Kitabı oku: «Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes», sayfa 2
Die im Selbstporträt momenthaft eingefrorene Auseinandersetzung des Ichs mit Schmerz und Tod schlägt im Umfeld der Aktionskunst und Performance Art in den 1960er und 1970er in das masochistische Exerzitium am lebendigen Körper um. Neben den schmerzevokativen Performances, in denen Künstler wie Marina Abramović, Vito Acconci, Chris Burden oder Günter Brus ihre Körper zum form- und bearbeitbaren Material für selbstverletztende Gesten nutzten, existieren seither eine Reihe von Arbeiten, mit denen die Subjekte ihren eigenen Tod einer öffentlichen Verhandlung zugänglich machten. So stellte etwa Bob Flanagan seine erblich bedingte Erkrankung an Mukoviszidose und somit seine unmittelbare Nähe zum Tod ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Das an Aids erkrankte Mitglied der Wooster Group Ron Vawter schlüpfte in seinem Solo Roy Cohn/Jack Smith (1993) in die Doppelrolle des titelgebenden US-Politikers Cohn einerseits und des Camp-Künstlers Smith andererseits, die beide an Aids starben, und thematisierte so die persönliche Bedrohung durch den Tod. Der an Leberkrebs leidende ungarische Künstler Péter Halász wiederum ersann ein Szenario, um seiner eigenen Trauerfeier noch zu Lebzeiten beizuwohnen, und ließ sich dafür kurz vor seinem Tod im Jahr 2006 in der Kunsthalle Budapest in einem Glassarg aufbahren. Der Münchner Aktionskünstler Günter Saree verkaufte signierte Röntgenbilder seines Tumors an eine Kunstsammlung und dokumentierte sein Hadern mit dem bevorstehenden Ende auf Tonbandaufzeichnungen. Gregor Schneider wiederum treibt das fingierte Begräbnis Halászs noch einen provokativen Schritt weiter und möchte nicht lediglich sein Sterben als letztes Kunstwerk und öffentliches Ereignis in seinem „Sterberaum“ zeigen, sondern auch anderen dazu verhelfen, ihren Tod im künstlerischen Raum selbst zu gestalten.34
Unabhängig davon machten Performance-Künstler vermehrt ihre eigene Lebensgeschichte zum Gegenstand von Kunst. Im zeitlichen Horizont der 1970er brachten vor allem weibliche Künstlerinnen wie Laurie Anderson, Rachel Rosenthal und Carolee Schneemann zugleich mit den performativen Selbstentwürfen ihre Vergangenheit auf die Bühne und thematisierten auf diese Weise das feministische Credo „The Personal Is Political“35. Den sogenannten „autobiographical performances“36 ist ein forciertes Spiel von Zeigen und Verbergen zu Eigen, das instabile Identitätskonzepte hervorbringt. Die zentralisierende Instanz des erzählend agierenden Ichs zerstäubt sich zusehends in eine Mehrzahl an heterogenen personae. Die Montage des szenischen Materials schließlich löst die lineare Narration von Lebensetappen in multiperspektivische Geflechtstrukturen auf. Mit der Dezentrierung des Subjekts und der Abspaltung in verschiedene Ich-Fragmente wird dabei die Rollenhaftigkeit menschlichen Lebens ebenso ausgestellt wie die Unverfügbarkeit des eigenen Selbst.37 Aufgrund ihres Changierens zwischen Selbstentblößung und Selbstkonstruktion verweisen die performativ hervorgebrachten Lebensgeschichten ihrerseits wiederum auf eine im Ausdrucksfeld der literarischen Autobiographie über Jahrhunderte hinweg etablierte Begrifflichkeit. Der Gestus von Inszenierung, den Wolfang Iser „als Institution menschlicher Selbstauslegung“38 begreift, da er „das Paradox ermöglicht, das Sich-nicht-haben-Können als solches zu haben“39, haftet dabei selbstverständlich nicht erst den theatral-performativen Aneignungen der rückschauenden Lebensbetrachtung an.
