Kitabı oku: «Das Schweigen redet», sayfa 2
Erster Teil: Das Schweigen redet:
1. Das Schweigen der Opfer
Wie können wir Worte sagen, die das Undenkbare fassen könnten?6
Prof. Dr. Albert H. Friedländer
Den Biographien derer, die diesen Krieg weder anzettelten noch führten, ihn aber mit ihrer Gesundheit und dem Leben bezahlen mussten, widmet man sich in letzter Zeit häufiger. Im Osten durften die Schicksale dieser Menschen gar nicht erst erwähnt werden. Und auch im Westen wollte man die düsteren Erzählungen darüber, wer gerade noch davongekommen war, nicht hören: Man war im Schlussstrich- und Aufbaufieber. Für die Nicht-Davongekommenen aber gab es keinen Schlussstrich; durch Albträume und körperliche Schäden wurde aus ihrer Vergangenheit tägliche Gegenwart.7 Was machten sie mit diesem Dilemma? Die meisten wählten aus Selbstschutz eine Lebensform des Schweigens über das, was in Wahrheit ihre wichtigste Angelegenheit war.
Am besten konnten viele überleben, indem sie ihren Schmerz einschlossen und über die Wunden, die sie täglich spürten, mit möglichst niemandem sprachen. Der Überlebende Elie Wiesel begründet diese Haltung so: „Jene, die es nicht erlebt haben, werden sowieso nie wissen, wie es war; jene, die es wissen, werden es nie sagen; nicht wirklich, nicht alles.“8
Wenn wir nun unseren Blick genauer auf das Schweigen der Opfer und anschließend der Täter werfen, ist ein differenziertes Vorgehen geboten. Schweigen und Schweigen sind nicht dasselbe. Der Psychologe Jürgen Müller-Hohagen sagt: „Es gibt nicht das eine Schweigen, die eine Schuld, die eine Angst, die eine Traumatisierung, die eine Gewalt, sondern jeweils sehr verschiedene, unter Umständen sogar gegensätzliche Formen davon, je nach Kontext, der im Hintergrund steht. Klar ist: Das Schweigen der Verfolgten ist ein anders Schweigen als das Schweigen der NS-Tatbeteiligten.“9
Dabei ist aber die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nicht immer ganz präzise.
Die Einteilung z. B.: SS-Männer waren brutal und verbrecherisch; KZ-Häftlinge waren edle Menschen; Mitläufer waren harmlos; Wehrwirtschaftsführer waren Komplizen des Terrorsystems; Angehörige der besiegten Völker beteiligten sich an Verbrechen nur unter Druck, mag in vielen Fällen zutreffen, in anderen jedoch auch nicht. Der Alltag bestand oft aus Mischformen, und so dürfen wir ein Grobraster nur als Orientierungshilfe im Dschungel auf der Suche nach Durchblick ansehen.
