Kitabı oku: «Die Erleuchtung der Welt», sayfa 2

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Heidelberg, Januar

Kurfürst Ludwig war krank von der Pilgerfahrt ins Heilige Land nach Schloss Heidelberg zurückgekehrt. Auch die Pilgerreise hatte ihm den Schmerz über den frühen Tod seines Sohnes Ruprecht, der aus der ersten Ehe mit Blanca von England stammte, nicht nehmen können. Blanca selbst war viel zu früh mit nur siebzehn Jahren am Wechselfieber verstorben, und Ludwig hatte Ruprecht als seinen Thronfolger angesehen. Nachdem dieser vor zwei Jahren seiner Mutter ins Grab gefolgt war, hatte Ludwig die Pilgerfahrt unternommen. Zuvor hatte er mit seinem jüngsten Bruder Otto einen Vertrag über gegenseitige Beerbung geschlossen, und für den Fall, sollte er auf der Reise sterben, diesem die Vormundschaft für seine Kinder übertragen. Außerdem hatte Otto stellvertretend während Ludwigs Abwesenheit die Regierungsgeschäfte mit den kurfürstlichen Räten übernommen. Auf Otto war Verlass.

Das Augenlicht des Kurfürsten wurde zusehends schlechter, und das Lesen, das er so liebte, immer schwieriger.

»Ich vermache meine kostbaren Bücher und Handschriften der Universität«, eröffnete Ludwig seiner Frau, »damit das Wissen all jener Gelehrten, die sie geschrieben haben, künftig den Studenten frei zur Verfügung steht und nicht verloren geht.«

Er nahm einen Schluck Wein aus dem silbernen Pokal und bedeutete einem Diener, ihm ein weiteres Stück Fasan auf den Teller zu legen. Matilde nickte zustimmend und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Meister Jorg wünscht, dass du dir die Fortschritte am Langhaus der Heiliggeistkirche ansiehst.«

Ludwig nickte versonnen.

»Ich hoffe, ich erlebe die Fertigstellung noch, es geht mir manches Mal nicht schnell genug voran«, seufzte er. Dann wandte er sich an seine Ratgeber, die mit an der hohen Tafel saßen. »Sigismund will neue Truppen aufstellen …«

»Vater, Vater«, platzte plötzlich seine Tochter Mechthild, die bald ihren neunten Geburtstag feiern würde, aufgeregt mitten in die Unterhaltung. »Ich kann Verse von Petrarca aufsagen. Wollt Ihr sie hören?«

Eigentlich hätte Ludwig seiner Ältesten eine Rüge erteilen sollen, konnte aber ob ihrer kindlichen Freude ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Außerdem war er stolz auf sie. Es erfüllte ihn mit Freude, dass sie, genauso sehr wie er, die Liebe zu Büchern teilte. Erst neulich hatte sie ihn zum Lachen gebracht, als er sie mit zur Universität genommen hatte, und Mechthild ein wunderbar verziertes Buch ehrfürchtig berührt und an ihm geschnuppert hatte, den Geruch der alten Seiten tief einatmend. Auf ihren Gesichtszügen hatte ein seliges Lächeln gelegen.

›Nichts riecht so gut wie Papier und Pergament‹, waren ihre Worte gewesen.

»Dann lass uns teilhaben an deinem neu erlernten Wissen.«

Mechthild gab fünf Verse zum Besten, genoss den höfischen Applaus.

»Sehr gut, mein Kind«, lobte Ludwig. »Doch nun denke ich, ist es an der Zeit, zu Bett zu gehen. Jedenfalls für dich«, fügte er hinzu und strich ihr sanft über die Wange.

Nur selten zeigte Ludwig seine Zuneigung zu seiner Tochter so offen. Sie war ein außerordentlich kluges Geschöpf, und bereits jetzt erkannte man, dass sie auch zu einer bildschönen Frau heranwachsen würde. Graf Ludwig von Württemberg konnte sich glücklich schätzen, in einigen Jahren Mechthild als seine Frau heimzuführen. Die Verlobung zwischen dem sieben Jahre älteren Ludwig war bereits acht Monate nach Mechthilds Geburt arrangiert worden. Der Kurfürst konnte nur hoffen, dass Mechthild und ihr zukünftiger Gemahl auch miteinander glücklich wurden. Manch vereinbarte Ehe glich mehr einer Heimsuchung und verursachte den Eheleuten nichts als Kummer.

