Kitabı oku: «Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes», sayfa 4

Yazı tipi:

1.2 Der Zwischenstand der Dinge

Der Zwischenstand der Dinge verkürzte die Inszenierung Eine Kirche der Angst um die abschließende theatrale Messfeier und erscheint somit als das in den intimen kammertheatralen Rahmen transponierte Satellitenwerk des Fluxus-Oratoriums. Obgleich der Abend in den nachfolgenden Szenenanalysen keine eigenständige Betrachtung erfährt, so dienen die dazugehörigen kritischen Reaktionen doch dazu, den autobiographischen Kontext von Eine Kirche der Angst, verschlüsselt in der intimen Preisgabe des Selbst als Lebenserzählung, zu untermauern. Schien es den meisten Kritikern bereits im Fall von Eine Kirche der Angst unmöglich, aus gewohnt distanzierter Position zu rezensieren, so stellte sich in Der Zwischenstand der Dinge schließlich „eine kaum erträgliche Intimität ein“1. Aus der Sicht von Pilz fühlte man sich dabei, „als blättere man mit Schlingensief in seiner Krankenakte“2. Aber diese Krankheit, so der Rezensent erneut, lasse „sich nicht kritisieren, nur heilen oder annehmen“3. Der Theaterabend, dem die wesentlichen filmischen und musikalischen Motive sowie große Teile der aus dem Tagebuch stammenden Texte des Fluxus-Oratoriums zugrunde lagen, brachte für Reinhard Wengierek von der Welt eine „immer wieder hellsichtig die Todesangst umkreisende Schnipsel-Paraphrase aus Video, Musik, Patiententagebuch, Memoiren und Kabarettistischem“4 an die Öffentlichkeit. Laut Rüdiger Schaper geriet die Inszenierung vor allem aufgrund des nahezu distanzlosen Rahmens zur „Tragödie en miniature“5. Das persönliche Drama Schlingensiefs rückte mit Der Zwischenstand der Dinge offensichtlich derart nahe an die Rezensenten heran, dass die Demarkationslinie zwischen Selbstentblößung und -maskierung nicht mehr auszumachen war. Die von den Journalisten thematisierte Unmittelbarkeit war wesentlich dem Wegfall des kunstreligiös-rituellen Rahmens geschuldet, der das Schicksal Schlingensiefs im Fluxus-Oratorium noch durch die großformatige ästhetische Dekonstruktion christlicher Erlösungsdogmatik auf Distanz gehalten hatte.

Da die ästhetische Konstruktion der Inszenierung hinter der Einforderung einer emphatischen Teilhabe des Publikums beinahe zum Verschwinden gebracht wurde, kam Schlingensief als Regisseur seiner Lebensgeschichte dem hermeneutisch-autobiographischen Desiderat nach Unmittelbarkeit entschie­den nahe. Dass die Nacktheit des Protagonisten nunmehr weniger als Effekt der Inszenierungsstrategie rezipiert wurde, sondern als Aufforderung zu direktem Mitfühlen, zeigt unter anderem die Auffassung Ulrich Seidlers. Die Art und Weise der Selbstpräsentation glich in seinen Augen eher einer Gesprächstherapie und machte den Zuschauer schier darüber vergessen, dass er im Theater saß:

Das war in dem Moment kein Theater, was sollte man also beklatschen? Schlingensiefs Mut? Seine Angst? Seine Ärzte? Seine Medikamente? Die eigene Gesundheit? Schlingensief hat seinen privaten Lungenkrebs in die gute alte Erfahrungsmaschine Theater eingespeist und sie damit gefährlich ins Stottern gebracht.6

