Kitabı oku: «Das Schweigen redet», sayfa 4
Großer Bogen um die einzige Lösung: Schonungslose Offenheit
Es neigt immer die erste Generation nach dem Ende eines Schreckenssystems dazu, die Geister der Vergangenheit in ihren Gräbern zu lassen. Nur nicht an den vergangenen Verbrechen und Wunden rühren.
Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Täter hat es geschafft, sich schonungslos und ohne Rechtfertigung der eigenen Schuld zu stellen. Nur mit einer solchen Haltung hätten sie Respekt bei ihren Kindern ernten und ihnen damit eine Brücke zur eigenen Lebensfindung bauen können.
Warum scheint es so unüberwindbar schwierig, sich der eigenen Schuld zu stellen? Im Fall des Holocausts liegt die besondere Schwierigkeit nicht im Verzeihen allein, sondern darin, dass die Schuld so „unverzeihlich“ schlimm ist. Eine „unverzeihliche“ Schuld aber kann und darf der Täter sich und anderen nicht eingestehen. Somit ist er weitgehend unfähig, um Verzeihung zu bitten.
Die Tochter des Leiters eines SS-Erschießungskommandos in der Ukraine wartete vergeblich auf einen Ausdruck von Schuldgefühl oder Reue für die Taten ihres Vaters. Ein einziges Wort hätte sie von der Last ihres inneren Gefängnisses befreit:
Ich glaube, es wäre für mich leichter gewesen, wenn mein Vater mir gesagt hätte, was er gemacht hat, wie er darunter gelitten hat und was er daraus gelernt hat. Und das ist eigentlich der wichtigste Punkt: Mein Gefühl, dass er überhaupt nichts gelernt hat, nichts aus seinem persönlichen Schicksal, nichts aus der politischen Entwicklung, nichts aus der Geschichte – überhaupt nichts hat er gelernt. Die Geschichte meines Vaters belastet mich deswegen bis heute noch viel mehr, als ich es bisher geahnt hatte. Ich führe oft innere Dialoge mit meinem Vater, Dialoge, die es ja nie gegeben hat, als er noch gelebt hat. Ich denke, dass er seine Rolle als Familienvater nur aufrechterhalten konnte, indem er seinen Kindern gegenüber sagte, er sei unschuldig und das Urteil sei ein Fehlurteil. Wenn ich nun also mit ihm rede, denke ich manchmal, er würde vielleicht sagen, dass die Schuld, die er empfindet, zu groß ist, um sie uns gegenüber zu gestehen, im Gegensatz zu früher, als ich gedacht habe, dass er gar keine Schuld empfindet. Also in den ‚Gesprächen‘ mit ihm habe ich die Vorstellung: Wenn er die Schuld übernimmt, kann sie auch von mir weggenommen werden. Und ich bin ganz sicher, dass ich ihn damals unterstützt hätte, wenn er mir gegenüber seine Schuld eingestanden und auch sein Mitleid für die Opfer gezeigt hätte. In meinen Phantasiegesprächen bekennt er sich zu der Schuld, vielleicht auch, weil ich hoffe, er würde dann sehen, was er durch sein Verhalten angerichtet hat, dass er mich, meine Geschwister und meine Mutter unglaublich belastet hat.48
Indem der Vater seine Schuld nicht eingestand, wurde sie zur Schuld seiner Tochter.
Fehlgeleitetes Gehorsamsverständnis
Nicht wenige der Täter haben in ihrer Kindheit selbst erlebt, dass Erwachsene willkürlich oder unberechenbar mit ihnen umgegangen sind: Das Ausgeliefertsein ist ihnen insofern nicht fremd. Als Kind mussten sie Gehorsam leisten und bekamen niemals Gelegenheit, diesen zu hinterfragen. Somit konnten sie kein gesundes Verhältnis zum Thema Gehorsam entwickeln.