Auch bei den Opfern waren solche, die Schuld auf sich geladen und anderen Schlimmes angetan haben. Es gehörte ja zur perfiden Strategie der Nazis, die Verfolgten in den Konzentrationslagern und Ghettos dazu zu missbrauchen, an der eigenen Verfolgung bis hin zur Vernichtung mitzuwirken. Es war eine Welt, in der man das eigene Überleben eine Zeitlang sichern konnte, andere Häftlinge zu denunzieren, zu bestehlen, zu verraten und dem Tod auszuliefern.10
Im August 2012 berichtet der Holocaustüberlebende Shlomo Graber hierzu in einem Interview:
Jedes KZ hatte jüdische Stubenälteste (Kapos). Sie waren bereit, den Nazis zu dienen, um selbst eine bessere Position im KZ zu haben. Das haben sie oft auf sadistische Weise erreicht. Jankel Tannenbaum war so einer. Die israelischen Medien hatten viel über diesen Fall berichtet. In den sechziger Jahren bekam ich in Tel Aviv einen Anruf von der Polizei. Eine Spezialeinheit, die Kollaborateure aufspürte, hatte ihn aufgegriffen. Die Polizei zeigte mir ein Album mit vielen Gesichtern, und plötzlich schrie ich auf, da ich Jankel Tannenbaum erkannte. Der Hass vieler Menschen auf ihn, auch meiner, war unermesslich. Auch einige Juden haben ganz schlimme Sachen gemacht, indem sie den Holocaust für ihre Zwecke missbrauchten.11
Es gab aber auch Unteroffiziere und Offiziere der Waffen-SS, welche Medikamente aus der eigenen Tasche bezahlten und den Häftlingen gaben und dabei ihr Leben riskierten. So berichtete es Viktor Frankl, der Begründer der sinnzentrierten Psychologie, der Logotherapie und Existenzanalyse, welcher vier Konzentrationslager überlebte. Seine eindrücklichen Erfahrungen beschrieb er in seinem Buch: „Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.”12
Dennoch, ob es sich um unterlassene Hilfeleistung handelt oder um Denunziation eines Häftlings aus Todesangst, so ist ein solcher Tatbestand grundsätzlich anders zu betrachten als die Täterschaft der Verfolger, die in ihrer Dimension wiederum mit der Kollaboration eines Opfers kaum vergleichbar ist.
Warum schweigen die Opfer über das, was sie im Krieg erlebt haben? Weil es für das, was sie erlebt haben, keine Worte gibt. Über das Unsagbare kann nicht gesprochen werden. Den Raum des Unsagbaren hat Hans Keilson einmal mit den Worten „wohin die Sprache nicht reicht“ beschrieben.13 Erzählen, was man erlebt hat, gehört zu den normalen Regungen der Persönlichkeit und ist notwendig für unsere Gesundheit. Das Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ sagt etwas davon. Seinen Schmerz mit keinem teilen zu können bedeutet nicht nur, dass der Schmerz nicht geteilt wird. Es führt auch dazu, dass der Schmerz Fehlentwicklungen und Krankheiten zur Folge hat.
Der Überlebende hat die Fähigkeit verloren, sich mit der Welt zu verständigen. Er ist in eine Lage zurückversetzt worden, in der es keine Realität gibt, die er beeinflussen kann, um wieder normale Verhältnisse aufzubauen. Aus vielen Gesprächen mit Überlebenden wissen wir, dass sie es nicht fertigbrachten, von den Erniedrigungen zu erzählen, die sie erlebt hatten. Die Scham verschloss ihnen den Mund. Im November 2011 luden wir Wassili Michailowski als Zeitzeugen der Judenverfolgung in der Ukraine zu einem Vortrag in unserer Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (Schweiz) ein. Er zählt zu den wenigen Überlebenden des Massakers von Babij Jar, einer der größten Einzelmordaktionen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs: Am 29. und 30. September 1941 wurden in der Schlucht Babij Jar bei Kiew 33 771 Menschen ermordet. Michailowski überlebte dank des Mutes einer Ärztin. Noch 60 Jahre später stand der 90-Jährige als ergrauter Mann vor seinem Schweizer Publikum und konnte nicht sprechen. Er brachte kein Wort heraus. Vor den betroffenen Besuchern bestand seine Botschaft einzig und allein aus seinem Schweigen.
Menschen, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben, sagen immer wieder, wie unsagbar schwer es ihnen fällt, über das Erlebte zu sprechen.
Für die Opfer selbst ist das Erzählen eine große seelische Belastung. Wenn sie erzählen, schildern sie nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie wähnen sich wieder im Lager, und alles wird Gegenwart.
Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel antwortet auf die Frage, warum ihm das Sprechen so schwerfällt, so:
Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl, darüber zu sprechen. Ich muss dann etwas sagen, aber habe immer Lust, etwas anderes zu sagen. Und es ist mir auch schon passiert, dass ich mittendrin aufhören musste, weil ich spürte, dass ich weinen würde. Ich weine nicht gern in der Öffentlichkeit, sogar wenn ich alleine bin, weine ich nicht gerne. Das ist ein Gefühl, dem man nicht entkommen kann.14
Im Jahr 2011 war der Zeitzeuge Michał Ziółkowski in meinem Haus zu Gast. Nur unter Tränen konnte er an diesem Abend sagen:
Als ich am 20. Juli 1940 ins Konzentrationslager Auschwitz kam, wurden wir in eine Liste eingetragen, und jeder bekam seine Nummer. In diesem Moment verabschiedeten wir uns von unserem Namen. Ich bekam die Nummer 1055. … Als alles überstanden war, habe ich am Anfang kaum etwas erzählt. Ich kann mich nur erinnern, als ich meine Frau geheiratet habe, haben wir 1950 eine Rundreise durch Polen gemacht und auch Auschwitz besucht, da habe ich am Tor angefangen zu erzählen, wie ich hierherkam und was ich hier erlebt habe. Aber auf Block 11, als wir zu den Stehzellen kamen – ich hatte unter anderem erzählt, dass ich hier in dieser Stehzelle war –, da brach ich zusammen, und mein Reden verstummte. Seit dieser Zeit sagt meine Frau, sie kommt nie mehr hierher. In der Familie, als die Kinder klein waren, hatte es keinen Sinn, von diesen schrecklichen Ereignissen zu erzählen. Später haben sie das Haus verlassen. (…) Jetzt in meinem hohen Alter, ich bin 83, beschäftige ich mich mehr als früher mit der Vergangenheit. Früher musste ich arbeiten, für meine Familie sorgen, da hatte ich keine Zeit, über dieses Thema nachzudenken, und deswegen sprach ich nicht darüber.
Abgewiesen von der desinteressierten Umgebung
Ein oft genannter Grund für das Schweigen ist der, dass es einfach kein Interesse daran gegeben haben soll, diese schrecklichen Geschichten zu hören, sei es in der Familie oder im Bekanntenkreis. Fast jede Familie hatte Schreckliches erlebt und war nicht an den Erzählungen anderer interessiert.
Nicht wenige formulierten den Grund ihres Schweigens etwa so: „Diejenigen, die es erlebt haben, wissen es schon. Die anderen wollen es nicht wissen.“ Den Betroffenen hätten viele nicht zuhören wollen. In der alten Umgebung sei man oft nicht willkommen gewesen. Überall hätte man sich mehr auf den Wiederaufbau konzentriert. Wenn Opfer ihre Geschichte erzählen, werden sie häufig von jenen, denen sie sich anvertrauen, ein weiteres Mal verletzt. Auch deshalb schweigen sie. Menschen identifizieren sich nicht gerne mit Opfern, sondern lieber mit Siegern. Darum werden Opfer – ob bewusst oder unbewusst – häufig mit Verachtung gestraft.