»Der Kaiser plant eine Steuer, um neue Truppen ausheben zu können«, nahm Ludwig den Faden wieder auf, nachdem die Kinderfrau Mechthild an der Hand genommen und aus der Halle gebracht hatte.

»Er wird schon Hussitenpfennig genannt«, warf einer seiner Ratgeber ein.

»Die Hussiten werden nie Ruhe geben, fürchte ich. Seit der Häretiker Jan Hus in Konstanz verbrannt wurde, folgt ein Kreuzzug dem nächsten.«

»Und dieser verdammte, verzeiht, Euer Durchlaucht …«, unterbrach sich der Rat selbst, doch der Kurfürst winkte ab. »Prediger Prokop wird mit jedem Sieg über die Kaiserheere stärker. In Böhmen steht bald kein Stein mehr auf dem anderen.«

Kurfürst Ludwig seufzte. Er würde seinem Bruder, Pfalzgraf Johann, dessen Land an Böhmen grenzte, weiterhin beistehen müssen. Lieber wäre ihm, er könnte das Geld, das Kriege verschlangen, dafür nutzen, um noch mehr Bücher und Handschriften für seine Bibliothek zu erwerben.

Wigbert saß derweil betrunken in einem Wirtshaus in Neckargemünd, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Seit Margrets Tod hatte er sich mehr und mehr in den Suff geflüchtet, die Anzahl der Münzen in der kleinen Truhe war dramatisch zusammengeschrumpft. Nur ab und an fand er Arbeit als Tagelöhner, was im Winter ohnehin schwer war. Zudem sprach es sich langsam herum, dass Wigbert mehr trank, als ihm guttat, sodass die Handwerker lieber jemand anderen für Handlangerdienste einstellten. Nie hätte Wigbert für möglich gehalten, wie sehr ihm seine Frau fehlte.

Helena hielt das Haus zwar in Ordnung, flickte Kleidung, buk Brot, doch sie war kein Ersatz für seine geliebte Margret. Vor allem schlich sie sich, wann immer es ging, zu den Ställen eines Großbauern, der vier Pferde sein eigen nannte. Helena war verrückt nach den Tieren, liebte ihre Sanftheit und die Ruhe, die sie ausstrahlten. Wie oft hatte Wigbert seiner Tochter schon zu Margrets Lebzeiten verboten, dorthin zu gehen, aber sie hörte nicht. Zudem war sie versessen darauf, Lesen und Schreiben zu lernen. Und wenn sie sich nicht zu den Pferden davonmachte, verschwand sie zur Pfarrschule. Dort hatte sie einen Jungen gefunden, der ihr die Buchstaben beibrachte. Manches Mal hatte Wigbert seine Tochter vorgefunden, wie sie selbstvergessen mit den Fingern Buchstaben in den Schmutz malte. Ohrfeigen hielten sie nicht davon ab, sich immer wieder aus dem Staub zu machen. Und Margret hatte stets zu ihr gehalten.

Wigbert vermisste die Gespräche mit seiner Frau. Margret war sein Fels in der Brandung gewesen, wenn es Schwierigkeiten gegeben oder das Geld hinten und vorne nicht gereicht hatte. Sie war eine starke Frau gewesen, viel stärker als er, und Helena wurde ihr, was das anbelangte, immer ähnlicher.

Jemand knuffte ihn in die Seite und riss ihn aus seinen wehmütigen Gedanken.

»Wigbert, du bist dran«, forderte ihn sein Tischnachbar auf.

Wigbert griff nach dem ledernen Würfelbecher, schüttelte ihn und stülpte ihn auf den rohen Holztisch, lüftete ihn. Nur eine Zwei und eine Drei. Das reichte bei Weitem nicht, um die beiden Fünfen, die gerade gewürfelt worden waren, zu übertrumpfen. Verloren. Schon wieder.

»Tja, Wigbert, sieht schlecht für dich aus, ich fürchte, du musst mich bezahlen«, feixte Cuntz. Der Winzer schien das Glück gepachtet zu haben, hatte kaum eine Würfelrunde verloren, und das Häufchen gewonnener Münzen vor ihm wuchs stetig.

»Wie viel?«

»Drei Gulden.«

Großer Gott, das konnte er niemals bezahlen. Für drei Gulden musste er zwei Monate arbeiten. Mit einem Schlag war er nüchtern.

»So viel habe ich nicht«, antwortete Wigbert heiser.

Cuntz’ Gesicht nahm einen harten Zug an.