Kinder lernen im frühen Lebensalter Gehorsam, damit sie zunächst einmal ungefährdet heranwachsen und später zunehmend Selbstbestimmung erlernen können. Ab einem bestimmten Alter aber beginnt eine Fehlentwicklung, wenn man einem Kind nicht die Freiheit zum straflosen Hinterfragen gibt. Wer früh lernt, den Gehorsam über die eigene Person und die eigenen Gefühle zu stellen, kann keine eigene autonome Persönlichkeit entwickeln und schiebt später die Verantwortung für das Böse der übergeordneten Person zu. Menschen, die so erzogen wurden, können perfekt mit dieser delegierten Verantwortung leben. Die Bandbreite der somit erreichten „Schizophrenie“ reicht von der willenlosen Abspaltung der Gefühle bis hin zur pervertierten Gewaltbereitschaft. Vor dem Hintergrund eines gebrochenen Verhältnisses zum Thema „Gehorsam“ und der Abspaltung von Gefühlen vereinigen diese Menschen in sich Gesinnungen, die mit dem gesunden Menschenverstand niemals vereinbar sind.
Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, dann waren die Verantwortungsträger im Dritten Reich oft durch ihre so geartete, gespaltene Gefühlswelt für ihr heute so schwer nachvollziehbares Verhalten vorbelastet. Aus nicht hinterfragtem Gehorsam als oberstem Wert praktizierten sie im öffentlichen Leben eine andere Moral als zu Hause, ohne sich dieser Schizophrenie bewusst zu sein. Öffentlich überließ man die Bewertung der Moral der Obrigkeit, der man zu Gehorsam verpflichtet war. Nur im Privaten wurden die Werte ausgelebt, die dem normalen Moralkodex entsprachen. Die Widersprüchlichkeit verdrängte man. Der Gehorsam zum Führer als oberste nicht überbietbare und nicht hinterfragbare Gewissensinstanz bewirkte diese Spaltung, dass Menschen, die im privaten Bereich durchaus moralisch lebten, in ihrer politischen Karriere buchstäblich über Leichen gehen konnten.49
Ein Einfallstor für fehlgeleiteten Gehorsam ist die Minderwertigkeit. Ein Mensch, der sich seines Wertes und seiner Identität nicht sicher ist, ist gefährdet. Minderwertigkeit ist auch immer ein Türöffner für Anmaßung und Selbstüberschätzung. Zur Erhaltung dessen, worauf sie endlich stolz sein zu können vermeinen, sind diese Menschen geneigt, Dinge zu tun, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden: Den Gehorsam hinterfragen sie nicht, wenn er ihnen Vorteile bringt. Aus der Minderwertigkeit heraus werden dann Rangordnungen erstellt, die definieren, was der Einzelne wert ist. Der Schritt von der Klassifizierung von Menschen bis zu ihrer Entwürdigung, zur Definition von Herren- und Sklavenrassen, ist klein. Die eigene Minderwertigkeit kann also in eine solche Anmaßung führen, dass in Kategorien von Herren- und Sklavenrassen, von lebenswertem und lebensunwertem Leben, gedacht wird. Es wird bestimmt, welches Leben gefördert und welches eliminiert werden muss, weil es krank, schwach oder fremd sei.
Die Autobiografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß verdeutlicht, dass es pflichtbewusste, autoritätsgläubige und zum gehorsamen Dienen erzogene Menschen waren, die sich einreden ließen, die Beseitigung von Millionen von Menschen würde einen Dienst an Volk und Vaterland bilden. Höß, ein durchschnittlicher Mensch, nicht bösartig, sondern ordnungsliebend, pflichtbewusst und ausgesprochen moralisch, gibt uns ein Beispiel dafür, dass auch private Integrität nicht vor Inhumanität bewahrt, sondern pervertiert und in den Dienst eines kollektiven Wahnsinns gestellt werden kann, ohne dass der Einzelne der Unmoralität seines Handelns gewahr wird. Gerade hierin besteht der Nährboden für den scheinbar unerklärlichen Fanatismus, mit welchem sich der Mensch, ohne es zu bemerken und ohne dabei dem privaten Moralkodex untreu zu werden, in den Dienst eines ‚höheren‘ Auftraggebers stellen kann, der ihn missbraucht.50
Höß zelebrierte mit seiner Familie jeden Morgen die Morgenandacht und hatte einige Tage lang Depressionen, nachdem seine Katze gestorben war (nachzulesen in seinen Tagebüchern), während er in seinem Berufsalltag die grauenhaftesten Hinrichtungen ohne jegliche Gewissensbisse mitverantwortete. Viele Naziverbrecher haben in Nürnberg und vor Gericht ausgesagt, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Der einzelne Täter floh damit quasi in die Kinderrolle. Er stellte sich in den Schutz des „Übervaters“.
