das macht mit der Freundschaft, hast du gesagt, deine Geschwister hingegen sind Teil deines Körpers, deine Familie ist alles, hast du gesagt.

Du kannst nicht verstehen, warum der Ort Valparaiso – vielleicht ist es ja nur das Wort – eine solch magische Wirkung auf mich ausübt. Gibt es dort Wohlstand? Arbeit? Sicherheit? Frieden? Ein angenehmes Klima? Hast du wütend gefragt.

Du bist im Lauf deines Lebens ein hervorragender und kluger Beobachter geworden, weil du in allem mit möglichst wenig Aufwand höchste Wirkung erzeugen willst. Und doch verstehst du mich nicht. Stellst dich vor mich hin und hältst mir in endlosen Monologen wahre Strafpredigten und erwartest meine Zustimmung: Ja! Ich werde zur Vernunft kommen.

Meine Reise macht dir Sorgen. Ich werde nicht frieren, Durst oder Hunger leiden. Ich muss keinen Dreck aushalten, keine Insekten, Mäuse und Ratten, mich nicht vor der Gendarmerie verstecken, Schwarzarbeit suchen, stehlen, es drohen weder Erschöpfung, Angst vor Prügel, Vergewaltigung noch Gefängnis und Tod.

Allenfalls eine Flugplanänderung, ein verspäteter Zug, eine Baustelle beim Hotel, ein gestohlener Koffer oder ein Unfall oder eine Krankheit, ja, das kann es geben.

Aber ich hab Angst, dich zu verlieren. Hab Angst, uns zu verlieren.

Ich möchte dich in den Arm nehmen. Und trösten. Deine Haut, die schmeckt wie dunkles Brot. Dein rundes Gesicht. Dein stachliges Haar. Deine kraftvollen und doch so sparsamen Bewegungen.

Unter der Dusche. Haare waschen. Heisses Wasser auf der vor Müdigkeit schmerzenden Haut. Auf den verkrampften Schultern. Weil ich vorhin den Fisch, den du gekauft hast, aufgeschnitten und in seine Einzelteile zerlegt hab. Diese Kleinstbewegungen lösen in den Muskeln einen Krampf aus. Als wollten sie die Unmöglichkeit zeigen, ein Lebewesen in seine Einzelteile zu zerlegen, um es den eigenen Wünschen gemäss neu zusammenzufügen.

Ich unter der Dusche und du auf dem Klo. Du liest Donald Duck und zwischendurch fragst du nach einem Wort: «Was heisst Glückstaler? Was heisst aufsässig?» Das ist aber bereits aus einem Buch über Rosa Luxemburg – die eigentlich Rozalia Luksenburg geheissen und die sich in Zürich aufgehalten hat –, ein Buch, das du durch deine Wohnung trägst, bevor du dich an den Tisch setzt, Kaffee trinkst und mit konzentrierten, aber dennoch weichen Bewegungen meinen Rücken eincremst, meine trockene Haut, die Öle und Cremes aufsaugt wie ein trockener Schwamm das Wasser, die roten Flecken, die jucken, auf denen du deine Finger zärtlich liegen lässt, wie du auch eifrig meine Hände nimmst, aufnimmst, sorgfältig, wie wenn es liegengebliebener Dreck wär, und langsam die knotigen Fingergelenke zu lutschen beginnst. Deine Faszination für meine Mängel. Meine Hässlichkeit. Meinen Makel. Diese Schamlosigkeit angesichts meiner Ausscheidungen. Meiner Gerüche und Geräusche.

Als ich dich nach deinen ersten Erinnerungen gefragt hab, hast du starr geschaut und abgehackt erzählt, eher aufgezählt: festgestampfte Erde, braune Schaumstoffmatratze, Mutters rosafarbenes Kleid mit grünen Blumen, was dich erstaunt hat, weil draussen im Garten die Gräser und Büsche, aber nicht die Blumen grün waren, roter Plastikbecher mit weisser Milch, scharfe Schafsmilch, Glut auf Steinen, blau, violett, orange, und die Flammen, die am geschwärzten Holz lecken, langsam lecken und zucken, waren gelb, wie meine Zunge in dir, hast du gesagt, wie meine Zunge auf dir. An dir. Ich leck dich, bis du verkohlst.

Wir liegen auf der schmalen Couch, eng umschlungen. Ich schaff es nicht abzutauchen. Muss neue Positionen suchen. Noch enger. Noch inniger. Und dann ist es zu heiss. Zu wenig Luft. Mein Körper aufgelöst in deinem. Der Kopf hellwach, aufgeladen, angespannt.