„Man wollte uns einfach nicht zuhören. Weil wir eine Schande für die Menschheit waren. Man hatte Mitleid mit uns. Ich selber habe zehn Jahre gebraucht, bis ich darüber sprechen konnte, und ich sage im Grunde ja nur wenig darüber, und ich sage es nicht sehr gut. Man wollte uns jedenfalls nicht zuhören“, konstatierte Wiesel.15
Am 13. Juli 2011 führte ich ein Gespräch mit Professor Ivan Lefkovitz. Als fünfjähriges Kind erlebte er mit Mutter und Bruder das ganze Ausmaß der Verfolgung: Kellerversteck, Gefangennahme, Gestapo-Gefängnis, Deportation, Trennung der Familienmitglieder, KZ Ravensbrück, Vergasung seines Bruders, Todesmarsch, anschließend KZ Bergen-Belsen, Typhus, Befreiung am 15. April 1945 durch die Engländer. Am Schluss eines langen Gespräches stellte ich ihm die Frage: „Wie kommt es, dass Holocaustüberlebende es oft so schwer haben, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und auch den eigenen Verwandten gegenüber, oft ein Leben lang schweigen? Ihnen wurde Böses getan. Sie hätten doch die Möglichkeit, darüber zu sprechen?“ Darauf antwortete mir Lefkovitz: „Es ist schwierig für mich, dies im Allgemeinen zu beantworten. Ich kann es aus der Sicht unserer Familie erzählen, das heißt, meiner Mutter und mir. Wir kehrten aus Bergen-Belsen zurück und stellten fest: Erstens haben nur wir zwei überlebt. Zweitens war es schwierig, den Leuten zu erklären, um was es eigentlich ging. Wir wurden oft mit der Bemerkung unterbrochen, dass es bei anderen genauso schlimm gewesen wäre. Wir stellten fest, dass Dinge, die nicht vergleichbar sind, durchaus von anderen verglichen wurden. Deshalb zogen wir das Schweigen vor. Aber es waren auch ganz triviale Gründe: Wir kamen zurück und hatten nichts, nicht einmal einen Koffer mit unseren Sachen. Leute sprachen uns auf der Straße an und sagten, dass von den Dingen, die wir bei ihnen deponiert hätten, nichts übrig geblieben sei. Unser Hab und Gut wurde entweder von den Deutschen oder den Russen weggenommen. Wir sahen so viel Unverständnis, dass es am besten war zu sagen: ‚Schwamm drüber.‘ Wir reden nur darüber, was jetzt ist, und nicht von dem Vergangenen.“
Aber es gab auch andere Gründe. Ich habe festgestellt, dass meiner Mutter die Fragen, die ich ihr eventuell stellen würde, wehtun würden, und das wollte ich nicht. Ich verdeutliche es an einem Beispiel: Da gab es eine Frau, sie war Apothekerin, genau wie meine Mutter. Sie kehrte aus Auschwitz zurück, wo ihr Mann und ihre zwei Söhne ermordet worden waren. Sie blieb alleine zurück. Wenn sie zu uns zu Besuch kam, umarmte sie mich und sagte, dass es schön gewesen wäre, wenn ihr Sohn noch leben würde. Dann sagte sie zu meiner Mutter: ‚Du bist doch so glücklich, dass du deinen Sohn noch hast, ich habe niemanden.‘ Ich hörte das alles, und die Reaktion des Elf- oder Zwölfjährigen, der ich damals war, war es, diese Frau zu meiden. Ich wusste, dass ich ihr durch meine Präsenz wehtue, weil sie durch mich an ihr tiefes Unglück erinnert wird.“16 Sogar unter Leidensgenossen war es also sehr schwer, das jeweils Erlebte zu teilen.
Erlebte Traumatisierung verschließt den Mund
Die anhaltende Traumatisierung durch die Bedrohung, die Flucht, die Ermordung der Angehörigen, durch den Verlust der Heimat und schließlich das erwähnte Desinteresse derer, die den Berichten misstrauten bzw. diese nicht hören wollten, haben so schwer gewogen, dass viele Opfer das Schweigen als Lebensweise angenommen haben. Unzählige, die überlebt haben und über ihre Erfahrungen nicht zu sprechen vermögen, tragen ein Leben lang die Folgen ihres Schweigens, was nicht ohne Wirkung auf Kinder und Kindeskinder bleibt.