Auch Eichmann brachte dieses Selbstverständnis zum Ausdruck: „Ich war nichts anderes als ein getreuer, ordentlicher, korrekter, fleißiger und nur von idealen Regungen für mein Vaterland, dem anzugehören ich die Ehre hatte, beseelter Angehöriger der SS und des Reichssicherheitshauptamtes … “51
Mit dem Beginn des Dritten Reichs wurde die deutsche Gehorsamstugend für pervertierte Ziele missbraucht. Die meisten Deutschen waren sich dieses Mechanismus nicht bewusst. So gerieten die sittlichen Grundbegriffe ins Wanken. An ihre Stelle traten nun aus pervertiertem Gehorsam entweder selbstquälerische Skrupel, die nie zur Tat führten (Mitläufer), oder aber verantwortungslose Skrupellosigkeit. Gerade die gehorsamen und pflichtbewussten Bürger wurden so zu Tätern. Sie haben Menschen ausgepeitscht, ausgehungert, ihnen Schmerzen zugefügt, sie auf Todesmärsche geschickt, sie mit Gewehrkolben niedergeschlagen, eingesperrt, in Ghettos gepfercht, bombardiert. Sie haben Mütter mit ihren Kindern auf den Armen erschossen.
Hitler selbst stand Pate für das übergeordnete personale Gewissen. Ihm gegenüber war blinder Gehorsam gefragt. Gegenüber dieser Gehorsamspflicht wurde das subjektive Gewissen als zweitrangig eingestuft. Der „Führer“ konnte ja nicht irren.
Aus diesem uneingeschränkten Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers heraus konnte Rudolph Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen vermerken: Ich habe auch beobachtet, dass Frauen, die ahnten oder wussten, was ihnen bevorstand, mit der Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen. Eine Frau trat einmal im Vorbeigehen ganz dicht an mich heran und flüsterte mir zu, indem sie auf ihre vier Kinder zeigte, die sich brav angefasst hatten, um die Kleinsten über die Unebenheiten des Geländes zu führen: ‚Wie bringt Ihr das nur fertig, diese schönen, lieben Kinder umzubringen? Habt Ihr denn kein Herz im Leibe?‘ … Ich erlebte auch, dass eine Frau aus der Kammer beim Zumachen ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief: ‚Lasst doch wenigstens meine Kinder am Leben.‘ So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen. Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod.52
Der Kadavergehorsam des nationalsozialistischen Mitläufertums war der gesamtgesellschaftliche Ausdruck von Strukturen, die in der Familie und ihren patriarchalischen Erziehungsformen bereits angelegt waren.