Und du sagst: «Sorge dich nicht. Alles kommt gut.» Ich bekomme einen Lachanfall. Es passiert einfach, und danach meinen Schluckauf. Jedes Mal diesen lästigen Schluckauf.

Unterhalb der Eisenbahntrasse, in der Schlucht, ein schwarzer Fluss. Der Zug hält in einem kleinen Dorf, von dem ich noch nie etwas gehört hab. Bruggen in St. Gallen. Blutfarbene Schindelhäuser. Wein und Kerbel. Überall Pflanzen. Es ist alles so unglaublich verpflanzt.

Früher sind sie gewandert oder auf dem Pferdewagen gefahren. Sie hatten das Wetter auf der Haut und die Gerüche in der Nase. Geräusche haben sich genähert und wieder entfernt. Ich jedoch sitze im klimatisierten Zug. In einer geschlossenen Metallkapsel dringen wir in die Landschaft ein, die Lüftung neutralisiert die Gerüche und die Temperaturen, übernächtigt schaue ich auf den Landschaftsfilm, der vor meinen Augen vorbeiläuft, unberührt, was eine Sehnsucht auslöst, aber nur schwach, mir schiesst der Gedanke durch den Kopf: Fehlende Sinneswahrnehmungen bedeuten den Verlust von Gefühlen und Erinnerungen.

Aber es ist schön. Unzweifelhaft schön. Es würde dir gefallen.

Du liebst die Erinnerung an die Mandelbäume und die Schafe. Und die Blüten. Überall Blüten. Du bräuchtest einen Traktor, um die Felder am Fuss des Bergs Hermon umpflügen zu können. Obwohl ich mittlerweile herausgefunden hab, dass dein Dorf nicht am Fuss des Bergs Hermon, sondern viel weiter im Süden liegt. Du lügst. Und manipulierst. Wie Pauline. Sie hat das dauernd getan. Sagt auch Joel.

Joel. Mein Joel.

Weisst du noch, wie wir uns eine Kinderschar ausgedacht haben? Unsere Kinder. Die du nicht willst. Unsere Kinder, die du aufziehen würdest, wie Pauline es getan hat: Fleissig und erfolgreich müssten sie sein und gut angepasst und dennoch stolz auf ihre Herkunft und Traditionen, all das, was die Umgebung ablehnt und verachtet, hegen und pflegen, AUFRECHTERHALTEN, genau so. Du und Pauline. Ja, es ist dieses Herdfeuer, die langsam leckende und zuckende Flamme, die scharfe Milch im roten Plastikbecher, an die du dich erinnerst. Ich mich jedoch nicht! Und so bist DU aus meiner verlorenen Vergangenheit herausgetreten, so bist DU all das, woran ich mich laut Pauline erinnern soll.

Wir überqueren den Rhein. Bald erreichen wir Bregenz.

Am Horizont, im Dunst, Silhouetten hoher Berge. Davor flaches, fruchtbares Land. Kleine Einfamilienhäuschen. Putzig. Sauber. Geordnet.

Mein Handy meldet, ich sei nun in Österreich. Keine Grenzkontrollen.

Vier junge Frauen vertilgen Berge von Croissants – ihr Vorrat und die Krümel sind unermesslich – und lesen Gratiszeitungen. Wie du. Langsam kauen und Gratiszeitungen lesen. Akribisch. Zeile um Zeile.

Wie du mir fehlst.

Meine Hände sind unruhig. Du magst es nicht. Und bittest mich, damit aufzuhören, an mir selbst herumzufummeln. Warum?

Mein Körper ist dein Körper.

Vergiss. Vergiss mich. Vergiss mich nicht.

Deine Selma

Lieber Diogo

Das Gepäck: Schokolade (Geschenke). Bücher. Ordner. Papiere. Kabel für Elektrogeräte. Laptoptasche. Laptop. Fotokamera. Videokamera. Sonnenbrille. Lesebrille. Agenda. Ausweise. Geldbeutel. Kulturbeutel. Kleider.

Schattenlose Strassen in Hohenems. Auf der Suche nach einem Restaurant: Bin ans Gepäck gebunden – der Koffer rollt schwer und kippt vom Bürgersteig, hängt an einem herausragenden Stein, einer Rille oder steckt in einem Loch –, der Rucksack wie ein klammerndes Affenbaby.

Wie oft trug ich Joel auf dem Rücken.

Nacken und Schultern hart, Hitze auf dem Gesicht, auf der Brust, am Rücken, am Bauch und in der Hose dieses klebrige Gefühl – wie Bettnässen. Vergeblich versuche ich, den Gedanken an frischen Wind, kaltes Bier oder den klimatisierten Zug wegzuschieben.