Es wäre zu einfach, bei diesen jahre- und jahrzehntelang andauernden Verhaltensweisen von „Traumata“ zu sprechen. In der gängigen medizinischen Betrachtung ist ein Trauma die psychische Reaktion eines Einzelnen auf ein akutes, überwältigendes und mit Lebensgefahr verbundenes Geschehen. Bei betroffenen Menschen folgt vielfach nach relativ kurzer Zeit eine deutliche Erholung. Bei Kriegsopfern und speziell bei den Opfern des Holocausts aber verhält es sich oft anders: Ihre Erkrankung erstreckt sich über Jahrzehnte oder über das ganze Leben. Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ ist hier durchaus eine adäquate Bezeichnung. Eine posttraumatische Belastungsstörung beginnt in der Regel dort, wo das Trauma aufhört.17
Die in diesem Sinn traumatisierten Menschen leben sozusagen seelisch zerstört in dem „Gefängnis“ ihrer Trauer und ihres Schmerzes. Als Folge der traumatischen Beeinträchtigung ist es für die Betroffenen unmöglich, auf das zeitgeschichtliche Geschehen flexibel zu reagieren und sich im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.18
Der Psychologe G. William Niederland hat den Begriff „Überlebenden-Syndrom“ geprägt:
[B]ei aller Unterschiedlichkeit der Begrifflichkeiten handelt es sich im Wesentlichen um Schmerz, Pein und große innere Drangsal […] die frühere Lebenslinie wurde durch Verfolgung abgeschnitten – vollständig und oft in grausamster Weise. So entstand ein zumeist unheilbarer Knick in der Lebenslinie […] nach der Rettung kam es zu Depressionen und Angst. Die Angst mündete bei vielen in quälende Empfindungen des ständigen Sich-fürchten-Müssens mit begleitenden körperlichen Zustandsänderungen (Herzklopfen, Atemnot, Händezittern, Schwäche) ein. Die seelischen Störungsbilder zeigten sich in der Form von ängstlichem Erregtsein, innerer Spannung und nervöser Unruhe, Angst- und Albträumen, unausgesprochenen phobischen Erscheinungen wie plötzlichem Zusammenschrecken beim Hören der Türklingel oder beim Anblick von uniformierten Menschen auf der Straße. Misstrauen, Furcht und Argwohn beherrschten die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt der so Geschädigten. Das Verbrechen am Seelenleben dieser Menschen hält an.19
Der Psychologe Weitzel-Polzer ergänzt die Liste durch folgende weitere Beobachtungen:
Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen
gestörte Selbstwahrnehmung mit Ohnmachtsgefühl
Selbstbezichtigung, Beschmutzungsgefühl oder Stigmatisierung
das Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden
ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter
unrealistische Einschätzung des Täters, Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
Übernahme des Überzeugungssystems des Täters
Beziehungsprobleme mit Isolation und Rückzug
gestörte Intimbeziehungen
wiederholte Suche nach einem Retter
anhaltendes Misstrauen
Verlust fester Glaubensinhalte
Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
andauernde Gefühle des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit
Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)
Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten
Suizidgedanken
Depressionen
Alkoholmissbrauch
Hinzu kommen noch in bestimmten Situationen Angst auslösende Assoziationen, die Erinnerungen wachrufen wie Hundegebell, dichtgedrängte Menschenmassen, Feuerwerkskörper, Kindergeschrei oder Sirenen. Opfer des Holocausts haben oft das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Verlassenseins und des Nichtgewolltseins.20
Bei einer so umfangreichen Liste von Symptomen ist es sehr verständlich, dass manche Opfer das Erlebte nicht nur verdrängen, sondern sogar versuchen, es von ihrer eigenen Person abzuspalten, so als wäre das Verbrechen nicht an ihnen, sondern an jemand anderem begangen worden.
Zwischen Überlebenskraft und Zusammenbrüchen
Gerade wegen dieses verdrängenden Schweigens waren viele paradoxerweise zu einem vollen, nützlichen und produktiven Leben imstande, immer danach strebend, ihre unaussprechlichen Verluste wiedergutzumachen.