Ähnlich Seidler fasste Rüdiger Schaper die Arbeit als „beispiellose Entäußerung“7 Schlingensiefs auf. Der Regisseur fertigte aus der Sicht des Rezensenten eine Inszenierung, die „die Traurigkeit von Kammermusik“8 atmete. Mit diesem Urteil war implizit die formale Diskrepanz zwischen den Produktionen Eine Kirche der Angst und Der Zwischenstand der Dinge angesprochen. Zwar waren die Inszenierungen thematisch eng miteinander verknüpft, unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Atmosphäre9 allerdings vollkommen unterschiedlich geraten. Der Umstand, dass die Bausteine des großformatigen Oratoriums und des um den hyperbolischen Rahmen der liturgischen Messfeier verkürzten distanzlosen Abends im Studio des Maxim Gorki Theaters grosso modo dieselben waren, legte die Argumentation mit musikalischen Gegensatztopoi in der Tat nahe. Während Schlingensiefs Aneignung der erzählend-dramatischen Gattung des Oratoriums mit der musikalisch-exaltierten Apostrophe an das Göttliche spielte, erschien der kammermusikalische und -theatrale Abend Der Zwischenstand der Dinge als Rückzug in die Sphäre der Intimität, der dem Zuschauer gewissermaßen die nackte Antifolie zur kunstreligiösen Überformung vor Augen führte und ihn begreifen ließ, „dass das Leben ohne Rituale und Kunst eine Hölle ist“10.

Reinhard Wengierek deutete die Inszenierung als Versuch Schlingensiefs, sich von außen selbst zu betrachten, um dabei „mit heiligem Ernst und teuflischem Witz auf sein Los“11 hinzuweisen. Dirk Pilz wiederum sah „ein Spiel über das Spielen mit dem eigenen Leben und Sterben“12 und erkannte damit ebenso eine metareflexive Dimension. Die Rezensenten malten auf diese Weise ein Bild aus, in dem der Regisseur als Beobachter seinem gezeigten Ich wie in einem Selbstporträt vis-à-vis steht. Schlingensief selbst äußerte im Vorwort seines Krebstagebuchs den zur Einschätzung der Kritiker passenden Anspruch, aus der Distanz einen ganzheitlichen Blick auf sich selbst zu werfen, „[d]ie Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten“13.

Pilz erlebte dieses „Selbstdurchleuchtungstheater“14 gar als Einforderung einer konkreten zwischenmenschlichen Reaktion und räsonierte nachdenklich darüber, ob das Echte der Krankheit die Inszenierung nobilitiere oder doch eher ungreifbar mache. Auch Peter Göpfert stimmte in den Chor der Kritiklosen mit ein, indem er die spürbare „selbsttherapeutische Absicht dieser Inszenierung“15 dafür verantwortlich machte, dass sie sich herkömmlichen Kriterien des Rezensierens gänzlich entziehe. Die sich im Rahmen der Besprechungen der Duisburger Inszenierung bereits deutlich abzeichnende Tendenz, Schlingensiefs theatralen Umgang mit seiner Todesangst nicht mehr mit normativen Begriffen zu fassen, sondern dem gesundheitlichen Zustand des Autors respekt- und pietätvoll zu begegnen, hatte sich in der Betrachtung von Der Zwischenstand der Dinge erheblich zugespitzt. Die Rezensenten operierten dabei zwar nach wie vor innerhalb des semantischen Feldes der Selbstdarstellung, des Sich-Zeigens und des theatralen Phantasmas von Unmittelbarkeit. Anders als im Fall des Fluxus-Oratoriums konnten sie sich allerdings von der inszenierten Intimität nicht mehr über die äußere Form der Kunst-Messe distanzieren, sondern fühlten sich in das Innere des Künstlers regelrecht hineingezogen.

1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa

Die Topologie der bekenntnishaften Selbstdarstellung und die mit der szenischen Confessio verbundene Suggestion von Unmittelbarkeit bildeten auch noch den analytischen Rahmen für die im März des Jahres 2009 am Wiener Burgtheater uraufgeführte ReadyMadeOper Mea Culpa. Nach Der Zwischenstand der Dinge fand der Regisseur dabei wieder zur großen synkretistischen Form zurück. Schlingensief tauschte das liturgische Setting durch den intermedialen Referenzrahmen des hinter ihm liegenden Œuvres aus und betrachtete sich selbst nunmehr zur Gänze durch die Brille seiner künstlerischen Vergangenheit hindurch. Darüber hinaus war die Perspektive des bekennenden Ichs bereits auf die Zukunft hin gerichtet. Im Rahmen von Mea Culpa stellte Schlingensief seine Vision eines afrikanischen Operndorfs vor, verstanden als Zusammenführung von Wagners Bayreuth-Utopie mit dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys.