„In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erziehung von der als selbstverständlich geltenden obersten Sekundärpflicht des Gehorsams bestimmt. Ziel waren Anpassung und Unterwürfigkeit unter die jeweils gegebenen herrschaftlichen Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, und Ungehorsam sollten schon die Kinder als Schuld erleben. Dazu diente die ‚schwarze Pädagogik‘, die Dressur der ‚von Kindesbeinen an bösen‘ Raubtiere mit Zuckerbrot und Peitsche, in der Regel durch den Vater, der auch juristisch berechtigt war, seine Kinder und seine Frau zu schlagen. So gab er weiter, was er selbst als Kind erfahren hatte: Schmerz, Trauer, Vertrauensverlust, Entwürdigung, Schuldgefühle und Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Durch solche Beschämungen und Kränkungen wurden Trotz, Verstocktheit, Verbitterung, Hass, Rache und Rohheit begünstigt oder gar geschaffen, die sich dann auswirkten, wenn die ursprünglichen Opfer Gelegenheit bekamen, selbst zu Tätern zu werden. So wurde auch ich mit Rohrstock zu Hause und in der Schule erzogen, und man marschierte im Gleichschritt in der Hitlerjugend mit … Als Kind hatte ich ja – wie schon mein Vater – Mitgefühl nicht erlernt oder durch Schläge verlernt. Barmherzigkeit war schon vorher in der bürgerlichen Gesellschaft kein Wert und wurde im ‚Dritten Reich‘ manchmal schon mit dem Tode bestraft, wenn es nur geäußert wurde. Ich schäme mich heute noch meines Erstaunens, als ein Freund angesichts einer Frau mit Judenstern zu mir sagte: ‚Die armen Juden!‘ So etwas hatte ich sonst weder gehört noch gefühlt und selbst kurz vorher eingestimmt in den Ruf ‚Jude, Jude!‘, den Spielkameraden erhoben, als auf der anderen Straßenseite ein jüdischer Junge mit gesenktem Kopf vorüberging.53
Und die Tochter eines SS-Erschießungskommandoleiters in der Ukraine kommentiert:
Mein Vater war ein richtig korrekter Beamter, der bestimmt nie eine Schummelei gemacht hat mit einer Reisekostenabrechnung oder Ähnlichem. Er hatte das preußische Pflichtbewusstsein. Vor Gericht hat er gesagt, er habe gewusst, dass es Unrecht war, aber alles andere wäre absurd gewesen, er hätte keine Möglichkeit gehabt, diese Befehle zu verweigern, die er bekommen hat und weitergegeben hat. Es ist dasselbe Pflichtbewusstsein, das sonst auch etwas Positives sein kann, das ihn aber in dieser Situation versagen lässt: Wenn der Staat mir befiehlt, egal, wie verbrecherisch es ist, dann tue ich es einfach, weil ich ein pflichtbewusster Beamter bin.54
Die Theologin Dorothee Sölle zieht daraus die Schlussfolgerung: „In unserer christlichen, deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Gehorsam eine katastrophale Rolle gespielt. Ich vermute, dass wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren, und dass diese Kritik radikal sein muss.“55 Der Ausbruch der 68er Generation in den „Ungehorsam“ sollte auch im Licht dieser Gedanken betrachtet werden.
Gefangen im abartigen Weltbild vom „perfekten Garten“
Wenn der Mensch sich anmaßt, eine Welt zu erschaffen, in der das Böse eliminiert ist, dann richtet er eine Welt des Schreckens ein, in der das Böse herrscht.
Dierk Juelisch, Psychoanalytiker56
Adolf Hitler erklärte im April 1943 dem ungarischen Reichsverweser von Horty:
Sie (die Juden) sind wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken kann. Das ist nicht grausam, wenn man bedenkt, dass sogar unschuldige Naturgeschöpfe wie Hasen und Rehe getötet werden müssen, damit kein Schaden entsteht. Weshalb soll man die Bestien, die uns den Bolschewismus bringen wollen, mehr schonen?57
In einer Rede 1943 erntete Heinrich Himmler von niemandem Widerspruch, als er sagte:
Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ein ganz schweres Kapitel erwähnen … Ich meine jetzt die Ausrottung des jüdischen Volkes … Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Das durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.58
