Kitabı oku: «Alle, alle will ich», sayfa 2
AUS DEM REIGEN
EROTISCHER ABENTEUER
So vieles hat zugleich Raum in uns –!
Liebe und Trug … Treue und Treulosigkeit …
Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren.
Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen,
so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches … Das Natürliche … ist das Chaos.
Arthur Schnitzler, Das weite Land
VENUS
Arthur Schnitzler besucht das Akademische Gymnasium am Beethovenplatz und ist ein guter Schüler – eine Gedenktafel erinnert heute daran, dass dieses traditionsreiche Institut acht Jahre lang, von 1871 bis 1879, das Zentrum seines Lebens gewesen ist. Seine Inspiration für das eigene Schreiben, das er von Beginn an selbstbewusst „Dichten“ nennt, gewinnt der heranwachsende Jugendliche jedoch abseits der Schule: auf den Logenplätzen des alten Burgtheaters am Michaelerplatz, durch umfangreiche Lektüre und die Beschäftigung mit Musik. Und seit dem September 1878, die Matura ist nicht mehr fern, ist er verliebt in Franziska Reich, die so wie er am 15. Mai 1862 geboren ist. Er kennt „Fanny“ oder „Fännchen“, wie er seine „Jugendliebe“ nennt, die Tochter eines jüdischen Kaufmanns, schon seit seinem 13. Lebensjahr, von „ihrem inneren und äußeren Wesen“ weiß er allerdings „kaum mehr“, als dass sie blond ist, später wird er in seiner Autobiografie Jugend in Wien von ihr sagen: „Sie war leidlich hübsch, nicht eben dumm, und besaß gerade so viel Bildung, als man in jener Zeit den Töchtern mittlerer jüdischer Hausstände zu geben für nötig fand.“
Gemeinsam mit Fanny besucht Schnitzler die Tanzschule von Madame Crombé, man trifft sich im Rathauspark oder Volksgarten, findet in leidenschaftlichen Küssen und Umarmungen zueinander, tauscht Billetts und Liebesbriefe aus, die „damals in unseren Kreisen noch üblichen Grenzen“ werden aber nicht überschritten.
Doch längst haben Schnitzler und seine Schulkameraden eine andere Welt entdeckt: den „Zauber der Weiblichkeit“ in „seiner allgemeineren Art“, wie er es in Jugend in Wien vornehm umschreibt. Da sind vor allem die Dirnen auf der Kärntner Straße, „geschminkte und vielsagend zwinkernde Damen“, die Fantasie und Neugier der Gymnasiasten herausfordern, manche der älteren Schulkollegen wie etwa Adolf Weizmann, der an Syphilis erkranken wird, wissen bereits von konkreten Erlebnissen mit den „Huldinnen“ zu berichten. Ganz im Banne der ihnen zuteil gewordenen klassischen Bildung vergeben die Jünglinge an die Mädchen von der Straße Namen griechischer Göttinnen – es sind nun Venus, Hebe und Juno, die sie locken und reizen.
Ein beliebtes Zubrot für die „Göttinnen“ der Straße: erotische Fotografie. Aus der Mappe „Die Erotik in der Kunst“ von Cary von Karwath.
Auch Schnitzler ist neugierig. Schließlich findet er auch einen moralisch einwandfreien Vorwand für einen „ersten Ausflug“ in das „bedenkliche Revier“: Seine Auserwählte ist die „strohblonde“ Venus, er folgt ihr „an einem schönen Sommertag“ in ihre Absteige am Stock-im-Eisen-Platz. Das „hübsche junge Geschöpf“ zieht sich ganz ungeniert aus und präsentiert ihre Reize „nackt auf dem Diwan“, der Schüler Schnitzler, im „noch ganz knabenhaft zugeschnittenen Anzug, Strohhut und Spazierstöckchen in der Hand“, wagt nicht wirklich hinzusehen – er bleibt am Fenster stehen und erklärt der „zugleich gelangweilten und belustigten Schönen“, dass sie sich doch einen anständigen Beruf suchen solle, zur Untermauerung seines Appells liest er ihr noch entsprechende Stellen aus einem „zu diesem Zweck mitgebrachten Buch“ vor.