»Dann gib mir, was du hast, und den Rest zahlst du mir bis Ende Jänner.«

»Aber wovon soll ich dann leben? Jetzt ist keine Erntezeit, kaum einer braucht einen Tagelöhner. Ich komme so schon schlecht über die Runden. Das kann ich nicht, meine Kinder …«, rief Wigbert entsetzt.

»Nicht meine Angelegenheit. Du hast Geld zum Würfelspiel, dann kann es so schlimm nicht sein«, erwiderte Cuntz Wengerter unversöhnlich.

»Er hat recht, Wigbert«, pflichtete einer der Mitspieler dem Winzer bei.

Fieberhaft dachte Wigbert über einen Ausweg nach. Dann kam ihm ein rettender Gedanke. »Meine Tochter Helena könnte die Schulden bei dir auf dem Weinberg abarbeiten oder im Haus. Bald ist Mariä Lichtmess, da kannst du sicher ein paar Hände mehr gebrauchen. Sie ist fleißig, geschickt und nicht dumm. Ich würde sie dir überlassen, bis die Schulden abgetragen sind.«

»Ist sie hübsch?«

Wigbert pries Helenas Vorzüge in den höchsten Tönen. »Feingliedrig und anmutig wie ein Reh ist sie, und trotzdem kann sie zupacken. Ihr Haar hat eine besondere Farbe, dunkelrot, wie das Herbstlaub, und ihre grünen Augen funkeln wie Edelsteine. Und sittsam ist sie, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehört. Ein wahrer Engel, gottesfürchtig und gehorsam.«

»Schon gut, Wigbert, bevor du mir noch weismachst, sie ist die Jungfrau Maria, schau ich sie mir lieber selbst an. Und nun lass uns gehen.« Er stieß Wigbert den Ellbogen in die Rippen.

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt.«

»Ja, ja, einverstanden, ich versichere dir, ich habe nicht übertrieben, was meine Tochter anbelangt«, beeilte sich Wigbert zu sagen und stürzte sein Bier in dem fast vollen Becher in einem Zug hinunter.

Mühsam und schwankend erhob sich Wigbert von seinem Hocker und verließ, gefolgt von Cuntz, das Wirtshaus. Draußen waren die Gassen matschig. Der Winter hatte in den letzten Wochen die Natur fest im Griff gehabt, doch seit zwei Tagen war Tauwetter eingetreten, das den gefrorenen Untergrund in Schlamm verwandelt hatte. Der Winzer nahm Wigbert mit auf seinen Wagen, ließ die Leinen auf die dunkelbraunen Pferderücken klatschen, und die beiden Tiere zogen geduldig an.

Als Wigbert und Cuntz die Kate betraten, war Helena gerade dabei, einen Brei aus Weizen zu kochen. Mit kräftigen Bewegungen rührte sie im Topf und gab noch ein paar verschrumpelte Zwiebeln hinzu, damit die Mahlzeit nicht ganz so fade schmeckte.

»Helena, bring unserem Gast und mir etwas zu trinken«, forderte Wigbert seine Tochter mit schwerer Zunge auf.

Helena blickte über die Schulter und betrachtete argwöhnisch den Fremden, der neben ihrem Vater stand. Groß gewachsen, breite Schultern, einen stattlichen Bauch vor sich hertragend, hellbraunes Haupthaar und einen etwas dunkleren Bart. Seine Gesichtszüge wirkten hart, und seine braunen Augen musterten Helena kalt. Sie holte zwei Becher und einen Krug mit Dünnbier. Beides stellte sie auf den Tisch, schenkte ein und wollte sich gerade wieder der Feuerstelle zuwenden, als Cuntz sie grob am Handgelenk packte.

»Nicht so schnell, meine Hübsche.«

Helena erstarrte und spürte einen Kloß in ihrem Hals.

»Du hast nicht zu viel versprochen, Wigbert«, wandte sich Cuntz an seinen Gastgeber. »Ein hübsches Mädchen hast du da, und wenn ich mich hier so umsehe, hält sie deine Hütte in Ordnung.«

Helena warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, doch dieser wich ihr aus.

»Ich hab’s dir doch gesagt. Dann gilt jetzt unsere Abmachung«, krächzte Wigbert heiser.

»Was für eine Abmachung, Vater?«, wagte Helena mit klopfendem Herzen zu fragen.

Doch dieser blieb ihr die Antwort schuldig, senkte den Blick beschämt zu Boden. An seiner statt klärte der Winzer sie grinsend auf und gab ihren Arm frei.