Das unbewusste Schweigen diente dazu, den Überlebenden in ihrem Daseinskampf zu helfen. Die Welt nach 1945 forderte von den Zurückgekommenen Verleugnungen zugunsten der Wiederanpassung: „Und tatsächlich haben sie sich angepasst, haben Familien gegründet, haben Karriere gemacht. Und es fehlte ihnen die Zeit zum Sprechen.“21
Forschungsergebnisse der israelischen Sozialmedizin weisen darauf hin, dass man den überlebenden Opfern im Alltag ihre verborgene verschwiegene Last oft nicht ansah.22
Im Gegenteil: Sie wirkten oberflächlich betrachtet oft zäher und abgehärteter als nicht betroffene Zeitgenossen.
Vierzig Jahre nach der Schoah, nach einem abgehärteten Leben, brechen auffallend viele psychisch zusammen und suchen erst am Ende ihres Lebens – wesentlich öfter als andere Gleichaltrige – psychologische Beratung. Sie wollen sich jetzt aussprechen, meiden aber für ihr Anliegen Kliniken und Psychiater.
Der Holocaustüberlebende und Kinderpsychiater David de Levita (geb. 1926) begründet dieses Phänomen so: „Im Laufe der Jahre, nachdem man überlebt hat, halten sich zwei Komponenten die Waage: die Schuld, dass man überlebt hat, und der Triumph, dass man überlebt hat. Im vorgerückten Alter jedoch ist der Triumph dahin. Man steht der unausweichlichen Tatsache des eigenen Todes (ein zweites Mal) gegenüber. Diese Verschiebung ist der zentrale Konflikt des Überlebenden. Man hat in seiner Psyche verinnerlicht, dass man für immer dem Reigen des Todes entsprungen sei. Und jetzt zeigt sich, dass schließlich niemand dem Tod entkommt. So gibt es zwei Sorten von Überlebenden: Den einen geht es im Laufe ihres Lebens besser, weil sich ihr Schuldgefühl verringert. Die anderen brechen nach einer Periode der Latenz zusammen, weil das Gefühl des Triumphierens über den Tod, das sie in Gang hielt, im Angesicht des Todes zusammenschrumpft. Albträume, Angst- und Panikanfälle plagen plötzlich die älteren Leute der ersten Generation, die körperlich kerngesund sind und ein erfolgreiches Leben hinter sich haben. Die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes ist hier am stärksten, stärker als bei der relativ hohen Zahl der Überlebenden, die von körperlichen Erkrankungen geplagt werden. In ihrem Körper ist der Tod gleichsam bereits tätig und die Konfrontation somit weniger plötzlich.“23
Das Schuldgefühl, überlebt zu haben
Das Vorhandensein von Schuldgefühlen sagt noch nichts über objektive Schuld aus. So haben viele, die in der NS-Zeit nichts Böses getan haben, besonders die Nachkommen von Opfern, Schuldgefühle, etwa in der Art, dass sie sich beschuldigen, nichts oder nicht genügend Gutes bewirkt zu haben, oder dass sie sich selbst Vorwürfe machen, unverdient überlebt zu haben, während ihre engsten Angehörigen ermordet wurden.
Die eigentlich Schuldigen empfinden seltsamerweise häufig keine Schuldgefühle, während sich Menschen, die eigentlich schuldlos sind, mit Schuldgefühlen quälen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Schuldgefühlen ist somit auch keine Messlatte für das Ermitteln tatsächlicher, objektiver Schuld.
Im Jahr 2001 fragte ich Ursula Meißner, die als 20-jährige Schauspielerin unter Gustaf Gründgens in Berlin die jüdische Familie des Konrad Latte über längere Zeit in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, nach ihren Beweggründen. Sie antwortete: „Ich habe nur meine Pflicht getan mit meiner bescheidenen Hilfe, aber was mir im Rückblick viel Schmerz und Schuldgefühle bereitet: Warum habe ich nicht viel mehr getan und die mahnende Stimme meines Gewissens nicht viel häufiger und mehr beachtet?“
Die Reaktion auf eine Traumatisierung besteht also in oft unbewussten Scham- und Schuldgefühlen. Den direkt Betroffenen fällt es auch deshalb besonders schwer, sich zu öffnen. Sie ertragen das Leben am besten, wenn sie über das Erlebte schweigen. Dennoch besteht bei ihnen das unausgesprochene Bedürfnis, dass die Traumatisierung von ihrer Umgebung gesehen und anerkannt wird. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Menschen treffen, die das Dilemma behutsam aufspüren.