Venus, ihrem Berufsethos verpflichtet, hält dagegen: Sie versucht ihn zu verführen, scheitert damit jedoch ebenso wie Schnitzler mit seiner Bekehrungsmission. Immerhin: Er hinterlässt dem Mädchen beim Abschied zwei Gulden – Geld, das ihm die Mutter zum Kauf von Anton Gindelys Buch Grundriß der Weltgeschichte mitgegeben hat: „Seither bekam der Name Gindely in der Unterhaltung zwischen uns verworfenen Jünglingen eine überaus pikante Nebenbedeutung.“ Schnitzler, offenbar von Venus doch inspiriert, wiederholt seine Mission auch bei anderen Göttinnen der Kärntner Straße, „auf lange hinaus“, so berichtet er in Jugend in Wien, sei es ihm allerdings gelungen, den „Sündenfall in seiner biblischen Bedeutung“ zu vermeiden.
Nach den Göttinnen folgen Besuche bei einer „gewissen Emilie“, sie ist das erste Mädchen, das dem Schüler der Maturaklasse „nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gefährlich zu werden“ anfängt; als wohl damit im Zusammenhang die schulischen Leistungen ausgerechnet vor der Matura schlechter werden, entschließt sich Vater Johann Schnitzler zu einem drastischen Schritt: Er erbricht den Schreibtisch seines Sohnes und liest dessen Tagebuch – „große Scenen“ (TB, 19. März 1879) sind die Folge. Die Einträge über die intimen Begegnungen mit Emilie veranlassen Johann Schnitzler zu einer „furchtbaren Strafpredigt“, Sohn Arthur lässt sie schuldbewusst und „stumm“ über sich ergehen. „Zum Beschluß nahm mich der Vater mit sich ins Ordinationszimmer und gab mir die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten zu durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen.“ (Jugend in Wien)
Der Anblick der Kaposischen Tafeln wirkt in Schnitzler lange nach und bewirkt, dass er sich vor sexuellen „Unvorsichtigkeiten“ hütet, dennoch will er auch von Fanny Reich bald mehr als nur Küsse, ja, er macht sich, inzwischen schon Student der Medizin, „Hoffnung auf den Besitz des geliebten Gegenstands“ (TB, 12. März 1880), seine Überzeugung ist schon damals: „Wahre Liebe ist ohne Sinnlichkeit undenkbar.“ (TB, 14. April 1880) Und er entdeckt, dass ein Seitensprung seine Liebe zu Fanny „noch glühender“ macht, der Wunsch nach dem „Besitz Fannys“ beherrscht ihn völlig: „Mein Blut tanzt Cancan“, notiert er am 13. Mai 1880 im Tagebuch und: „All mein Blut pulst nur einer Stunde entgegen …“ (TB, 16. Mai 1880)
Doch Fanny, wohlbehütet von ihrer Familie, bleibt ihm versagt und Schnitzler findet die ersehnte sexuelle Erfüllung bei anderen Mädchen. Die Beziehung zu Fanny beginnt sich allmählich zu lockern und aufzulösen, nicht zuletzt auf Betreiben ihrer Eltern heiratet sie am 18. Juni 1888 Simon Lawner (1844 – 1896), den Generalrepräsentanten der französischen Lebensversicherungsanstalt „Le Phénix“, und übersiedelt mit ihm nach Bielitz (heute Bielsko-Biała). Ihr Mann stirbt im Sommer 1896, Fanny, inzwischen Mutter eines Sohnes namens Herbert, hat Schnitzler nicht vergessen und so schreibt sie ihm zu seinem 37. Geburtstag, der ja auch der ihre ist, einen Brief „mit Handarbeit“ (TB, 15. Mai 1899), in dem sie von der Möglichkeit eines Wiedersehens spricht. Schnitzler, der vor wenigen Wochen Marie Reinhard verloren hat, willigt ein – am Pfingstmontag 1899, es ist der 22. Mai, trifft er in der Secession