Das dem Abend programmatisch zugrunde liegende katholische Schuldbekenntnis zeigte zum einen die religiöse Verbindungslinie vom Duisburger Fluxus-Oratorium zur Wiener ReadyMadeOper auf und verwies zum anderen auf den Versuch Schlingensiefs, einem erodierten integralen Subjekt die behauptete Souveränität eines autonomen Ichs entgegenzuhalten. Im Allgemeinen Schuldbekenntnis, nach christlicher Vorstellung die Antwort auf die Schuldübernahme Jesu Christi, der durch seinen Tod „die Schulden der Welt hinweggenommen hat“, gesteht der Mensch, „Gutes unterlassen und Böses getan zu haben“. Im klimatischen Ruf „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ liegt die Fabel von Schlingensiefs Inszenierung eingeschlossen. Der Regisseur hatte sich bereits in seinem Tagebuch auf eine krankheitsgenetische Spurensuche begeben, die ihn auf seine eigene Schuld zurückgeführt hatte. Den Grund für seine Krebserkrankung glaubte er schließlich in seiner intensiven Beschäftigung mit Wagners Parsifal im Zuge der Bayreuther Festspiele im Jahr 2004 ermittelt zu haben, wo er sich von Wagners Spiel mit der Todessehnsucht „auf den Trip schicken habe lassen“1. Getreu dem im Parsifal wirksamen Prinzip, „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“2, sollte die erneute Auseinandersetzung mit Wagners „Todesmusik“3 in Mea Culpa zu einer Bejahung des Lebens führen. „‚Ich will noch nicht‘ ist die Quintessenz des Abends“4, so dessen Dramaturg Carl Hegemann. Die titelgebende Bündelung der Schuld im Ich, die als Zeichen einer egozentrierten Haltung einen selbsttherapeutischen Zweck erfüllte, war das Resultat einer intensiven Forschung nach der eigenen Vergangenheit im Medium des Theaters. Dafür implantierte Schlingensief die Diegesis des Parsifal in eine höchst eigenwillige metadiegetische Rahmenhandlung: In einer ayurvedischen Heilanstalt, die ihrerseits assoziativ an das hermetisch abgeschlossene Sanatorium aus Thomas Manns Der Zauberberg (1924) gemahnt, arbeiten die Patienten an einer Parsifal-Inszenierung. Die in Wagners Bühnenweihfestspiel thematisierte Wunde soll den Patienten den Weg zur Heilung weisen.

Für Michael Laages zeigte sich in Wien in erster Linie ein „Abend der Innenansichten, ein Panoptikum der Reflexion über einen unauflösbar schrecklichen Prozess: das Leben eben“5, der durch ein unerhörtes Maß an Ehrlichkeit berührte. Ulrich Weinzierl, der den Abend für Die Welt besprach, sah in Mea Culpa den „Abschluss einer autobiografischen Trilogie im Zeichen der Krankheit“6, mit dem der kranke Regisseur „sein theatralisches Pfingsten [und somit] das vorläufige Ende einer Passionsgeschichte“7 feierte. Sein Kollege von der Frankfurter Rundschau, Peter Michalzik, fühlte sich, wie bereits nach der Aufführung in Duisburg, ergriffen von einer Produktion, die in erster Linie „eine neue Art von Psychodrama“8 präsentierte und dem Versuch geschuldet war, dem Publikum den großen dunklen Anderen, den Tod, näherzubringen. Als Zuschauer musste man lediglich eine grundsätzliche Entscheidung treffen: „Entweder leiden wir an diesem Abend mit, oder wir erleben nichts.“9 Der Regisseur habe dem Zuschauer die Entscheidung durch die Drastik der Darstellung allerdings nicht besonders schwer gemacht.

Christine Dössel sah im titelgebenden Schuldbekenntnis Schlingensiefs die „eindrucksvolle (Selbst-)Inszenierung eines Künstlers, der viele Leidens- und Erkenntnisstufen durchschritten hat und nunmehr den Lebenswillen feiert in Anbetracht des Todes“10. Sie griff dabei die bereits in den Kritiken zu Eine Kirche der Angst weit verbreitete Ansicht auf, dass es sich bei der Krankheitsinszenierung um die logische Konsequenz aus Schlingensiefs Kunstverständnis handelte, „der als Künstler schon immer seine Haut zu Markte getragen“11 habe. Ähnlich erging es Almuth Spiegler, die fasziniert auf Schlingensiefs einzigartige „Durchdringung der Genres und die Auflösung der Grenzen zwischen Spiel und Realität“12 blickte. Die Transgression von Kunst und Leben wurde wie in den beiden vorhergehenden Inszenierungen zum Anlass genommen, um grundlegend darüber nachzudenken, inwieweit die theatrale Komplementarität des Zeigens und Zuschauens überhaupt noch als wirksamer Referenzrahmen für die Analyse des Theaterabends dienen konnte.