Und an unsere kühle, dämmrige Wohnung: Pauline hörte Radio und flickte mit ihrer Singer-Maschine alte Küchentücher, alles geflickt, immerzu hat sie alles gestopft und zugenäht und Zigaretten geraucht. Joel trug auch im Wohnzimmer seine Kopfhörer und besetzte während Stunden das Bad.

Ach! Joel!

Ich weiss, du fühlst dich schuldig, weil Joel bei dir ist, was dich glücklich macht, so wahnsinnig glücklich. Aber du hast Angst gehabt – schreist mich wegen Nichtigkeiten an, hörst nicht zu, legst grusslos auf oder läufst weg, ohne zu wissen wohin, läufst einfach weg –, deine Angst, ich rieche sie, ich fühle sie wie meine eigene – du hast Angst gehabt, ich könnte mich umentscheiden, die Reise absagen, die dir so überspannt erscheint, wie dir meine Familie schon immer ein Ärgernis gewesen ist – das kann ich verstehen –, du hast Angst gehabt, ich könnte alles abblasen und sagen: Joel! Bleibt bei mir!

Durst. Mir ist übel. Es fühlt sich unangenehm an. Wie zu laute Musik. Und doch rede ich mir ein, wie schön alles ist, wie aufregend: ein Abenteuer. Ein neues Leben. In Freiheit. Und vollständig auf mich gestellt.

Du und ich. Wir waren Freunde. Erwarteten ein Kind. Und ich hatte nicht den Mut, Pauline zu enttäuschen. Und den Gedanken an ein gemeinsames Leben – du und Pauline unter einem Dach – sprachen wir nicht aus. So undenkbar! So UNMÖGLICH! Ihr hättet euch umgebracht.

Du hattest in meinem Bauch ein Geschenk hinterlassen. Und ich kehrte zu Pauline zurück.

Was für mich das flimmernde Phantom einer alten, verbitterten Frau, ist für dich gelebte Realität einer grossen Familie: essen, trinken, schlafen, reden, lachen, streiten, schreien, seinen Platz kennen, seine Rolle spielen, nicht allein sein, ja, nicht allein sein, das ist wichtig, nicht allein sein, und deine Mutter trägt den Ziegenbraten (Cabrito Assado no Forno) vom Hof deines Cousins, mit Olivenöl (Azeite) aus dem Hain deines Grossonkels und dem Rosmarin (Alecrim) vom Balkon deiner Tante in der Kasserolle, die dein Vater in der Autowerkstatt deines Onkels zusammengeschweisst hat, ins Wohnzimmer, stellt ihn schwer atmend auf den Tisch, auch den mit Pinienkernen (Pinhões) von der Cousine bestückten Reis (Arroz), und keinem der Männer fällt der Schweiss auf, der ihr ins aufgesteckte Haar rinnt. Sie ist die Einzige, die an diesem verfluchten Sonntag etwas tut.

Da ist Paulines offene Marielouise-Wunde ein Dreck dagegen.

Sie zog Marielouise und später mich und Joel allein auf. Nun ist sie tot.

Und Joel bei dir.

Nicht weil wir oder die Umstände es erzwingen. Nein. Weil er es will.

Ich sehe dich vor mir, wie du die Schultern hochziehst, dich innerlich zur Faust ballst, versuchst, dich zu beherrschen, um Joel nicht anzubrüllen, ihn deiner Hilflosigkeit nicht auszusetzen, denn du bist von der Integrität der Kinder, von ihrem Recht auf eine eigene Persönlichkeit überzeugt, und doch bringt dich dieses nervtötende Türschlagen, dieses übelgelaunte Lass-mich-in-Ruhe-Mann und impertinente Hey-mach-mal-Platz, dieses rücksichtslose Warum-zum-Teufel-ist-der-verdammte-Kühlschrank-schon-wiederleer, dieses arrogante Jeder-Lehrer-ist-ein-Volltrottel-Gemotze an deine Grenzen, weil diese schrille Pubertätsoperette deinen Tagesablauf und deine Gewohnheiten stört, und so läufst du Joel hinterher, verunsichert und überbesorgt, um vor seiner verschlossenen Tür seine Lieblingsgerichte herunterzubeten, was dieser, obwohl er den kleinsten Wunsch, der sich in dir regt, das feinste Zucken in deiner Hose, spürt, gerade zur Zeit gar nicht schätzt und dir nicht mal Antwort gibt. Diese Vorstellung wird tagtäglich zu seiner vollsten Zufriedenheit gegeben und noch mehrere Spielzeiten dauern. Und du wirst lernen zu verstehen. Ja, ich auch.