mit ihr zusammen, ist „von ihrem jüdeln und plappern unangenehm berührt“, dennoch lädt er sie am Abend in den Riedhof ein. Fanny ist „sehr zärtlich“ und sagt, dass so „ein Wunsch“ erfüllt werde. (TB, 22. Mai 1899) Am nächsten Tag besucht ihn Fanny mit ihrem Sohn Herbert und am Abend des 24. Mai holen beide nach, was sie einst in ihren Jugendtagen versäumt haben: Schnitzler fährt mit ihr ohne weitere Umwege ins Hotel Victoria und schläft mit ihr. Im Tagebuch vermerkt er: „Anfangs ging sie mir auf die Nerven, dann siegte der Trieb! –“ (TB, 24. Mai 1899)
Ein nächstes Rendezvous wird vereinbart, doch zwei Tage später, inzwischen hat er die Angelegenheit durchdacht, schreibt er ihr ab, erklärt ihr, dass ein Wiedersehen nicht möglich sei. Fanny muss diese perfide Absage enttäuscht hinnehmen. Sie antwortet ihm am 31. Mai 1899 mit ehrlichen Worten: „Ich habe in Wien gesehen, daß du dich meiner schämst, ich begreife es ja vollkommen, weil ich doch eigentlich gar nichts bin, aber ein Herz habe ich doch, das läßt sich einmal nicht wegläugnen (sic!), als ich dich wiedersah brach die langverhaltene Liebe wieder hervor und das hast du mir so übel genommen.“ – Schnitzler gibt sich wieder einmal wenig beeindruckt, notiert „ganz netter Brief“; die Geschichte seines denkwürdigen Wiedersehens mit Fanny wird er wenig später in der Erzählung Frau Berta Garlan gestalten …
MARIE JOPPICH
Februar anno 1881. Auch wenn demnächst wichtige Prüfungen bevorstehen – der knapp 19-jährige Medizinstudent Schnitzler will den Fasching wieder einmal in vollen Zügen genießen, doch in das Vergnügen mischt sich immer wieder „Katzenjammer“. Noch immer gilt, was er am 13. Dezember 1880 im Tagebuch notiert hat: „Die nüchterne Atmosphäre der Gegenwart liegt bedrückend auf mir. Mir ist manchmal als wär noch ein Schritt zum Närrischwerden.“ Er fühlt sich „zersplittert zerfasert – weiss factisch nicht wo ein wo aus“ und schlägt „eine Masse Zeit todt“ (TB, 19. Februar 1881), sehnt sich nach „neuen Verhältnissen“ oder am besten gleich „in die Arme eines göttlichen Weibes, das mich verrückt macht“. (TB, 30. Jänner 1881) Alltäglichkeit, so meint der etwas versnobte junge Mann, kränkle ihn einfach an (TB, 1. Februar 1881), und so bleibt er trotz aller Zweifel unbeirrt neuen Genüssen auf der Spur – auch wenn er manchmal „gelangweilt“ von einem der Bälle „fortrennt“ und sich über sein eigenes „gespreiztes Wesen“ ärgert. (TB, 30. Jänner 1881) Am 5. Februar 1881 ist er auf einem Costumfest, es handelt sich wohl um den Neunten Elite-Maskenball in den Sophiensälen; er erscheint als „Rococo“, seine Jugendliebe Fanny Reich als Gretchen, „Freundin“ Franziska Mütter, für die er seit einiger Zeit intensiver empfindet, hat sich als Orientalin gekleidet. Während er mit Fanny erst gar „keine Sylbe“ spricht, nervt ihn Franziska, die so tut, „als wäre jene Geschichte nicht so vollkommen aus, wie sie es factisch ist“. Zum Glück gibt es da noch die amüsante und „ein bischen geistreiche“ Louise Goldm.“, eine „sehr hübsche“, als Türkin maskierte junge Sängerin, die dafür sorgt, dass sich Schnitzler unter all den „wunderhübschen Frauen“ bestens unterhält. (TB, 6. Februar 1881)