Es ist verblüffend, wie Himmler hier auch implizit zum Schweigen der Täter aufruft! Jürgen Müller-Hohagen kommentiert:
Diese Menschen waren verschmolzen mit der ‚Vision des Gärtners‘. Die ganze Gesellschaft sei nach dem Modell eines perfekten Gartens zu gestalten und alles Störende wie Unkraut auszurotten. Mit dieser Vision verschmolzen zu sein bedeutet den Einsatz der ganzen Person für dieses Ziel, und hier geht es aber, wie das Bild des perfektionistischen Gärtners anspricht, um Vernichtung.59
Der polnisch-britische Soziologe Zygmund Baumann bringt es auf den Punkt:
Der moderne Genozid ist ein Element des ‚Social Engineering‘. Die Beseitigung des Störenden sei eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. Diese Zielsetzung ist die Vision einer besseren, von Grund auf gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozid ist ein Instrument des ‚Social Engineering‘, mit dem eine soziale Ordnung etabliert werden soll, die dem Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht […] Das ist […] die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gelegt […] Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung […] Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schönere Ordnung des Gartens verhindert […] Der moderne Genozid, wie die moderne Kultur allgemein, ist eine gärtnerische Tätigkeit, sozusagen eine gärtnerische Pflicht innerhalb der gesamtgestalterischen Aufgabe […] Alle Vorstellungen von einer Gesellschaft als Garten verknüpfen bestimmte soziale Gruppen mit dem Begriff Unkraut: Unkraut muss ausgesondert, gebändigt, an der Ausbreitung gehindert werden, von der Gesellschaft ferngehalten, und wenn dies nichts nützt, vernichtet werden.60
Jürgen Müller-Hohagen bemerkt dazu:
Es ist ein erschreckendes Bild. Wir lieben Gärten, finden sie schön – und dann diese Nähe zum Holocaust? Aber dafür spricht nicht nur, dass mit dem Ungeziefervertilgungsmittel Zyklon B Menschen vernichtet wurden, sondern das Projekt eines sauberen Gartens hat wirklich viel mit den Vorstellungen zu tun, die visionäre Gewaltherrscher von Staat und Gesellschaft haben. Dann liegen aber Horror und Normalität eng beieinander, der Horror, der den ‚Schmutzigen‘ von denen bereitet wird, die sich für berechtigt halten und die Macht haben, zwischen ‚Sauber‘ und ‚Schmutzig‘ zu unterscheiden und vorzugehen wie ein Gärtner angesichts von Kräutern und Unkräutern […] Diese Bilder vom Gärtner helfen mir, manches Monströse eher zu begreifen, manches auf den ersten Blick nur monströs wirkende und doch von ‚normalen‘ Leuten Begangene, die Nähe von Kultur (edel auftretend) und bürokratisch organisiertem Massenmord, von Normalität und Terror […] Wie können Menschen derartige Grausamkeiten gegen Mitmenschen verüben? Wie kann sich die Sozialisation von ansonsten durchaus oder sogar sehr ‚normalen‘ Menschen zu Teilhabern an dieser ‚gärtnerischen Vision‘ gestalten? Die Vision des Gärtners, die man als kalt missverstehen könnte, hilft gerade, von den falschen Fragestellungen abzusehen, also Nazi-Täter nicht mehr bevorzugt nach dem Modell des Triebtäters begreifen zu wollen, sondern nach dem eines beflissenen Gärtners.61
Die Vorstellung vom verwahrlosten ungepflegten Osten wurde spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts greifbar, als die ärmsten ostjüdischen Emigranten auf der Flucht vor den Pogromen des russischen Zaren die Ostgebiete besiedelten. Sie galten als rückständig, schmutzig, unkultiviert und als Habenichtse. Der Krieg festigte dieses Bild als zu unterwerfenden und anschließend zu kultivierenden Raum gleich einem ungepflegten, dringend zu bearbeitenden Garten.62 Zum perfekten Garten gehörte konsequenterweise die Vorstellung einer ethnischen Flurbereinigung, die besonders von Medizinern und Sozialhygienikern verbreitet wurde.