Nicht wenige waren von Überlebensschuldgefühlen geplagt, im Sinne von: „Alle anderen mussten sterben, ich habe es doch nicht verdient zu überleben.“
So empfand auch Erika Landau:
In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht. Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche im Lager zu gehen, nachdem ich den ganzen Tag zugesehen hatte, wie man Leute ins selbstgeschaufelte Grab hineinschoss, das ist kein Gefühl der Freude, überlebt zu haben. Das war ein Gefühl der Trauer und der Scham und des Schuldgefühls, dass ich zurück ins Lager gehen konnte und die anderen nicht.24
„Die Schuld des Überlebenden“, so stellte Robert Jay Lifton fest, „kennen alle, die Krieg, Naturkatastrophen etc. überlebt haben. … Das Opfer, nicht der Täter, fühlt sich schuldig.“25 Viele Überlebende des Holocausts empfinden nicht selten Schuldgefühle, weil sie sich selbst vor die Wahl gestellt sahen, entweder ihr Leben hinzugeben oder am Leben zu bleiben. Wie mutig und einfallsreich das Opfer auch immer war, es konnte damit die Katastrophe nicht abwenden. Wenn Opfer nach traumatischen Ereignissen ihr eigenes Versagen reflektieren und beurteilen, entstehen praktisch immer Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Karl Jaspers nennt dieses Phänomen „metaphysische Schuld“.26 Er beschreibt mit diesem Begriff ein Gefühl der Mitverantwortung für alle Ungerechtigkeit in der Welt nach der Logik: Ich bin mitschuldig, weil ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können, um das Unrecht zu verhindern. Können solche Schuldgefühle überhaupt angegangen und überwunden werden?
Wer aber kann den Opfern in ihrem tiefen Empfinden von Schuld eine Entlastung zusprechen? Jaspers nennt Gott als Instanz. Viele der Opfer haben aber Schwierigkeiten, sich an Gott zu wenden, weil sich damit unmittelbar die Bitterkeit darüber, dass Gott nicht eingegriffen hat, einstellt. Und sie stellen sich bisweilen die Frage: War in diesem Fall nicht Gott auch mitschuldig? Sie haben Zweifel an der Existenz Gottes, sie haben ihren Glauben an ihn verloren. Sie fragen sich, ob Gott nicht nur in Wahrheit ein bloßes Deckwort für „Niemand“ darstellt. Sie fragen sich, ob etwa die Aussage „Gott richtet“ nicht in Wahrheit dieselbe ist wie „Niemand richtet“.
Kein Gott? Kein Gericht? Keine Schuld? Wenn dem so wäre, dann handelte es sich bei ihren „Schuldgefühlen“ im Grunde nur um pathologische Symptome, die die „Normalen“ nicht ernst zu nehmen bräuchten. Das Verdrängen Gottes wäre dann nur ein möglicher Hinweis darauf, dass derart viele Opfer mit Schuldgefühlen es so schwer haben, über das Erlebte zu sprechen und sich anderen zu öffnen.
Überlebensschuld ist einer der fundamentalen Konflikte, die den Überlebenden bedrohen. Ein Gesicht der Schuld ist die Scham, die Neigung des Menschen, sich für das, was ihm widerfahren ist, zu schämen, auch wenn er gar keine Schuld daran hatte. Nirgendwo ist dieses Gefühl der Scham stärker als bei den Juden, dem Volk, das von seinen Feinden dazu ausgewählt wurde, ausgerottet zu werden. Es ist eine Scham, die über Jahrhunderte Juden zum Schweigen gebracht hat.