Eine Woche später, am Samstag, dem 12. Februar, steht der von Kronprinz Rudolf protegierte Studenten-Ball im Saal des Musikvereins am Programm, der „sehr amüsant“ verläuft (TB, 13. Februar 1881), und am 17. Februar besucht er das Techniker-Studenten-Kränzchen in den Sälen der k. k. Gartenbau-Gesellschaft, auch das keine schlechte Wahl, denn tags darauf stellt er im Tagebuch zufrieden fest: „Habe mich noch nie auf einem Ball so famos amüsirt.“ (TB, 18. Februar 1881) Grund dafür ist ein Mädchen, „Marie J. – eine Art Dorfschöne, mit der ich mich sehr wohl unterhielt, so zwar, dass wir ein gut Theil des Balles im Wintergarten im tête à tête verbrachten, ich am Samstag mit ihr ein Rendezvous habe – sie beim Tanze auf den heißen Nacken küsste.“ Marie fasst schnell Vertrauen zu ihrem Kavalier: Sie verspricht, ihm Briefe aus Purkersdorf zu schreiben, „ihrem ständigen Aufenthalte“, dann wird wieder, „unausgesetzt beinah“, getanzt – „in naher Berührung ihres jugendlichen holden schwellenden Leibes“. Schnitzlers Resümee: „Es war eine durch und durch sinnliche, dabei auch in Worten lustig sprühende, also echte und rechte Ballnacht.“ (TB, 18. Februar 1881) Marie Joppich, Jahrgang 1862, ist die Tochter eines Wirts aus Purkersdorf, ihr Vater führt hier „Joppich’s Gastgarten“, ein auch bei Gästen aus Wien allseits beliebtes Lokal gleich neben der Festwiese.
Das vereinbarte Rendezvous mit der „üppigen, rotbäckigen Blondine“ (Jugend in Wien) findet am nächsten Tag „bei der Brücke“ statt, Schnitzler geht mit ihr im Weghuberpark spazieren, das Treffen zeitigt offenbar keinen „Fortschritt“, aber immerhin: Einen Monat später, am 17. März 1881, trifft er sich mit ihr zu Mittag im Rathauspark, Schnitzler kann im Diarium verbuchen: „Küsse und anderweitiges verliebtes Zeug. Sie ist wirklich sehr hübsch.“ (TB, 18. März 1881) Wieder einen Monat später, folgt man dem Tagebuch, sieht er Marie ein weiteres Mal, das Prickeln bleibt allerdings aus: Ernüchtert heißt es im Tagebuch: „Urfad. –“
Schnitzler konzentriert sich nun auf seinen Kurs über Topographische Anatomie bei Emil Zuckerkandl, der im Jahr zuvor zum außerordentlichen Professor ernannt worden ist, obwohl ihm noch die Habilitation fehlt. Ab Anfang Mai wird er von Zuckerkandl im „physischen Labor“ zu „Handlangerarbeiten, als da sind einen halben Tag mit einem Knochenstück auf einer Glastafel herumreiben“, herangezogen (TB, 2. Mai 1881), dann folgt allerdings ausgiebig Erholung: Der Nachmittag wird „bis in den tiefen Abend hinein verspielt, verraucht, vertändelt, verplaudert, verbummelt … Ich bin für alles edle, schöne verloren – jeder tiefern Freude bar – und empfinde Sehnsucht nach Genuss – nach Rausch – vielleicht nach Liebe.“ (TB, 5. Mai 1881) Mit Fanny Mütter und einigen anderen Mädchen tut sich außer „Gekose und Geküsse“ mit „einem reizenden Mädchen, das mir nicht aus dem Kopf geht“ (TB, 7. Juni 1881), wenig; Grund für diesen depressiv gestimmten Eintrag ist nicht zuletzt das negative Urteil, das Burgtheaterstar Adolf von Sonnenthal über sein Stück Aus der Mode gefällt hat, das er auf Wunsch seines Vaters diesem zum Lesen geschickt hat. Vater Johann Schnitzler sieht sich in seiner Meinung bestätigt und spart nicht mit Vorwürfen und Ermahnungen, das Studium doch entsprechend ernst zu nehmen; für den 24. Juni notiert Schnitzler sarkastisch: „Zu Hause nettes Intermezzo“, am Tag vorher heißt es: „Im allgemeinen ist mir mein Zustand unerträglich.