Der Großteil der Kritiker operierte dementsprechend nicht mit dem Begriff des Theaters, sondern mit dem Terminus des Rituals, der zur Erfassung der von Schlingensiefs Mitteilung erzeugten gemeinschaftsbildenden Struktur einer kunstreligiösen communitas besser geeignet zu sein schien. In den Augen Ulrich Weinzierls bezog Mea Culpa seine eigentümliche Kraft gerade aus dem „Vergessenmachen“13 über den theatralen Rahmen, sodass der Zuschauer zum „Zeuge[n] der allmählichen Gemeindewerdung“14 wurde. Dössel betonte, dass man sich „gegen die Teilhabe, die Schlingensief […] gewährt“15, regelrecht sperre, wenn man den Protagonisten dieses existentiellen Abends lediglich als Narzissten abtue. Es gebe „nicht viele Theaterabende, die so ganzheitlich, so überzeugend authentisch – und dazu auch noch so multimedial ausgefeilt – an die wirklich letzten Dinge rühren.“16 Auf Eva Behrendt schließlich wirkte Mea Culpa hinsichtlich Schlingensiefs Auseinandersetzung mit seinem Leben zwar distanzierter als Eine Kirche der Angst, doch die Forderung der Teilhabe, die von der Inszenierung an das Publikum ergangen war, schien in ihren Augen ungebrochen.17

Darüber hinaus gab es auch Kritikerstimmen, die explizit die voyeuristische Perspektive des Publikums, provoziert durch Schlingensiefs Selbstentblößung, reflektierten. So wollte die Bühne des Burgtheaters laut Ronald Pohl, dem Rezensenten des österreichischen Der Standard, „unter verschwenderischer Aufbietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen ‚Wahrheit‘ über uns Menschen herausrücken“18. Rüdiger Schaper setzte ebenso an der mit Schlingensiefs theatraler Simulation von Wahrheit und Unmittelbarkeit verbundenen Rezep­tionsmechanik des Voyeurismus an: „Wann hat sich ein Künstler derart nackt und angreifbar gemacht wie Schlingensief? Sein Werk, sein Leben, seine Krankheit zu einem unerhörten Ganzen so verschmolzen? Die Logik ist fürchterlich, ein voyeuristischer Abgrund.“19 Demnach spielte der vom Regisseur exhibitionistisch in Gang gebrachte Versuch der „Heilung der Wunde ‚Sterblichkeit‘ aus der Idee des Gesamtkunstwerks“20 mit dem Erregungsmoment des Beobachtens. Aufgrund „der vielen verallgemeinerbaren Wahrheitsgehaltzipfel“21, die dabei zu erspähen waren, wurden die Kritiker dieses Abends – freiwillig oder unfreiwillig – letztlich zu Verfassern einer Hagiographie.22

1.4 Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich

Durch die Einflechtung ästhetischen, mythisch-religiösen und philosophischen Materials in den Bezugsrahmen des Persönlichen arbeitete Schlingensief mit geradezu plakativer Deutlichkeit an einer „individuellen Mythologie“1. Der programmatische Begriff, mit dem Harald Szeemann im Zuge der 1972 unter dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ firmierenden documenta 5 eine im Dienste der Kreativität stehende Überhöhung des Egozentrismus und damit eine Abkehr von kollektiv verbindlichen Mythenkomplexen thematisierte, ist für Schlingensiefs künstlerische Thematisierung seines Ichs fruchtbar zu machen. Mit seinen dichten motivischen Formationen eigener und fremder Stoffe, dem ironisch gebrochenen Spiel mit religiösen Ritualen und Bildformeln, der Inszenierung symbolischer Transformationsvorgänge und nicht zuletzt seiner selbstreferentiellen Inkorporation traditionellen ästhetischen Inventars lässt sich der Regisseur in eine Reihe mit Künstlern von Paul Thek über die Wiener Aktionisten bis hin zu Joseph Beuys einordnen, die sich „mit ihren Bildwelten aus den Konventionen des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses ausklinken und Entwürfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“2 Die Verquickung des traditionellen Begriffs von Mythos als einem überindividuellen, verbindlichen Symbolsystem mit der Erfahrungswelt des Einzelnen lebt sowohl bei den historischen Referenzfiguren als auch bei Schlingensief von der funktionalen Paradoxie, zwei kontradiktorische Erfahrungsebenen in eine widersprüchliche künstlerische Formel zusammenzuschließen. Mit dieser Formel erhebt „die Egozentrik den Anspruch […], eine allgemeingültige Sprache zu sprechen“3.