Du bist wie ich.

Wir hätten das gut gemacht mit Joel.

Weisst du, was er zum Abschied unwirsch, ja undeutlich brummte: «Hey Mama. Keep cool. Alles ist gut.» Und dann brach es aus ihm heraus.

Er weinte fast: «Ich bin gerade ein ziemliches Arschloch. Ich scheiss auf euer Verständnis und euren Stolz. Das kotzt mich an. Ich geh euch total auf die Nerven! Das ist die Wahrheit. Warum gebt ihr es nicht einfach zu? Game-over!»

Ich war meiner abwesenden Mutter und meinem unbekannten Vater dankbar für ihre Friedfertigkeit. Für ihre Grosszügigkeit, ihren Unwillen, eine Familie zu gründen, Erwartungen zu hegen und ihren Willen durchzusetzen.

Und Joel mag das auch. Seine Eltern sind Freunde geblieben.

Du. Bär. Deine Fähigkeit, heftig zuzupacken und alle und alles schnell und sicher in deinen Pelz zu wickeln und zu wärmen. Tu das mit Joel. Es ist meine inständige Bitte. Gib es ihm.

Hattest du nie den Wunsch, diese Liebe einer Frau zu geben? Ist unter deinen zahllosen Geliebten keine, die du zu deiner Frau machen willst?

Deine Geliebten. Wer sind sie? Ich würde so gern wissen, wie sie aussehen!

Oder fehlt dir die Freundschaft? Bräuchtest du eine Freundin? Eine Vertraute? Bei der du es endlich wagen würdest, dich entspannt zurückzulehnen? Dich ihren Händen zu überlassen?

Aber du stösst mich weg. Geht dich nichts an, sagst du. Hättest mich ja haben können, wenn es nach mir gegangen wäre, sagst du.

Diogo, ich sehe deine wirren Haare. Die ich liebe. Blond, ja hellblond. Beinah weisses Haar. Und du trommelst auf deine Brust und singst von diesem Gefühl in deinem Herzen, das dir sagt, was es bedeutet, ein Portugiese zu sein. Ein Albinoportugiese mit Kirschaugen. Du liebst deine Eltern, weil sie keine Patrioten sind und dir dennoch beigebracht haben, was es heisst, ein Portugiese zu sein, sagst du und tanzt langsam mit erhobenen Armen, anmutig und für deine Körperfülle erstaunlich virtuos, es geht nicht um dieses Portugiese- oder Nichtportugiese-Sein, nein, die Erinnerungen, die hinter dem Wort lebendig stecken, allein darum geht es, um diese Erinnerungen, die den Titel Portugal tragen, doch dieser Titel ist Zufall, hast du gesagt.

Doch mal ehrlich: Sagst du das Wort Portugal, die Leute horchen auf und sehen in dir, was sie von ihnen unterscheidet. Irgendetwas. Ist ja egal. Ich denke, es spielt keine Rolle, was für Unterschiede, ich denke jedoch, es gibt sie. Für sie. Und für dich.

Es ist die Flucht, die, über dich hereingebrochen, dich vor Wut zappeln oder in Trauer erstarren lässt. Zwischen Gepäckstücke gequetscht bist du in einem kleinen Fiat durch Spanien und Frankreich nach Zürich transportiert worden. Dein Vater hatte den Brief eines Cousins zwischen die gebügelten Hemden in den Koffer gelegt.

Die Fahrt im vollgestopften Fiat durch Spanien und Frankreich, das Mittagessen in einer Raststätte bei Clermont-Ferrand, und du hast Fritten mit Ketchup gegessen und in den angespannten Gesichtern deiner Eltern plötzlich erkannt, es gibt keine Rückkehr. Das nervöse Zucken im rechten Auge deines Vaters und das leichte Wegschauen deiner Mutter, als am Nebentisch die Lastwagenfahrer aus Coimbra zahlten und gingen. Und dein Leben änderte sich: keine Mandelblüten, keine Lämmer im Fluss, keine Grossmutter mit vom Kartoffelschälen verquollenen Händen, keine durch das offene Treppenhaus hallenden Stimmen. Und nie wieder das Meer. Überhitztes Toben im arschkalten Meer. Und sich übergeben vor Lachen, weil alle wissen, arschkalt, das darf man nicht sagen.

Wellen lecken.

Eine halbzerkaute kalte Fritte im Mund.