“ (TB, 21. Juni 1881) Und zum Ende des Studienjahres muss er sich eingestehen: „Mit einem Worte, – ich leistete verschwindend wenig“, auch vom „Verkehr mit dem andern Geschlechte“ sei „nicht viel“ zu erzählen. (TB, 9. Juli 1881) Daran ändert auch der Sommer nichts, den er in Salzburg, Kärnten und wie gewohnt mit der Familie in Ischl verbringt, es bleibt die Grundstimmung: die Sehnsucht nach dem „tiefen Athem der Liebe“, nach „süßer Frauenliebe und nach dem lieblichen Haine der Musen“. (TB, 16. September 1881)
Am 29. September 1881 wird Schnitzler „assentiert“ und für tauglich befunden, er ist damit „beurlaubter Einjährig-Freiwilliger“ im Wiener Hausregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4. Zur Feier des Tages trifft er sich danach wieder einmal mit Marie Joppich und verbringt mit ihr einen Nachmittag so ganz nach seinem Geschmack. „Genussvoll! Herrliches Gekose! Wunderbare Küsse. Mit einer Art feurigen Raffinement meiner- und hingebender Süßigkeit ihrerseits.“ In seiner Tagebucheintragung zu diesem Rendezvous versucht der 19-Jährige, ein stimmiges Porträt seiner gleichaltrigen „Dorfschönheit“ zu zeichnen: „Marie J. ist ein im Dorf auferzogenes Mädchen, aber durch die Nähe der Großstadt, den häufigen Verkehr mit ihren da lebenden Verwandten und den Wohlstand im eigenen Hause hat sie so manches angenommen, was das Bild einer Dorfschönen verändert, ohne es zu trüben. Sie hat ein bischen Verstand, ein bischen Bildung und sehr viel Gemüt: ein paar Stücke Biscuit, die in ein großes Glas weißen Weins getaucht sind – so daß einem die Bildung und der Verstand im Munde schon zergeht, wenn auch noch lange das Gemüt auf der Zunge prickelt. Sentimentalität wechselt mit einem gewissen leichten Übermut, beides aber spielt in etwas abgeblaßten Farben – Sie ist ein Typus, jedoch ein verwischter. Ihr Herz ist nicht tief, aber klar … oder vielleicht so klar, daß man trotz der Tiefe bis auf den Grund sehen kann. –“ (TB, 30. September 1881)
Die bescheidenen „geistigen Reize“ Maries fesseln ihn also wenig – dafür lobt er ihre physische Erscheinung: „Eine mittelgroße, jugendlich üppige Gestalt … aber ohne eine Spur von vornehmer Haltung, ein frisches, rotes Gesicht mit einem leichten Anflug von Feinheit, stille blaue Augen, – eine Fülle von wunderschönem blondröthlichem Haar, in Zöpfen durcheinandergebunden – und vorn ziemlich geschneckelt über die Stirne fallend – ein Mund, nicht sosehr zum Sprechen, als zum Küssen geeignet, eine Zunge, wenig beweglich beim plaudern, aber oft zwischen den Zähnen und Lippen hin- und herfliegend, besonders wenn sie irgend etwas neckisches sagt oder thut und mit sich zufrieden ist.“ – Schnitzler fasst zusammen und weist Marie Joppich den ihr, wie er meint, gebührenden Platz in seiner erotischen Biografie zu: „Ein gewöhnliches Mädchen mit einem Wort, deren ich aber hier doch mit ein paar Sylben gedenken mußte, da ihre Erscheinung wenn auch nicht mit dem vollen glutenden Athem der Liebe, doch mit dem zarten Hauche duftender Sinnlichkeit an meiner Jugend vorbeistreift“ (TB, 30. September 1881) – für einen 19-Jährigen ein bemerkenswert historisierender Zugang!