Schon seit 1915 breitete sich die Vorstellung aus, die zu annektierenden Gebiete auch ohne deren Bevölkerung zu übernehmen. Eine entferne Verwandte Heinrich Himmlers, die Lehrerin Marianne Nässl, schrieb 1926 an den jungen Mann, dass es ihr ureigener Wunsch sei, dass das deutsche Volk gesunde und gereinigt werde von all dem Ungeziefer und den schlechten Elementen, die dazwischenstecken, damit es wieder voll und ganz seinen Platz ausfülle in der Welt und die Stellung einnehme, die ihm unter den Völkern gebührt. „Aber mit diesem Judengesindel durchsetzt, wie es heute ist, ist ja kein Aufkommen möglich.“63
So forderte in einer im Mai 1940 verfassten Denkschrift der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, dazu auf, den „ganzen Völkerbrei des Generalgouvernements“ aufzulösen, die „rassistische Siebung durchzuführen“, die „rassisch Wertvollen aus diesem Brei herauszufischen“. In einer Sitzung von Verwaltungsbeamten vom 11. März 1942 meinte Hans Frank, Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, dass man zwar in der Anfangsphase die polnische Bevölkerung noch als Arbeitskräfte brauche, nach dem gewonnenen Krieg aber könne „aus den Polen und Ukrainern und dem, was sich sonst noch herumtreibt, Hackfleisch gemacht werden“.64 In einer Ansprache vor SS-Führern am 24. April 1943 konnte Himmler Fortschritte verkünden: „Wir haben die Blutsfrage als erste wirklich in die Tat umgesetzt. […] Das ist genauso, wie sich jeder entlaust, sobald er das kann. Das ist aber keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse wegtut, sondern das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit. Genauso ist der Antisemitismus […] eine Reinlichkeitsangelegenheit, die ist ja bald ausgestanden. Wir sind bald entlaust, und dann ist es vorbei – in ganz Deutschland.“65
Wie kommt es, dass ein guter Mensch nur einen ganz kleinen Schritt tun muss, um sich plötzlich auf der Seite des Bösen zu befinden?
Das Böse kann sein Werk nur tun, wenn es sich uns in der Gestalt des Guten, des Edlen und des Notwendigen nähert und wenn dies in so kleinen Teilschritten geschieht, dass die Rechtfertigung der kleinen Einzeltat die Sicht für das Schreckliche der ganz großen Tat verblendet. Die Menschen, die das Böse tun, brauchen für ihr Handeln immer einen sie rechtfertigenden „ethischen“ Grund, den sie „höher“ bewerten können als die verwerfliche Tat, die sie gerade ausführen. Diese Tat wird dann in ihren Augen notwendig, muss tapfer durchgestanden werden, um diese gesteckte höhere Ebene zu erreichen. Genau das war beim Genozid des Dritten Reichs der Fall. Es gab einen „guten“, von vielen nachvollziehbaren Leitgedanken nach dem Motto: „Wir brauchen eine starke, reine, von aller Zersetzung befreite Rasse. Wir streben den perfekten, von Unkraut befreiten Garten an. Nur mit diesem großen und edlen Ziel vor Augen können wir uns zu der Führungsnation entwickeln, die wir sind.“ Dieser Gedanke klang in vielen Ohren edel, wertete das im Keller befindliche Selbstwertgefühl einer Nation auf und erhob eine resignierte Volksseele.
Etwas differenzierter sieht es der SS-Abwehroffizier Hans Georg Klamroth nach seiner Begegnung mit einer 22-jährigen vielsprachigen russischen Spionin aus Leningrad. Im November 1942 schreibt er in sein Tagebuch:
Ganz appetitlich anzusehen, dieses Mädchen. […] Da die Vertreter der russischen Intelligenz dünn gesät sind, halte ich es für falsch, die vereinzelten Pflanzen dieser höher entwickelten Gattung, selbst wenn sie zur Zeit noch giftig sind, ohne weiteres auszujäten, sondern möchte versuchen, sie durch Fremdbestäubung zur Mutation zu bringen. […] Diese Züchtungsversuche begegnen zwar höheren Orts vorläufig noch erheblichem Misstrauen, aber ich bin entschlossen, […] Vorschläge für gleichgerichtete Versuche zu machen.66
Die Naziverbrecher hatten mit diesem höheren Ziel ihr verwerfliches Handeln sich selbst gegenüber legitimiert. So war das Ziel des „perfekten Gartens“ wichtiger als der Schmerz, ein anmutig aussehendes Unkraut auszureißen, das durch seine Vermehrung den ganzen edlen Garten zerstören konnte. So mussten die Juden dran glauben, wenn es um die Reinerhaltung der nordisch-arischen Rasse ging, so musste die subjektive Gewissensbefindlichkeit zurückgestellt werden, wenn es um die Erhaltung der höheren Ordnung ging: den unbedingten Gehorsam dem Führer gegenüber.