Der Blick in die Geschichte der Autobiographie lehrt vielmehr, dass sich die literarische Gattung seit ihren Anfängen aus dem Zwiespalt zwischen transparenter Selbstäußerung und medialer Inszenierung und mithin aus Simulacren von Selbstpräsenz speist. Die Diagnose Erika Fischer-Lichtes, wonach „die Problematisierung der Vorstellung eines stabilen, mit sich selbst identischen Selbst“40 in der autobiographischen Performance erstmals zu einer „Demontage der Kategorie des Selbst“41 geführt habe, unterschlägt den Umstand, dass sich implizit schon lange zuvor in den autobiographischen Schriften Metareflexionen über die Figuration des vergangenen Ichs jenseits von faktualer Lebensdarstellung finden lassen, bis sie durch Serge Doubrovsky in den 1970ern explizit als poetologisches Programm der Autofiktion ausformuliert wurden. In Konsequenz der im Umfeld des Nouveau Roman propagierten Abkehr von realistischen Romanstrukturen im Geiste Balzacs machte Alain Robbe-Grillet mit seiner Nouvelle Autobiographie gar ein literarisches Darstellungsdispositiv stark, das die Phantasmen totalisierender und zentralisierender Ich-Geschichten abstreift, um das Ich stattdessen in zerstückelte, mehrschichtige Gestalten zu multiplizieren und dem Leser die Unauffindbarkeit des Subjekts als multifokales Verwirrspiel vor Augen zu führen. Nicht nur im Umfeld der Nouvelle Autobiographie geriert sich literarische Selbstkonstruktion seither vornehmlich als mise en abyme, die das Ich sprichwörtlich in den Abgrund schickt, um es von dort aus in gewandelten Gestalten sprechen zu lassen.
Trotz der augenscheinlichen medial bedingten und mithin darstellungsästhetischen Differenz zwischen der literarischen Selbstbeschreibung und den thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs bieten Geschichte und Theorie der Autobiographie den intermedial erhellenden, erforderlichen theoretischen Referenzrahmen für Schlingensiefs Darstellungsstrategie, die mit dem theaterwissenschaftlich ubiquitär gebrauchten Begriff der Selbstinszenierung nur unzureichend zu erfassen ist. Mit dem Verhältnis zwischen dem Erscheinen-Wollen und Sich-nicht-zeigen-Können des Ichs fokussieren die in Rede stehenden Inszenierungen nicht nur die elementare Spannung der performativen Subjektkonstitution im Theater,42 sondern vor allem auch die zentrale Problematik der „retroaktive[n] Lebensbeschreibung“43 in der abendländischen Autobiographie seit ihren Anfängen. So bewahren bereits die monumentalen Ich-Bekenntnisse von Augustinus, Rousseau und Goethe die Einsicht über die Undarstellbarkeit des eigenen Lebens aufgrund der Unzugänglichkeit der eigenen Vergangenheit auf und inszenieren ein mehr oder weniger gebrochenes Selbst. Dass es sich bei diesen Fluchtpunkten des europäischen Kanons der Autobiographie um Stilisierungen von Identität auf der Grundlage von Maskierungen des Selbst handelt, blieb weiten Teilen der geisteswissenschaftlichen Forschung allerdings bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Gänze verborgen. Die Autobiographieforschung kreiste lange Zeit um das Symptom der Wahrhaftigkeit, bis die Summe der Gegenargumente der Möglichkeit einer transparenten Ich-Darstellung in der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich vollends den Boden entziehen sollte. Dem im populären Medienbereich nach wie vor gebräuchlichen Paradigma der Selbsttransparenz, denen das in Talkshows und Life-Doku-Soaps erprobte Seelenstriptease unterliegt, steht mittlerweile das autobiographietheoretische Postulat gegenüber, dass der Kern des Selbst im Akt der medialen Transformation nicht zu erfassen sei. Die literaturwissenschaftliche Erkenntnis, wonach es sich bei der rückblickenden Lebenserzählung nicht um ein historisch verbürgtes Dokument, sondern um ein Erfindung und Konstruktion verschränkendes Kunstwerk handelt, schärfte ein Bewusstsein dafür, dass die implizite und zuweilen gar explizite Reflexion über die nicht darstellbare Unmittelbarkeit dem selbstschreibenden Vorgang als „performativem Akt“44 seit jeher eingeschrieben war.
Der gegenwärtige Forschungshorizont autobiographischer Theoriebildung vermittelt dementsprechend zwischen den Fragen, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt möglich sei, das Selbst im ästhetischen Gebilde durchscheinen zu lassen, inwieweit also die Autobiographie beredtes Zeugnis über das Leben ihres Schöpfers abzugeben imstande ist, und derjenigen nach der jedem selbstschreibenden Akt zugrunde liegenden literarischen Fiktionalität, die dem Wunsch des Verfassers nach der Ablegung eines authentischen und unmittelbaren Zeugnisses grundsätzlich zuwiderläuft. In Analogie zur geisteswissenschaftlichen Paradigmenverschiebung von hermeneutischen Theorien hin zu rezeptionsästhetischen, diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Dispositiven lässt sich dabei eine sukzessive Abkehr vom essentialistischen Ideal der medial-mimetischen Abbildung von Wirklichkeit ablesen. Das Medium der Schrift wird nicht mehr als Vermittler, sondern als Bildner des Lebens gesehen.