Da die nächsten Wochen ganz im Zeichen der Vorbereitung auf das Rigorosum aus Praktischer Anatomie am 8. Oktober stehen, verliert er die „duftende Sinnlichkeit“ von Fräulein Joppich wieder etwas aus den Augen, dazu kommen „Widerwärtigkeiten zu Hause“, resultierend aus der Denunziation eines „ungenannt sein wollenden Schufts“, der dem Vater zuträgt, dass sein Sohn Arthur „im allgemeinen den Ruf eines liederlichen Studenten“ habe, rauche, trinke, die meiste Zeit in Kaffee- und Wirtshäusern verbringe und so das Geld des Vaters – Schnitzler bekommt fünf Gulden wöchentlich – verschwende. Und dann begegnet er beim Bummeln mit seinem Freund Leo Ebermann, einem Jusstudenten, der Schauspieler werden will, auch noch der Choristin Gusti, dem „Typus eines vorstädtischen Wiener Mädchens“, in die er sich auf Anhieb verliebt. Über diesen neuen Liebeswirren bemerkt er erst am 27. November, dass auf der Post vier Rendezvous Briefe von Marie Joppich für ihn bereitliegen, die er versäumt hat abzuholen. Befangen in einem kleinen Liebesdilemma, wiegt er im Tagebuch beide Mädchen gegeneinander ab: „Marie ist – wahrhaftig sie ist hübscher … aber bei allen Teufeln! Ich bin in Gusti verliebt … und habe heut im Dominospiel … Glück gehabt –.“ (TB, 27. November 1881)
Als sich Gusti – vor die direkte Wahl gestellt – für seinen Freund Leo Ebermann entscheidet, ist das kurze turbulente Abenteuer mit ihr auch schon wieder vorbei; Schnitzler erinnert sich an Marie Joppich und es gelingt ihm, für sein Versäumnis Verzeihung zu erlangen, im Dezember gewährt ihm das Mädchen aus Purkersdorf ein nächstes Rendezvous: „Mit Marie verbracht ich einen Nachmittag; sie ist sehr lieb und sehr verliebt. Raffinirte Küsse & ä.“ (TB, 21. Dezember 1881)
Am 13. Februar 1882 besteht der Medizinstudent Arthur Schnitzler das Rigorosum physiol. pract., wie er im Tagebuch gesteht, mit Glück, denn er ist „nahe daran, durchzufallen“, er schreibt das magere „Genügend“ allerdings nicht mangelnden Kenntnissen, sondern einfach seinem „Pech“ zu. Mit dem Theoreticum aus Physiologie wartet bereits das nächste Examen, zu studieren gibt es also genug, aber da sind auch noch „meine Novellenpläne und meine Dramen! Und die Weiber! … Und das Leben! …“ (TB, 15. Februar 1882) Die Eltern haben für die Träume und Wünsche ihres Sohnes allerdings wenig Verständnis: Wieder einmal kommt es zu heftigen Vorwürfen, etwa über seinen Umgang – Schnitzler reagiert mit Wutausbrüchen, zerschmeißt Biergläser und wirft seine Bücher in eine Ecke.
Immerhin – nach dem Prüfungsstress bleibt wieder Zeit für Marie Joppich. Den Vormittag des 15. Februar verbringt er mit ihr im Augarten und im Prater, allerdings: Es ist „impertinent hell“, für Zärtlichkeiten müssen sie bis zum Abend warten, dann jedoch gestaltet sich das Stelldichein umso leidenschaftlicher: „Es war reizend; – sie sass auf meinem Schosse, ich löste ihr die Taille und küsste ihren süssen weissen Busen – und wiegte sie hin und her wie ein Kind …. Es war Nebel im Park und liess sich an wie ein Frühlingsabend. Wie viel Küsse … und was für Küsse … wie viel Umarmungen und was für Umarmungen … Es war eine Zärtlichkeit, die wahrer Hingebung glich … und wenn ich just einen unvernünftig-bescheidenen Moment hätte, so fragt’ ich mich: Wie kommt dieses reizende kleine Mariechen dazu, mich zu lieben –?“ (TB, 15. Februar 1882)
Noch hat Schnitzler das „Mizi“ für „Marie“ nicht entdeckt, doch auch „Mariechen“ verrät viel über die wahre Natur seines Verhältnisses zu diesem Mädchen: Es ist vergnügliches erotisches Spiel, Amüsement, natürlich nichts von Dauer. Marie, die Schnitzler nun „immer hübscher zu werden scheint“ (TB, 15. Februar 1882), nimmt die Beziehung offenbar bedeutend ernster als ihr affektierter Wiener Freund, sie schickt ihm einen „überaus zärtlichen Brief“ (TB, 19. März 1882), dem sie auch ihr Foto beilegt – beides hat sich im Nachlass Schnitzlers leider nicht erhalten.