Von einem derartigen Standpunkt existentieller Selbsterfahrung, der sich nicht in privatistischer Autoreflexion erschöpft, sondern die eigenen enigmatischen Handlungsräume gegen die unhinterfragte Ordnung der Dinge in Anschlag bringen will, zeugt Schlingensiefs Schaffen selbstverständlich bereits vor dem Einbruch seiner Krankheit. Schon mit seinem ersten Langfilm Tunguska – Die Kisten sind da (1984) lanciert der Regisseur, den am Medium Film nach eigenen Aussagen vor allen Dingen seine materiale Zerstörbarkeit faszinierte,4 die autoreflexive Geste eines jungen Filmregisseurs, der gegen das Gebot des filmischen Realismus aufbegehrt und das Ende des Neuen Deutschen Films heraufbeschwört. Anhand hysterisch überspannter Familienkonstellationen wiederum zeigt die „Deutschland-Trilogie“, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1991/1992), ernüchternde Gegenwartsdiagnosen und die Erforschung deutscher Geschichte. Seine Theaterarbeiten führen die Impulse aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse im intermedialen Assoziationsfeld weiter und zeichnen sich durch die Dichte an Bezügen zu vorangegangenen Arbeiten aus. So widmen sich etwa die sowohl im thematischen Umfeld der Church of Fear als auch Schlingensiefs Bayreuther Parsifal (2004–2007) entstandenen Inszenierungen Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen (Volksbühne Berlin, 2003), Bambiland (Burgtheater Wien, 2003) und Attabambi Pornoland (Schauspielhaus Zürich, 2004) ebenso den Anschlägen des 11. Septembers wie der medialen Inszenierung des Irakkriegs und zeigen motivische wie inszenatorische Versatzstücke der Parsifal-Inszenierung. Inmitten dieser apokalyptischen Settings stellt Schlingensief wahlweise Beuys’ Aktion Coyote nach, versucht sich als Aktionskünstler im Geiste Hermann Nitschs, dirigiert von einem Turm aus Wagners Tannhäuser-Ouvertüre und spielt nebenbei ein Kind, das gegen die Eltern rebelliert. In den letzten Inszenierungen Schlingensiefs führt eine solche Fundierung des ästhetischen Schaffensaktes im persönlichen Erfahrungshorizont des Künstlers allerdings zu einem ernsten, existentiellen Spiel um die Offenbarung und Chiffrierung des autobiotheatralen Ichs. Die augenscheinliche Mythologisierung des Ichs, die als implizites Leitmotiv zahlreicher Rezensionen fungiert, zeigt überdies den Versuch einer Aktualisierung kunstphilosophischer Konzepte der Frühromantik an.