»Du kommst mit zu mir und arbeitest die Spielschulden deines Vaters ab.«

Entsetzt riss Helena die Augen auf. »Wie konntest du nur?«, rief sie wütend. »Statt zu arbeiten, versäufst und verspielst du das Wenige, das wir haben! Und das am helllichten Tag. Ich …«

Eine schallende Ohrfeige Wigberts brachte sie zum Schweigen. Ihre Wange brannte und Tränen stiegen ihr in die Augen, doch Helena drückte sie tapfer zurück. Sie würde sich keine Blöße geben und weinen. Fest presste sie ihre Kiefer zusammen. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als sie seinen Blick erwiderte. Ihr Vater verschacherte sie wie ein Stück Vieh. Das würde sie ihm nie vergeben.

»Koch den Brei fertig, dann gehst du mit Cuntz.«

Seine traurigen Augen ließen sie wissen, es tat ihm leid, sie geschlagen zu haben.

Nur gut, dass Mutter das nicht mehr erleben muss. Bestimmt dreht sie sich im Grabe um, dachte Helena zornig.

»Du kannst deinen Brei alleine kochen, ich gehe gleich«, schleuderte sie ihm entgegen. »Oder frag Siegfried, vielleicht übernimmt der nun die Hausarbeit.«

Cuntz Wengerter gefiel das Mädchen immer besser. Von wegen gehorsam. Eine kleine Rebellin war sie. Die Zeit mit Helena auf seinem Wingert versprach spannend zu werden. Er würde ihr ihre Widersetzlichkeit schon austreiben, freute sich der Winzer diebisch.

»Stimmt genau, Wigbert, jetzt musst du wohl selbst den Brei rühren, es riecht schon ein wenig angebrannt«, feixte er. »Na komm schon, Mädchen, vor uns liegt ein ordentliches Stück Weg.«

»Mein Name ist Helena«, sagte sie mit fester Stimme.

Sie nahm den alten Mantel ihrer Mutter, der schon deutlich bessere Tage gesehen hatte, und verließ hoch erhobenen Hauptes die Kate, ohne ihren Vater eines Blickes zu würdigen. Cuntz folgte ihr auf dem Fuß, nicht ohne Wigbert zuzuzwinkern.

»Steig hinten auf«, forderte der Winzer, hievte sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

Als Winzer verdiente er gutes Geld und konnte sich Pferde und Wagen leisten. Helena war froh, dass sie nicht zu Fuß gehen musste. Ihre schäbigen alten Schuhe hielten mit viel Glück gerade noch diesen Winter über durch. Vielleicht war es ja ein Wink des Schicksals, dass ihr Vater beim Würfeln verloren hatte.

Wenn ich mich anstrenge und fleißig bin und mich unentbehrlich mache, dachte sie, behält Cuntz mich vielleicht als Magd. Das wäre besser, als wieder zurück zu Vater zu gehen. Bestimmt sind die Schlafstätten für die Arbeiter auf dem Wingert trockener und wärmer als die in unserer armseligen, zugigen Hütte.

»Helena! Helena!«

Sie wandte den Kopf. Siegfried lief hinter dem Wagen her. »Wo fährst du hin? Was hat das zu bedeuten?«, schrie er aufgeregt.

»Frag Vater! Und pass auf dich auf, Siegfried!«

Cuntz ließ die Pferde antraben, und der Wagen entfernte sich schnell. Siegfrieds Gestalt, die mit hängenden Armen auf der Straße stand, wurde immer kleiner.

Die ganze Fahrt über sprach Cuntz kein Wort mit Helena, der es aber gerade recht war. So konnte sie die vorüberziehende Landschaft bestaunen, denn aus Neckargemünd war sie kaum jemals herausgekommen. Der Fahrtwind war eisig, und Helena zog den fadenscheinigen Mantel enger um sich, doch es nutzte wenig. Sie hätte doch noch einen heißen Brei essen sollen. Der Gedanke an das karge Mahl ließ ihren Magen sich schmerzhaft zusammenziehen.

Cuntz lenkte das Gespann vom Neckar in Richtung Süden, passierte Äcker und Wiesen und durchquerte Mischwälder. Schließlich gelangten sie zu dem Weingut. Der Wingert, die dazugehörigen Ländereien und die Gebäude waren seit Langem im Besitz der Familie Wengerter und Cuntz war nicht an einen Grundherren gebunden, wie manch andere Winzer. Zudem besaß er Allmendrechte, sodass er Weideflächen für eine kleine Viehherde nutzen konnte, um den Eigenbedarf an Fleisch und Milch zu decken. Ebenso räumten ihm die Allmendrechte ein, Holz für den Winter oder zum Bauen zu schlagen.