Keiner fragte dich. Keiner interessierte sich dafür, was du liebtest. Sie taten, was sie tun mussten, und achteten gerade mal darauf, dir den Kopf nicht zu zertreten. Hattest du auf einer Klippe gestanden und stolz auf die Brandung deiner Zukunft geguckt, schleiftest du sie plötzlich hinter dir her und man riss dich in eine grosse Unbekannte, die, obwohl sie vor dir lag, eine nie enden wollende Vergangenheit sein würde: EINES TAGES KEHREN WIR ZURÜCK! UND ES WIRD SEIN WIE FRÜHER! Das ist der Titel für die leere Gegenwart, die du deinen Eltern ewig zum Vorwurf machst. Derweil sie dir alles geben.

Du und deine Eltern!

Ihr räumt mir wegen eurem Glück über Joels Anwesenheit jeden Stein aus dem Weg – wenn ich nur lang genug wegbleibe.

Du nörgelst, weil ich nicht nach Chile fliege, um dem irrlichternden Marielouise-Spuk ein Ende zu bereiten – tu es für Joel, sagst du. Er braucht seine Grossmutter.

Aber wie fühlt es sich an, wenn man in Valparaiso die Calle Matriz entlanggeht, die Tür aufstösst, die Treppe hinaufsteigt und es nicht gelingt, den Finger zu heben und auf die Klingel zu legen? Wenn man auf einem Hotelbett sitzt und nicht in der Lage ist, den Hörer des Telefons in die Hand zu nehmen?

Was sage ich, wenn sie vor mir steht?

Diogo! Verdammt! Was sagst du?

Ich höre deine sprunghafte Argumentation, bildhaft und dramatisch, und dass du erst Ruhe gibst, wenn alle an deinen Lippen hängen und lachen.

Pauline stieg in die Archive des Kantons Thurgau und arbeitete sich durch die Register der Einwanderungsbehörde. Und sie fand fünf Personen, die, aus Zamość gekommen, in Sulgen/ Kradolf – dazu gehört auch der Weiler Donzhausen – geblieben waren. Sie hiessen Edelman und Beerman. Zehn Personen waren aus Sambir eingewandert: Edelman, Beerman, Eberhardt, Lieb, Beck, Landman und Eder. Neun Personen kamen aus Lemberg: Eberhardt, Lieb, Beck, Landman, Lanzman, Eder, Akerman, Gutman.

Die Personen, die Pauline ins Zentrum ihrer Notizen stellte, heissen jedoch Hannah, Jankel, Ossip und Ruth Yuter. Von ihnen ist die Rede, wenn es um die Vergangenheit unserer Familie geht.

Wie lang waren die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, der kleine Ossip und das kranke Ruthchen unterwegs?

Litten sie grosse Not?

Hatten sie das Notwendige dabei?

Als sie am Bodensee ankamen, war vermutlich fast alles aufgebraucht, verkauft, verloren, gestohlen. Kleider auf dem Leib und wenig Essen. Trockene Nudeln und Zwiebeln. Manchmal ein warmes Essen, Kohlsuppe, Hafersuppe, Milchsuppe, Kartoffelsuppe. Vielleicht eine Gurke oder ein Rettich. Ein Ei. Ein noch warmes Ei, das man ausschlürfen konnte. Nährstoffe, die tief in die Zellen eindrangen.

Und manchmal ein gestohlenes oder wildes Tier.

Hatten sie Schächtmesser dabei?

Töteten sie nach dem Gesetz?

Zogen sie entlang der waldigen Berghänge oder durch die bepflanzte Talsohle? Immer in Richtung See?

Es muss schwierig gewesen sein, ein Dorf oder einen Weiler zu meiden, nicht aufzufallen und doch in den Ställen Trockenheit und Wärme zu suchen, im Winter jedenfalls, im Sommer reichte im Schutz der Felsbrocken ein stiller Platz im Wald.

Du hast gesagt, bezüglich Migration sei die Frage nach der politischen oder sozialen Gerechtigkeit ausschlaggebend. Nicht die Frage nach der Herkunft oder der Identität, sondern die nach der Gerechtigkeit berühre das wahre Problem.

Diskutierst du solche Fragen mit Joel? Wirst du es ihm beibringen?

Lieber Diogo. Pass auf dich auf. Und auf Joel.

Es steht mir nicht zu. Aber du solltest weniger essen. Du hast zugenommen. Dein Bauch. Das ist nicht gesund. Oder ist es dein neues Vaterglück?

Du liebst es zu feiern. Und ich liebe es, dass du es liebst.

Auch dass du Joel liebst.

Manchmal bin ich so leer … Bin leer … Ich denke nicht … Und denke immerzu … Wohin will ich … Was mache ich … Unentwegt denke ich … Und denke doch auch wieder nicht …

Ich würde so gern mit euch in der Küche sitzen.

Deine Selma

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9783038670476
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