Dies wird offensichtlich mit Blick auf Friedrich Schlegels Konzept der Universalpoesie. In seinem fiktiven Gespräch über die Poesie weist der Philosoph die Poesie als schöpferischen Urquell aus, der zwischen dem Einzelnen und der all­umfassenden Idee des Kosmos vermittelt. In einem für das romantische Denken konstitutiven Modus „kosmischer Projektion“ bindet Schlegel seine Überzeugung, wonach „jeder [Mensch] seine eigne Poesie in sich“5 trage, an ein übergeordnetes, unbestimmbares Prinzip schöpferischer Kraft zurück. Diese höhere Poesie, die „von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit“6 hervorgeht, fungiert ihrerseits als Statthalterin des Numinosen. Aus dem alles einschließenden, selbstschöpfenden Vorstellungskomplex der Poesie erwächst letztlich Schlegels Forderung nach einer Neuen Mythologie. An sein poetisches Konzept knüpft er nichts weniger als die Hoffnung auf eine verbindliche, gemeinschaftliche Weltanschauung, die zwischen den Dualismen einer zerrissenen modernen Welt vermittelt. Die Neue Mythologie ist mithin dazu angetan, die religiöse Lücke einer entgötterten Welt in der Romantik zu schließen. Die Voraussetzungen für einen derartigen wirkungsästhetischen Zusammenschluss von Kunst und Religion liegen dabei freilich in deren vorangegangener Trennung im Zuge der Aufklärung und im nunmehrigen Fehlen eines verbindlichen religiösen Sinngebungssystems.

Hinter Schlegels Entwurf einer alles verbindenden poetischen Kreativität kommt der Begriff der Kunstreligion zum Vorschein. Friedrich Schleiermacher bringt ihn im Jahr 1799 in seinen Reden Über die Religion erstmals ins Spiel. Der Begriff drückt die Sehnsucht nach Ganzheitserfahrungen – bei Schleiermacher die Suche nach der „Harmonie des Universums“7 – aus. Obwohl Schleiermacher zunächst keinen Zweifel daran lässt, dass die Kunst der Religion gegenüber eine dienende Funktion übernimmt, so gesteht er ihr im Laufe seiner Argumentation doch die Möglichkeit zu, aus eigener Kraft das Unendliche erfahrbar zu machen. Mit der Beobachtung, dass „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“8, weist er ebenso entschieden über Goethes verhaltene Bemerkung hinaus, wonach die Kunst „auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst“9 beruhe, wie über Klopstocks Ansicht, dass die „heilige Poesie“ sich nachahmend die Wirkungsmechanismen des Religiösen zu eigen mache.10 Die Wirkungsqualität erhabener Kunstwerke ermöglicht für Schleiermacher eine gleichsam religiöse Erfahrung des Absoluten.11 An seiner begrifflichen Verbindung der Sphären von Kunst und Religion äußert sich seine Hoffnung auf eine neue Art der religiösen Erfahrung, die das Endliche transzendiert und einen Zugang zum Universum ermöglicht.12

Der Versuch, eine mythische Welt zu restituieren, in der die Oppositionen von Endlichem und Unendlichem, Einheit und Vielfalt, Individuum und Gemeinschaft, Absolutem und Relativem, Subjekt und Objekt aufgehoben sind, führt bei Schlegel über die ästhetisch liminale Sphäre einer anderen Realität, eines „verdoppelte[n] Leben[s]“13, in dem Einbildungskraft und Denken verschränkt sind. Dieses Leben muss, wie der Philosoph in seiner dem Gespräch über die Poesie eingelagerten „Rede über die Mythologie“ betont, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen“14. Mit seinem Entwurf der „progressiven Universalpoesie“15 löst Schlegel das ästhetische Desiderat einer Kunst als Gefäß des Absoluten schließlich ein. Die programmatische Forderung nach einer Poesie, deren metaphysisches Einheitsstreben gerade auf der Sprengkraft von unterschiedlichen Sphären der Erkenntnis und Wahrnehmung beruht, wie es Schlegels Chiffren der „Symphilosophie und Sympoesie“16 nahelegen, zielt nicht lediglich auf ein inklusives, zwischen den verschiedenen Gattungen und Erkenntnisebenen vermittelndes Konzept. Vor allen Dingen ist damit die dynamische Komponente einer Kunst angesprochen, in der Sein als beständiges Werden erscheint, das im Prozess fortwährender Umcodierung von Sinn niemals an sein Ende gelangen kann.