Im Zuge dieser wissenschaftlichen Revision der autobiographischen Diskurse waren schlussendlich auch die auf den Imperativ einer wahrhaftigen Selbstoffenbarung rekurrierenden autobiographischen Topoi der Beichte, des Bekenntnisses und der Verteidigungsrede unter dem Lemma der sprachlichen Vorgängigkeit als Konstruktionen entlarvt, wie das Leben selbst, das es im Schreiben zu vermitteln gilt, als Täuschung ausgewiesen. Denn auch die Vorstellung vom Gedächtnis als einem auffüll- und abrufbaren Speicher wurde von der Denkfigur der Erinnerung als erfundenem Leben abgelöst. Mit dem Wandel der Blickrichtung von der Autobiographie als literarisch ausgestaltetem historischen Zeugnis zu einem mit den Mitteln der Sprache konstruierten Erinnerungswerk rückten die poetologischen und rhetorischen Bedingungen der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich in dem Maße in den Vordergrund, dass heute vielmehr von geschriebenen als von beschriebenen die Rede sein kann.
Während Schlingensief in seiner posthum erschienenen literarischen Autobiographie Ich weiß, ich war’s (2012) am Phantasma eines in der rückschauenden Betrachtung beschreibbaren Lebens und damit zugleich am Konzept von Identität festhält, tönt durch seine autobiotheatralen Inszenierungen hindurch flächendeckend der die poststrukturalistische Gewissheit über die Fiktionalität des selbstbeschreibenden Ichs präformierende Aphorismus Nietzsches zur Selbstreflexion hindurch: „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt auf Nichts, als auf den Spiegel.“45 Der Theaterregisseur Schlingensief errichtet ein solches fiktionales Spiegelkabinett des Ichs: Er zitiert eine Fülle an topologischen loci communes der literarisch-narrativen Auto-Konstitution, die das Verborgene des eigenen Lebens maskieren. In der Übersetzung dieser Topoi in theatrales Rollenspiel und technisch-mediale Erinnerungsarbeit stellt er den Vorgang der Selbstkonstruktion ostentativ aus. Im Unterschied zu den Protagonisten der autobiographischen Performances erzählt er die Geschichte seines Lebens dabei größtenteils allerdings nicht als leiblich Anwesender, sondern lässt seine Ich-Fragmente in erster Linie durch Stimmen anderer Darsteller und somit als autofiktional gebrochene Spiegel- und Projektionsgestalten zu Wort kommen. Die strukturelle Inkorporation der Fremdheit übersetzt das durch Krankheit zugespitzte Moment der Alterität im Ich letztlich in das szenische Spiel. Aus dem Verhältnis zwischen der medial-theatralen Konstruktion eines multiplen Ichs, das sich in der augenfälligen inszenatorischen Überlagerung verschiedener Identitätsschichten zeigt, und der nichtsdestoweniger offenkundig egozentrierten Besetzung der eigenen Subjektposition ergibt sich für die autothematischen Strukturen in Eine Kirche der Angst, Mea Culpa und Sterben lernen! folgende Diagnose: Die Bühnenwerke changieren vexierbildartig zwischen Be- und Entgrenzung des Ichs. Einem inklusiven Konzept, verdichtet im Anspruch auf entblößende Lebensdarstellung, steht das Prinzip der Montage gegenüber, das das Ich parzelliert und in eine Vielzahl von Bildern projiziert, die nur mehr indexikalische Verweisfunktion übernehmen. Für diese Spannungskonstellation zwischen Ich-Konzentration und -Diffundierung bleibt in modifizierter Weise der Konnex zwischen Todesbedenken und Selbsterforschung aus dem Selbstporträt grundlegend. Durch seine Abspaltung in einen beobachtenden und viele beobachtete Teile funktionalisiert Schlingensief aber vor allem genuin autobiographische Narrative für den therapeutischen Zweck der Bewältigung von Todesangst, des Aufbegehrens gegen den Tod. Der im Rahmen der vorliegenden Studie erstmals verwendete Terminus „Autobiotheatralität“ weist darauf hin, dass die szenische Darstellung des eigenen Lebens in Schlingensiefs Arbeiten autobiographische Redefiguren auf die Theaterbühne transferiert, um die Spannung zwischen Fakt und Fiktion, eigenen und fremden Lebens, mit nichtliterarischen Mitteln auszuagieren.