Cuntz brachte die Pferde vor einem großen Steinhaus zum Stehen.

»Wir sind da, steig ab«, sagte er und sprang selbst erstaunlich behände vom Kutschbock.

Knechte eilten herbei, um die Pferde auszuspannen und den Wagen in eine Scheune zu schieben. Cuntz legte Helena die Hand auf den Rücken und schob sie in Richtung Haus, aus dem gerade eine ältere, rundliche Frau trat. Sie trug ein dunkelgrünes Oberkleid, das über dem Busen geschnürt war, ein längeres braunes Unterkleid lugte unter dem Saum hervor. Die Mitte ihres Leibes zierte eine ebenso braune Schürze, versehen mit Stickereien. Ihre Haare waren unter einer beigen Haube verborgen, die Füße steckten in warmen Stiefeln.

»Cuntz, was hast du uns denn da nach Hause gebracht?«, fragte sie und wies mit dem Kinn auf Helena.

»Hab ich beim Spielen gewonnen. Wir brauchen so oder so noch eine Magd, Agnes, und die hier ist umsonst.«

»Beim Spiel? Ich hoffe, du hast mehr gewonnen als nur ein Kind. Wolltest du nicht die Finger von den Würfeln lassen?«

Agnes Wengerter, Cuntz’ Schwester, schüttelte nachsichtig den Kopf und musterte das zierliche Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre dunklen Augen blickten warm und mitleidig in Helenas blasses Gesicht.

»Viel zu dünn. Wie heißt du, mein Kind?«

»Helena, Herrin«, antwortete sie zaghaft.

»Nun komm erst mal in die Küche, dann bekommst du etwas zu essen. Wie alt bist du?«

»Zwölf, Herrin.«

Die Aussicht auf etwas zu essen ließ ihren Magen so laut knurren, dass die Winzerleute es deutlich hören konnten.

»Na, deine letzte Mahlzeit scheint ja eine Weile her zu sein«, lachte Agnes leise.

»Sie wollte es so. Hat die Gelegenheit verstreichen lassen, zu Hause noch einen Brei zu essen. Helena konnte nicht schnell genug von ihrem nichtsnutzigen Vater fortkommen«, dröhnte Cuntz.

Helena biss sich auf die Lippen und schluckte eine patzige Antwort hinunter. Ihr Vater war kein Nichtsnutz. Mutters Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen. Das war alles. Ob Siegfried wohl ohne seine ältere Schwester zurechtkam? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, bugsierte Agnes sie ins Haus. Die Frau führte Helena durch die Eingangshalle, in deren Ecke ein Kaminfeuer prasselte. Hier empfing Cuntz Gäste und Händler. Zwei Türen, eine rechts, eine links, führten in die angrenzenden Räume. Cuntz, der ihnen gefolgt war, verschwand ohne ein weiteres Wort durch die rechte Tür, wo über eine Treppe ins Obergeschoss die Schreibstube und die Schlafräume der Familie Wengerter zu erreichen waren. Agnes schritt voran, öffnete die linke Tür, hinter der sich die Küche verbarg.

An der rechten Küchenwand befand sich die Luke eines Kachelofens, der die nebenan liegende Wohnstube mit Wärme versorgte. Ein eiserner Kessel hing an einer Kette über dem Herdfeuer in der Ecke, der über eine Zugvorrichtung nach oben gezogen oder nach unten gelassen werden konnte. Daneben ragte der Kaminschlot empor, um den Rauch aus der Küche zu entlassen. Die Mitte der Küche nahm ein riesiger Holztisch ein, die Wand links gegenüber dem Ofen war größtenteils bis unter die Decke mit Holzgestellen bestückt, auf denen Töpfe, Krüge und Gefäße mit Schmalz, getrockneten Hülsenfrüchten und Salz Platz gefunden hatten. Daneben gab es ein zweiteiliges Fenster, das den Blick auf den Hof freigab. Die Tür gegenüber dem Kücheneingang führte in die Wohnstube.

Der Geruch des Eintopfs aus Erbsen, Gerste und Speck, der im Kessel vor sich hin brodelte, stieg Helena in die Nase, und der nagende Hunger verursachte ihr eine leichte Übelkeit.