Als Quintessenz romantischer Kunstphilosophie für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts extrahiert Karlheinz Bohrer die Vorstellung einer ästhetisch-metaphysischen „Vagheit“, eines „enigmatische[n] Surplus des ästhetischen Eindrucks, das sich nicht mit einem Signifikat identifizieren lässt.“17 In der Tat erhält das Begriffsinventar quasireligiöser Erfahrung im kunstphilosophischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter gewandelten Vorzeichen eine Wiederbelebung. So überführt Adorno die kunstreligiöse Prämisse der Vereinigung von Gegensätzen im Zeichen der Erfahrung von Totalität in sein Konzept ästhetischer Negativität. Kunst erhält demnach in ihrer negativen Form als Antidot gegen die Wirklichkeit ihre Berechtigung. Mit Lyotard wiederum wird die Erfahrung des Erhabenen als unmittelbare Erfahrung des Undarstellbaren ausgewiesen, die unter der Erscheinungsqualität des Instantanen die „Botschaft […] von nichts, das heißt von der Präsenz“18 selbst übermittelt. Der Lyotardsche Begriff des Erhabenen stiftet mithin eine spezifische „Aufmerksamkeit für das Inkommensurable und Flüchtige, das Ereignishafte, Nicht-Bestimmbare, das sprachlich nicht Verallgemeinerbare und darin tief Verstörende in allen unseren Erfahrungsvollzügen“19.

Im ästhetischen Kosmos Schlingensiefs zeigen sich die romantischen Prämissen des Unbestimmten und Prozessualen ebenso wie deren Aktualisierung unter den Bedingungen der Negativität und des Erhabenen als elementare performative Grundprinzipien, die im Knotenpunkt individueller Mythologie zusammenlaufen. Die dynamische Qualität künstlerischen Sinns spitzt er zum Darstellungsideal eines fortwährenden Sinnüberschusses zu, das die Grundsätze der Logik wie auch das Darstellungsparadigma der geschlossenen Repräsentation im Geiste avantgardistischen Avancements abstreift und stattdessen von der formsprengenden Kreativität des Künstler-Ichs ausgeht. Sein eigenes künstlerisches Gesetz hat der Regisseur dabei ganz offensichtlich in der ästhetischen Funktionalisierung von Widersprüchlichkeiten aufgespürt. Die Kategorie des Negativen, die Schlingensief in seinen künstlerischen Akten als Widerstand gegen jegliche Form von Eindeutigkeit aufbietet, fungiert dabei also nichtsdestoweniger als Absolutum. Darin durchaus Adorno folgend, erschuf er auf diese Weise eine Kunst, die „die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt“20.

Mit Beharrlichkeit arbeitete Schlingensief gegen die Widersinnigkeit der Realität an, indem er die Paradoxien, die das Leben bereithält, in seine Kunst inkorporierte. Von der provokativen Wiederholung politischer Parolen, wie „Ausländer raus“ und „Nazis rein“21, über die rhetorische Umkehrung pädagogischer Lebensweisheiten in kontrafaktische Formulierungen, wie „Scheitern als Chance“, „Jage zwei Tiger!“ und „Können des Nichtkönnens“22, bis hin zu Oxymora, die in den Wendungen „Kirche der Angst“, „Erinnern heißt Vergessen“ und „Unsterblichkeit kann töten“ einen tieferen philosophischen Gehalt entbergen sollen, setzte der Künstler wiederholt einander unvereinbare Vorstellungskomplexe in eins. Die zahlreichen Auftritte des Regisseurs in seinen eigenen Inszenierungen wiederum gehorchten dem Prinzip des Selbstwiderspruchs. Sein Spiel mit der Überlagerung kontradiktorischer Modi der Erfahrung von Wirklichkeit zeigt sich vor allem daran, dass er als Akteur stets jene künstlerischen, philosophischen und politischen Äußerungen ironisch kommentierte, konterkarierte oder provokativ zurücknahm, die er in seiner Funktion als Regisseur etabliert hatte. Ein ähnlich ausgeprägtes Prozessdenken liegt auch der künstlerischen Entwicklungslogik zugrunde, nach der seine unterschiedlichen Theaterarbeiten miteinander verbunden sind: So spinnen seine Inszenierungen stets Elemente aus seinen vorangegangenen Arbeiten weiter – auch um den Preis, dass sie sich bisweilen in einen innerästhetischen Kommentierungs- und Verweisungszusammenhang verstricken und dem uninformierten Rezipienten auf diese Weise verwehren.