Intrinsisch im Analysegegenstand angelegt sind somit die beiden theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es handelt sich zum einen um die Geschichte der Autobiographie und Autobiographieforschung bis hin zu der im 20. Jahrhundert aufkommenden Spielart der Automedialität und zum anderen um die abendländische Kulturgeschichte des Todes, die eine Vielzahl an symbolischen Konstrukten herausgebildet hat, die dem Lebenden eine Einstellung zum Sterben vermitteln sollen. Beide Rahmungen sind seit den Anfängen der Autobiographie, die als Manifest des Lebens vom Tod her konzipiert ist, untrennbar miteinander verwoben. Aufgrund einer Zuordnung der drei Inszenierungen zu den theoretischen Referenzrahmen weist die Arbeit eine Zweiteilung auf, die dem Umschlag in der Perspektive Schlingensiefs zwischen Mea Culpa und Sterben lernen! Rechnung trägt: Der erste theoretische Kontext wird vor allen Dingen den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa unterlegt, die in ihrem lebensbilanzierenden Gestus sowie aufgrund der theatral-medialen Aneignung der Topoi von Beichte, Bekenntnis, Bekehrung und Verteidigungsrede an zahlreiche Ausdrucksgesten der Autobiographie alludieren. Das Augenmerk der Analyse liegt dabei auf der Transformation von autobiographischem Schreiben in die theatral-figurale und technisch-mediale autobiotheatrale Praxis. Bei der Betrachtung von Sterben lernen!, in dem die Inszenierung eigenen Lebens als Anreden-gegen-den-Tod aufgrund des nunmehr gesundheitlich stabilen Zustands des Regisseurs tendenziell verblasst und sich stattdessen die theatral-philosophische Einübung in den Tod des sprichwörtlich „Anderen“ zeigt, tritt der Rahmen der Autobiographie hinter jenen der abendländischen Geschichte des Todes mitsamt der bestimmenden philosophischen Formel des Sterbenlernens zurück.
Der Interpretationshorizont der Autobiographie mit ihrer eigenen Verwicklung von auktorialer Geste und den sich im medialen Aufschub verselbstständigenden Redefiguren soll nicht zuletzt eine Abkehr von jener metaphorisierenden Umspielung der theatralen Ich-Darstellung Schlingensiefs ermöglichen, die (auch) in der wissenschaftlichen Rede über Schlingensief grundlegend ist. Zwar existieren erhellende Aufsätze zum Korpus der Inszenierungen, die Schlingensiefs letzte Arbeiten unter anderem auch auf den Komplex der Autobiographie perspektivieren.46 Eine grundlegende Aufarbeitung der Rollenmuster, die Schlingensief als Sujet seiner Inszenierungen entwirft und dabei eine Fülle an Bezugspunkten zu den historisch sich wandelnden autobiographischen Narrativen kreiert, wurde bislang allerdings nicht vorgenommen. Die nachfolgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, diese Lücke zu schließen und über den Dualismus von leiblicher Präsenz und semiotischer Repräsentation hinauszugehen, um die Heterogenität der Ich-Darstellungsmodi Schlingensiefs in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht zuletzt das Anliegen verbunden, jene Dispositive, die der Regisseur selbst in seinen zahlreichen Interviews vorgegeben hat, kritisch zu reflektieren. Der beobachtbaren Tendenz, wonach ein beträchtlicher Teil der Schriften zu Schlingensiefs Werken bislang innerhalb des vom Regisseur vorgegebenen Analyse- und Deutungsrahmens verbleibt und seine programmatischen Intentionen und ästhetischen Innovationen größtenteils sensu proprio auslegt, versucht der vorliegende Beitrag entgegenzusteuern, indem er die Theaterarbeiten einer topologischen Lektüre autobiographischer Narrative unterzieht.