Eine ältere Magd saß auf einem kleinen Schemel in der Nähe der Herdstelle und rupfte ein Huhn. Vier weitere lagen schon ihres Federkleids beraubt neben ihr auf dem Boden.

»Magda, das ist Helena, sie wird dir und den anderen Mägden ab jetzt zur Hand gehen. Aber gib ihr erst mal noch einen Teller Eintopf und ein Stück Brot«, bat Agnes. »Benimm dich anständig, Mädchen. Widerworte werden nicht geduldet. Du tust, was man dir aufträgt«, wandte sie sich an Helena. »Verstanden?«

»Ja, Herrin.«

»Gut. Hier auf dem Weinberg gibt es viel zu tun, wir arbeiten vom Morgengrauen bis nach Anbruch der Dunkelheit. Dafür bekommst du einen trockenen, warmen Schlafplatz und jeden Tag drei Mahlzeiten.«

Drei Mahlzeiten. Helena schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass Gott sie hierhergeführt hatte. Oder wohl eher das Pech ihres Vaters beim Würfelspiel.

»Und Magda«, fügte Agnes hinzu, »sieh nach, ob du ein paar anständige Kleider und ein paar Stiefel für sie findest. Das Kind trägt ja nur noch Lumpen am Leib.«

Die alte Magd brummte zustimmend, und Agnes verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

»Nimm dir einen Teller, Löffel sind in der Kiste auf dem zweiten Brett, wenn du keinen eigenen hast.« Magda wies auf das Holzgerüst an der Wand.

Helena tat wie ihr geheißen und hielt der Magd den hölzernen Suppenteller hin, in den diese eine ordentliche Portion Eintopf aus dem Kessel schöpfte.

»Setz dich, ich gebe dir noch ein Stück Brot.«

Herzhaft langte Helena zu, verbrannte sich den Mund an dem heißen Eintopf und blies beim nächsten Löffel vorsichtig über das dampfende Essen. Sie musste sich zwingen, nicht zu schlingen, so ein leckeres Mahl hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Speck hatte es zu Hause seit Monaten nicht gegeben.

Magda brach ein Stück Brot von einem Laib ab, reichte es dem Mädchen und stellte ihr einen Becher und einen Krug mit dünnem Bier hin. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Schemel und rupfte das Huhn.

»Wo kommst du her, und wie alt bist du?«, wollte die alte Magda ohne aufzusehen wissen.

»Aus Neckargemünd«, antwortete Helena mit vollem Mund. »Kurz vor Weihnachten bin ich zwölf geworden. Ist Agnes die Frau unseres Herrn?«

»Nein, seine Schwester«, erwiderte die Magd. »Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben.«

Schweigend leerte Helena ihren Teller, wischte ihn mit dem letzten Stückchen Brot sauber.

»Bist du satt?«, fragte Magda und kehrte die Federn zusammen.

Helena nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so satt gewesen war. Durstig schenkte sie den Becher voll und trank ihn mit großen Schlucken leer.

»Hilf mir mit dem Kessel, er muss vom Feuer, sonst brennt der Eintopf an.«

Magda zog den Kessel an der Kette ein Stück nach oben, und Helena nahm einen langen Eisenhaken, mit welchem sie den Kessel von der Feuerstelle bewegte. Langsam ließ Magda die Kette durch ihre Finger gleiten, bis der Kessel auf dem Boden aufsetzte.

»Gut gemacht. Weißt du, wie man ein Huhn ausnimmt?«

Helena war froh, dass ihre Mutter ihr das einst beigebracht hatte, als die Zeiten noch besser gewesen waren. Damals hatte es öfter Huhn gegeben. Doch dann war dieser heiße Sommer einem verregneten gefolgt, alles war auf den Feldern verdorrt, die ihr Vater mitbestellt hatte. Zwei schlechte Erntejahre hintereinander, und seither war es mit der Familie zusehends bergab gegangen. Kaum jemand brauchte einen Tagelöhner. Auch die Handwerker schufteten von früh bis spät und stellten nur selten jemanden ein, um Geld zu sparen, denn Brot war teuer geworden.

›Morgen wird es regnen, dann kommen wieder bessere Zeiten‹, war Wigberts täglicher Spruch gewesen. Doch geregnet hatte es nicht. Von der Kirche hatten sie Almosen erhalten, wofür sich Margret geschämt hatte. Aber ohne die milden Gaben, die auch nicht gerade üppig gewesen waren, wären sie nicht ausgekommen.