Auch wenn Schnitzler in ihr nur das „gewöhnliche Mädchen“ vom Land sieht – Marie ist nicht so naiv, um ihre Rolle zu verkennen, und sie fordert daher Klarheit, will wissen, woran sie wirklich ist. Schnitzler, der zur gleichen Zeit mit Charlotte Heit, Fanny Mütter und Ida König flirtet und sich wieder mit Fännchen trifft, ist ob dieses Tons etwas verwundert: „Dagegen wird Marie in ihrem letzten Brief etwas eifersüchtig. Wie sonderbar!“ (TB, 7. April 1882)
Für einige Wochen gelingt es ihm, die Illusion von Liebe bei Marie Joppich noch hochzuhalten: „Marie schreibt mir, daß der Kuckuck ruft und sie mich liebt … Über alldem Frühling, herrliche Luft, blauer Himmel, in mir Aufzucken von unruhigen Künstlergedanken, Liebesphantasien, Hin und Herflackern einer mehr glühenden als leuchtenden Lebensflamme … ich spüre eine sonderbare Art von Jugend in mir.“ (TB, 23. April 1882)
Am 2. Mai 1882 kommt Marie Joppich nach Wien und trifft sich am Nachmittag mit Schnitzler im Augarten. Sie ist offenbar entschlossen, von ihm eine eindeutige Aussage über seine Gefühle für sie zu erhalten, doch die so heiß ersehnte Antwort bekommt sie nicht – darauf lässt der etwas kryptische Eintrag Schnitzlers im Tagebuch schließen: „Allerhand Zärtlichkeiten. So sehr es auch, nach Ludaßy (= der Schriftsteller Julius Gans-Ludassy – J. S.), ‚erwärmt‘, wenn man geliebt wird … eine Nuance von ich weiß nicht was, ist doch immer an so nem Mädchen, das in einen rasend verliebt ist, ohne daß man gleich glühend zu erwidern vermöchte. –“ (TB, 2. Mai 1882)
Es scheint, dass Marie Joppich nach dieser für sie enttäuschend verlaufenden Aussprache im Augarten die Beziehung abbricht, im Tagebuch wird ihr Name jedenfalls nicht mehr erwähnt. Wie Schnitzler in Jugend in Wien erzählt, „erlosch“ die Zärtlichkeit zwischen ihm und Marie Joppich, „ohne zur rechten Flamme ausgeschlagen zu haben“, schuld daran sei seine Unerfahrenheit gewesen. Das ist wohl nicht die ganze Wahrheit: Tatsächlich ist Marie bis zum Schluss „rasend“ in ihn verliebt, will sich aber von ihm nicht hinhalten lassen und macht deshalb Schluss.
Auf die Idee, zu Marie nach Purkersdorf zu fahren, kommt Schnitzler nicht, zu stark ist er in diesen Tagen mit seinem Verhältnis zu Fännchen beschäftigt. Nur einmal noch wird er, so berichtet er in Jugend in Wien, Marie Joppich begegnen: „Viele Jahre später erst sah ich sie zum letztenmal in dem ländlichen Wirtsgarten ihrer Eltern wieder, wo ich auf einem Ausflug in Gesellschaft meines Bruders und eines Bekannten einkehrte. Sie bediente die Gäste, stellte auch uns das Bier auf den Tisch, und als ich sie fragte, ob sie sich meiner erinnerte, nickte sie, nannte kühl meinen Namen und wandte sich unbewegt anderen Gästen zu.“ Marie Joppich hat, so scheint es, Schnitzler auch nach diesen vielen Jahren noch immer nicht verziehen …
Sie stirbt 1944 in Purkersdorf.