Mit diesen performativen und rhetorischen Widersprüchen offenbarte der Regisseur das kreative und epistemologische Potential von existentiellen Antagonismen. Die Entbergung tieferer Wahrheiten, so scheint es, war für ihn ausschließlich über den Zusammenprall einander ausschließender Grundsätze zu erhalten. Seine nahezu unerschütterliche Gewissheit, dass die Wahrheit zugleich das Eine und das Andere sei, führte Schlingensief auf ein persönliches Mythologem zurück. So erklärte er seinen Hang zum Widersprüchlichen wiederholt zur conditio seiner Existenz. Bereits als Kind habe er auf die Frage seiner Mutter, ob ihm das Essen geschmeckt habe, stets mit den Worten „‚Kann sein, kann aber auch nicht sein‘“23 geantwortet. Mit dem Selbstbild eines geradezu zwanghaften Wahrheitssagers, das der Dramaturg Carl Hegemann gar als physisches Unvermögen zur Lüge stilisiert hat,24 untermauerte der Regisseur die Genese seines polyperspektivischen, ebenso autobiographischen wie ästhetischen Narrativs. Eine äquivalente biographische Anekdote aus der Kindheit legte er seiner filmischen Schichtungstechnik zugrunde: Ein technischer Lapsus seines Vaters, der einen Filmstreifen doppelt belichtete, bescherte ihm die prägende Erfahrung zweier Filmbilder in einem.25 So erwächst aus der diskrepanten Überlagerung von Sinneinheiten und Bildern Schlingensiefs hermetisch holistische Kunst der „Sympoesie“, die das Paradoxe, d.h. das Negativ des Sinns, vor dem persönlichen Erfahrungshorizont zum Absoluten stilisiert.

In seinen autobiotheatralen Inszenierungen nun versetzte er sein in der Vergangenheit gelebtes und in der Gegenwart erlebtes Ich in dieses Spannungsfeld von Selbstdifferenz und synthetisierender Totalität, das Reibungen zwischen Religion und Kunst sowie Avantgarde und Kitsch zuließ. Schlingensiefs in diesem Sinne paradoxal gefasste existentielle Spurensuche in Eine Kirche der Angst (inklusive des Satellitenwerks Der Zwischenstand der Dinge) und Mea Culpa, mit der sich seine Rückschau auf sein Leben und seine Kunst mit seinen Reflexionen über den bevorstehenden Tod vermischten, führte auch das deutschsprachige Feuilleton aufgrund des Zusammenfalls von Faktualität und Fiktionalität offensichtlich an die Grenzen seiner Sprach- und Beurteilungsmöglichkeiten. Der Regisseur, der sein Leben zum Sujet seiner Inszenierungen machte, spaltete die Kritiker grosso modo in zwei Lager: aus der Sicht der Einen provozierten die Arbeiten Anteilnahme und sogar rituelles Gemeinschaftsgefühl, aus der Sicht der Anderen geriet die Selbstdarstellung zu einer hypertrophen Selbstentäußerung typisch Schlingensiefschen Zuschnitts. So liegt einer Vielzahl an Rezensionen das Lavieren zwischen ebenjenen Gegensätzen zugrunde, die Schlingensief mit seinen Inszenierungen zum Stilprinzip erhob. Der widersprüchlichen Verquickung von Authentizitätseffekten und synkretistischer Ich-Übermalung, von Entblößung und Maskierung, von egomanischer Selbstinszenierung und der Konstruktion eines rituellen Wir-Gefühls sowie, nicht zuletzt, von Religion und Kunst kamen die Rezensenten verständlicherweise nur durch eine rhetorische Wiederholung Schlingensiefscher Paradoxien bei.

In der feuilletonistischen Betrachtung der „Krebs-Trilogie“ schob sich aufgrund der Zurschaustellung der Krankheit insgesamt allerdings tendenziell die Haltung der Pietät vor diejenige einer schonungslos kritischen Hinterfragung der Projekte. Die von Georg Seeßlen bereits in den 1990er Jahren angesprochene „mögliche Unübersetzbarkeit des Schlingensiefschen Arrangements in die klassische Form des Textes“26 hatte sich im Moment des bedrohlichen existentiellen Zustands des Regisseurs und Protagonisten bewahrheitet. Der Art und Weise, wie Schlingensief sein persönliches Leid und seine Angst vor dem Tod auf die Theaterbühne brachte, schien mit konventionellen normativen Bewertungskriterien jedenfalls nicht mehr beizukommen zu sein.