»Ja, das kann ich«, erwiderte Helena stolz.

»Gut, dann nimm die Hühner aus. Lebern, Herzen und Mägen legst du beiseite, ebenso die Hälse. Die braten wir später an. Wenn du fertig bist, schneidest du Zwiebeln und Mohrrüben. Die findest du in den Säcken in der Ecke dahinten.«

Helena arbeitete schnell und geschickt, wie Magda zufrieden feststellte, und wenig später brutzelten die Hühner auf einem langen Bratenspieß über dem Feuer. In einer tiefen Eisenpfanne schmorten die Innereien mit dem Gemüse. Magda gab noch ein paar getrocknete Kräuter, die in kleinen Sträußchen von der Decke hingen, hinzu. Ebenso eine Prise Salz und Pfefferkörner, ein gar kostbarer Schatz.

Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Magda entzündete mehrere Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten. Zwei weitere Mägde fanden sich in der Küche ein, die ältere hieß Hildegard und die jüngere Ännlin. Helena schätzte sie auf achtzehn Jahre. Magda stellte Helena vor, um dann gleich ihre Anweisungen zu geben.

»Hildegard und ich bedienen die Herrschaften, Ännlin und du, Helena, ihr sorgt dafür, dass die Schüsseln gefüllt sind und nichts anbrennt.« Sie klatschte in die Hände, um ihren Anforderungen Nachdruck zu verleihen. Flugs begann Helena, zwei große Schalen mit den geschmorten Innereien zu füllen, während Ännlin Brot in Stücke brach und in einen Weidenkorb legte. Die älteren Mägde verschwanden durch die hintere Tür, jede zwei Krüge mit Bier und Wein in den Händen. Nach kurzer Zeit erschienen sie wieder, nahmen den Brotkorb und die dampfenden Schüsseln und ließen die Mädchen allein.

Verstohlen musterte Helena die junge Ännlin. Die dunkelbraunen Haare hatte sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten, ihre üppige Gestalt verbarg sie unter einem braunen Kittel, ihre Füße steckten in knöchelhohen, warmen Stiefeln. Helena bemerkte eine kleine Wölbung, die sich unter dem Kittel der Magd abzeichnete. Das Mädchen war eindeutig schwanger. Ihr Gesicht zeigte einen hochnäsigen Ausdruck, als sie mit geübten Bewegungen die Bratspieße über dem Feuer drehte. Kein Wort wechselte sie mit Helena, und diese traute sich nicht, etwas zu sagen.

Magda und Hildegard kehrten zurück.

»Ännlin, sei so gut und hol Wein aus dem Keller. Mein Rücken schmerzt heute wieder mehr. Und nimm Helena mit«, ächzte Hildegard, während Magda das Drehen der Spieße übernahm. Die gebratenen Hühner rochen so lecker, dass Helena schon wieder Hunger verspürte. Aber davon würde wohl kaum etwas für die Mägde abfallen.

Wortlos drückte Ännlin Helena drei Steinkrüge in die Hand, nahm eine Fackel aus der Wandhalterung und verließ eiligen Schrittes die Küche, sodass Helena Mühe hatte hinterherzukommen. Das Mädchen lief über den Hof zu einem Nebengebäude, ließ die schwere Holztür aufschwingen und betrat die Diele.

Allerhand Werkzeuge waren hier verstaut: Pickel, Häpen, Karsten und Schaufeln. Bütten für die Trauben, wenn die Weinlese begann, standen säuberlich aneinandergereiht an der einen Wand. Den Großteil des Raumes nahmen aber zwei Keltern ein. Die gewaltigen Baumpressen mit ihren schweren Steinen an den Kelterbäumen forderten die Arbeitskräfte gleich mehrerer Knechte.

Im Fußboden war ein schwerer Eisenring eingelassen, den Ännlin packte und die Luke zum darunterliegenden Keller öffnete. Grob behauene Steinstufen führten hinunter, und Helena musste achtgeben, wie sie ihre Füße im flackernden Schein der Fackel setzte, um nicht zu stürzen. Am Ende der Treppe lag ein langer Gang, in dem rechts und links große Weinfässer lagerten.

»Da, das zweite Fass links. Füll die Krüge«, befahl Ännlin unwirsch.

Helena stellte die Gefäße auf den Boden, das dritte hielt sie mit der rechten Hand unter das Spundloch. Mit der Linken versuchte sie den Spund herauszuziehen, doch er saß zu fest.