Da Schlingensief sein Leben in seinen autobiotheatralen Arbeiten als Künstlervita inszeniert, führen die Ausführungen stets auch auf jene ästhetischen und kunstphilosophischen Fluchtpunkte zurück, die seiner Physiognomie als Film- und Theaterregisseur in seinen Augen Kontur verliehen hatten und die er darum in seinen vom bevorstehenden Tod her realisierten Arbeiten zitiert. Neben den avantgardistischen Strömungen des Surrealismus und Dadaismus, den neoavantgardistischen Positionen des Fluxus, des Happenings, der Aktionskunst und insbesondere Joseph Beuys’, prägte ihn vor allen Dingen seine Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal als Regisseur anlässlich der Bayreuther Festspiele 2004 bis 2007. In der Ästhetik des Gesamtkunstwerks liegt letztlich das Verbindende der künstlerischen Referenzen von Wagner bis hin zum Neoavantgardismus, dessen Vertreter die Kunst in lebensweltlich-relevanter Umformung der romantischen Kunstphilosophie als „direktes Geschehen […], nicht Wiedergabe von Geschehen“47 begriffen. In dieser neoavantgardistischen Formel klingt der Gedanke an, dass die Kunst selbst die Bewegung des Lebens inkorporiere; sie zeigt die durchgreifende Stoßrichtung des eingangs vorgestellten Diktums Schlingensiefs, wonach das Theater ohne das Leben nicht auskomme. In Konsequenz dieses Parallelismus zwischen Leben und Kunst ergibt sich der eigentümliche Umstand, dass Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen unter geeignetem Blickwinkel als Inversionsfigur erscheinen: Sie kippen von einer Kunst der Verarbeitung des möglicherweise bevorstehenden Todes in eine Kunst über die künstlerische Ideengeschichte seit Wagner, die sich aus Fluktuationen des Lebens generiert. In geradezu widersprüchlichem Verhältnis zu ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung, das Leben und den Tod zu reflektieren, verbleiben die Inszenierungen unterdessen bisweilen also im innerästhetischen Rahmen und geben sich auf diese Weise erst recht als Modellfall Schlingensiefscher Ideenpraxis zu erkennen, in fortwährender Transformation von eigenem und fremdem künstlerischen Material Kunst über Kunst zu machen.
1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“
In den im Zentrum der Ausführungen stehenden letzten Theaterarbeiten Christoph Schlingensiefs, entstanden nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008, spannt sich über die persönliche Auseinandersetzung des Regisseurs mit der eigenen Erkrankung und dem möglicherweise bevorstehenden Tod ein aufgrund seiner intertextuellen und -medialen Dichte bisweilen unentwirrbares Netz aus künstlerischen, philosophischen und religiösen Motivzusammenhängen. Zwar verkörperte der Regisseur bereits vor der tiefgreifenden Zäsur durch seine Krebsdiagnose den Typus eines totalen Künstlers, der die Oszillation zwischen Leben und Werk einmal ironisch distanziert, dann wieder ostentativ emphatisch zur Grundlage seiner Arbeiten machte, doch erst die Krankheit riss die ohnehin seit je instabile Grenze zwischen der Person und dem Künstler Schlingensief vollends ein. Die existentielle Bedrohung, die der „Eindringling Krebs“1 für ihn bedeutete, wirkte sich fortan in der Art einer conditio sine qua non nach dem Motto: „Ich bin, weil ich krank bin“2 auf seine künstlerische Tätigkeit aus, sodass die letzten Inszenierungen vor seinem Tod ganz im Dienst des Dialogs mit sich selbst standen. In den auf diese Weise generierten theatralen Selbstbefragungen agierte Schlingensief nicht wie in vielen seiner früheren Arbeiten als ein Mit-Spieler unter den Schauspielern, sondern ist, in Radikalisierung seiner Doppelfunktion als Autor-Regisseur und Protagonist, zum eigentlichen Sujet der Inszenierungen geworden. Die Besetzung des Zentrums seiner Theaterprojekte liegt diesen Arbeiten durch die Fokussierung auf seinen persönlichen Umgang mit der Krankheit intrinsisch zugrunde.
Zu dem seit je in vielen seiner Bühnenarbeiten herrschenden Spiel mit den Kategorien von Authentizität und Wahrhaftigkeit sowie seinem Versprechen der unbedingten „Haftbarkeit“3 für seine eminent politische, gesellschaftliche und künstlerische Perspektive, die er als strikten Gegensatz zum Verfahren einer künstlerischen Distanzierung qua Provokation auffasste,4 trat nun eine der Realität seiner Krankheit geschuldete brutale Faktizität hinzu. Das Bestreben, das eigene Schicksal zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Reflexionen zu machen und zugleich den Blick auf das Leben wie auf die Kunst durch die Brille der eigenen existentiellen Situation zu werfen, erfolgte in Konsequenz seiner Überzeugung von der unbedingten Rückbindung seiner künstlerischen Tätigkeit an den eigenen psychischen wie physischen Zustand und stellte das gesamte öffentliche Handeln des Künstlers im Zeitraum der Jahre 2008 bis 2010 in einen auf Selbstinszenierung hin angelegten, autobiotheatral kommentierten Zusammenhang. Die Rezensionen zur sogenannten „Krebs-Trilogie“5 Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa etablieren in dieser Hinsicht eine Reihe an Motiven, die für eine analytische Durchleuchtung der Sterbe-Inszenierungen Schlingensiefs vor der Folie der literarisch-autobiographischen Praxis fruchtbar zu machen sind.