Dabei dachte man nicht an das Verwerfliche eines Genozids. Der Massenmord diente einem guten Zweck. Viele kleine Schritte der Rechtfertigungen führten somit zur Blindheit für die perverse Fratze des schrecklichsten Massenmords der Geschichte.
Es war für mich faszinierend und zugleich erschreckend, diese kleinen Schritte in Richtung Perversion an den Biographien der prominentesten Nazitäter festzumachen. Die Schritte waren klein genug und die einzelnen Rechtfertigungen nachvollziehbar genug, dass sie gereicht haben, den Weg in die falsche Richtung abzuschreiten. Keiner von ihnen wäre in diese Richtung mit einem einzelnen großen Satz gegangen.
So waren viele der prominenten Naziführer in ihrer Jugend eher ängstliche, religiös geprägte Knaben mit einem überdurchschnittlich sensiblen Gewissen.
Die Tagebücher Himmlers, des prominentesten Massenmörders der Nazis, lohnen unter diesem Aspekt gelesen zu werden. So brachte ihn zum Beispiel das Mensurenschlagen in seiner schlagenden Verbindung in Konflikt mit seinem Glauben. Er war tief verunsichert, ob dieses Ritual vor der Kirche nicht als Sünde galt. Darüber führte er viele Gespräche mit seiner Familie und mit seinen Freunden. Er mahnte sich in seinen Tagebüchern ständig selbst, die Gebote zu halten, um aus sich einen „guten Menschen“ zu machen. Sexuelle Erfahrungen vor der Ehe lehnte er kategorisch ab. Der Verzicht auf körperliche Liebeserfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht fiel ihm schwer, aber er hielt es durch, um seiner Persönlichkeit keinen Schaden zuzufügen.67
So haben diese Menschen eine Meisterschaft darin entwickelt, ihr Gewissen täglich in kleinen Schritten abzustumpfen mit der Rechtfertigung einer höheren Moral, der es wichtiger ist zu folgen und derentwegen man die kleinen täglichen Morde und Perversitäten hinnehmen muss. Die meisten Naziverbrecher haben sich für durchaus sehr moralisch gehalten. Sie hatten den besseren Gehorsam dem Führer gegenüber gezeigt als die anderen. So sind einige von ihnen noch mit erhobenem Haupt als vermeintliche moralische Vorbilder bei den Nürnberger Prozessen aufgetreten.
Im März 1945 stehen die sowjetischen Truppen vor Wien. Eingekesselt von sowjetischen Stoßtruppen und unter dem ohrenbetäubenden Lärm der fallenden Bomben, hinterlässt der Reichsleiter Baldur von Schirach in einer Rede vor geladenem Festpublikum sein Vermächtnis, indem er die Worte von Moritz von Schwind zitiert: „Das Schöne ist das Allernotwendigste auf der Erde, das sei unser Credo. So wahr uns Gott helfe.“68 Sein Sohn kommentiert:
Alle diese gekonnten Handküsse, die austarierten Sitzordnungen, die nie vergessenen Blumensträuße, das artige Zerlegen von Artischockenköpfen, das arkanische Wissen um Anreden waren nichts wert, als es darum ging, das Gewissen zu schärfen und Mitmenschlichkeit zu beweisen. Die formvollendeten Manieren der Kriegsverbrecher und Rassisten konnten die Blutstropfen auf den maßgefertigten Glacéhandschuhen, Frackhemden und Gamaschen nicht unsichtbar machen; die geschliffenen Manieren erschienen mir, gerade wegen der Kultur und Bildung, die sie hervorgebracht und die so kläglich versagt hatten, besonders verwerflich.69
Bis unmittelbar vor dem Totalzusammenbruch war die Elite gefangen in dieser Lebenslüge, und nicht wenige Nazigrößen konnten sich auch nach dem Krieg, bekleidet mit einer Fülle guter Manieren und eingehüllt in ausgeprägter humanistischer Philosophie, unbemerkt wieder hohe Posten sichern.
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