»Bist du zu irgendwas nutze?«, bellte Ännlin, steckte die Fackel in eine Wandhalterung und stieß Helena beiseite, die beinahe den Krug fallen ließ. Ännlin riss ihr das Steinzeug aus der Hand, hielt es unter das Spundloch und zog mit einer leichten Drehung den Spund heraus. Tief dunkelroter Wein ergoss sich in den Krug. Als er fast gefüllt war, verschloss Ännlin das Loch und befüllte den zweiten.

»Los, versuch’s noch mal.«

Helena hatte beobachtet, wie die junge Magd den Spund gedreht hatte, und so gelang es auch ihr, den Wein in den letzten Krug fließen zu lassen.

»Gut, du bist also doch nicht so dumm, wie du aussiehst«, räumte Ännlin schroff ein.

Helena fasste sich ein Herz. »Warum bist du so gemein zu mir? Du kennst mich doch gar nicht.«

»Lass uns gehen, die Herrschaften warten«, war alles, was sie zur Antwort bekam.

Eilig liefen sie über den Hof, bemüht, nichts zu verschütten, und brachten den Wein in die Küche, wo Magda und Hildegard ihnen wortlos die Krüge abnahmen und verschwanden.

»Die Hühner sind fertig. Du hältst die Spieße, und ich schiebe die Hühner herunter«, wies Ännlin Helena an. »Nimm den großen Lappen, der vor dem Ofen liegt, du verbrennst dir sonst die Hände«, fügte sie hinzu, dieses Mal klang ihre Stimme nicht ganz so barsch.

Als die älteren Mägde wieder in die Küche kamen, hatten Helena und Ännlin die Hühner auf zwei Platten verteilt und weiteres Brot gebrochen.

»Halte die Spieße über das Feuer, damit sie wieder sauber werden«, erklärte Ännlin. »Wenn die Herrschaften fertig sind und hier alles aufgeräumt ist, können wir essen. Und jetzt hilf mir, den Kessel über das Feuer zu hängen.«

Helena nickte stumm und ging ihr zur Hand. Wenn Ännlin wüsste, dass Helena schon etwas von dem Eintopf bekommen hatte, würde sie ihr bestimmt keinen zweiten Teller füllen.

Nach dem späten Mahl, zu dem sich auch die Knechte gesellten, überfiel Helena eine bleierne Müdigkeit. Magda bemerkte, dass das Mädchen kaum noch am Tisch die Augen offen halten konnte.

»Komm, ich zeige dir, wo wir schlafen.«

Mit schweren Gliedern stemmte sich Helena hoch und folgte Magda aus der Küche über den Hof zum Gesindehaus, wo sich die voneinander getrennten Schlafräume der Knechte und Mägde befanden. Es gab einfache saubere Strohlager mit Schaffellen auf dem Boden und in einer Ecke eine Waschschüssel. Die Notdurft wurde draußen hinter dem Gesindehaus verrichtet.

»Du schläfst dort hinten.« Magda deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die letzte Schlafstatt. »Morgen früh bekommst du etwas zum Anziehen und ein paar Stiefel. Ich hoffe, sie passen. Deine Vorgängerin hatte etwa deine Größe.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist vor einem Monat gestorben. Hat den ganzen Herbst durch gehustet, und immer wieder kam das Fieber zurück. Gott hab sie selig, die alte Gundel.«

Helena sank auf ihr Strohlager, zog sich ein Schaffell über die Schultern und fiel in einen tiefen Schlaf, kaum dass sie ihr Haupt gebettet hatte. Sie bekam nicht mehr mit, wie sich nur wenig später auch die Mägde und Knechte zur Ruhe begaben.

Es war noch dunkel, als Hildegard sie wachrüttelte.

»Steh auf, Mädchen, es gibt viel zu tun.«

Helena rieb sich den Schlaf aus den Augen, musste sich erst zurechtfinden, wo sie war. Dann rappelte sie sich hoch und ging in die Ecke zu der Waschschüssel. Das eiskalte Wasser, das sie sich ins Gesicht spritzte, machte sie wach. Außer Hildegard und ihr war keine der übrigen Mägde mehr da.

»Los, beeil dich«, drängte Hildegard. »Hier sind ein paar Sachen zum Anziehen.«

Dankbar zog Helena den warmen, weiten Kittel über ihr Kleid, schlüpfte in die Stiefel, die ein wenig zu groß waren, aber wenigstens nicht löchrig.

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
437 s. 13 illüstrasyon
ISBN:
9783839260142
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