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5.
„ Die Periode der Fremdherrschaft über Sardinien, die etwa 800 v. Chr. mit den Phöniziern und Karthagern begann und sich über etliche Zwischenstufen fortsetzte, wurde im 11. Jahrhundert in Alghero damit fortgeführt, dass die genuesische Familie Doria die Stadt im Namen der Republik Genua von sarazenischen Piraten befreite, besetzte und in eine Festung gegen die konkurrierenden Pisaner umbaute. Im Jahre 1354 eroberten die Katalanen (das Haus Aragon) die Stadt, bauten die Festung aus und vertrieben die einheimische Bevölkerung. Das führte unter anderem zur Gründung der Stadt Villanova Monteleone.“
Christian zieht sich diese Wikipediabeschreibung auf seinen Reisebericht. Seine Ankunft in der Bucht von Alghero im Westen Sardiniens ist ihm gut in Erinnerung geblieben, „als wenn es gestern gewesen wäre“, denkt er.
Er hatte die Nacht zuvor in der Südbucht von Mandriola vor Anker gelegen, geschützt vor dem Mistral, dem heftigen Nordwestwind an der sardischen Westküste.
Er war früh am Morgen, schon bei Sonnenaufgang gestartet, wenn das Meer noch einigermaßen ruhig ist.
Doch als er Kap Mannu umrundet hatte, blies es schon ganz heftig und eine unangenehme Welle bremste seine Nirwana immer wieder ab.
Er steuerte einen klaren Nordkurs, hoch am Wind, und kämpfte sich Meile für Meile nach Norden. 60 Seemeilen, das waren rund 100 km.
Er rechnete immer noch in Kilometer und hatte auch sein GPS und seinen Speedometer auf km/h eingestellt. Nur die Windstärke las er in miles/h ab und rechnete sie in Beaufort um.
Bei 3-4 Beaufort war er gestartet. Sein Segler machte dabei rund acht Stundenkilometer über Grund.
Mittags war der Wind auf gut 5 Beaufort aufgefrischt, sein Vorwindkurs und seine Geschwindigkeit waren gleich geblieben, nur die Kränkung hatte zugenommen.
Erst als er spät am Abend Capo Caccia an Backbord hatte, war die Welle weg, hatte er es mal wieder geschafft. Ein harter Tagestörn war erfolgreich zurückgelegt.
Er hatte vor dem Hafen Alghero in einer Nebenbucht geankert, das sparte die teuren Liegegebühren und brachte den Luxus mit sich, am Morgen direkt nach dem Wachwerden mit einem Kopfsprung in das azurblaue Wasser den Tag zu beginnen.
Ja, die Arbeit an seinem großen Reisebericht war auch eine Aufarbeitung seiner Abenteuer, es war sozusagen, des Törnes dritter Teil.
Der erste war die Vorfreude der Planung, der Törnfestlegung und die voraussichtlichen Etappenziele. Der zweite Teil war die Reise selbst, die Konfrontation mit der Wirklichkeit, die doch manchmal ganz anders verlief als die Planung. Und nun saß er an der Nachbereitung und vieles wurde ihm erst jetzt richtig klar. Auch hier hatten sarazenische Piraten von der algerischen und marrokanischen Küste angelandet und Beute gemacht. Erst die Rekonquista, die er in Spanien studiert hatte, hatte auch hier in Sardinien für die Vorherrschaft der christlichen Adelsfamilien gesorgt.
Ach wie leicht und informativ ist es heutzutage, denkt Christian, während man die Texte zu seinen Fotos ins Schreibfenster des Fotoprogrammes eintippt, über google alles nachschlagen zu können, was man nicht oder nicht sicher weiß. Die Welt tritt aus dem Dunkeln, aus der Geschichte in das Licht des 21. Jahrhunderts. In seinem Weltpuzzle, dreidimensional zergliedert in Längen- und Breitengrade und in die Ebenen der Geschichte, wie beim Häuten einer Zwiebel, hatte Günther Grass geschrieben, hat ein weiteres Puzzleteil seinen Platz gefunden.
Seine Gedanken schweifen zurück ins Jahr 1981.
31 Jahre sind das jetzt her, ein junger Mann war er damals gewesen, 32 Jahre alt, verheiratet, mit zwei Kindern gesegnet. Nach dem Bau seines Einfamilienhäuschens hatte er mit zwei Hobbies begonnen.
In den Weihnachtsferien und über Karneval ging er zum Skifahren.
Dann war das Tauchen dazu gekommen.
Mit zwei befreundeten Familien waren sie in den Sommerferien mit ihren PKW's hochbeladen von Genua aus nach Olbia auf Sardinien gefahren. Das Land kennenlernen und Tauchen waren ihre Urlaubsziele.
Seine älteste Tochter war nun schon im 2. Schuljahr und damit war er nun die nächsten zwei Jahrzehnte von den Sommerferien abhängig, was bedeutete, dass alles teurer war, Flüge, Fähren, Hotels.
Und überlaufen war alles, alle waren unterwegs. Die Adriastrände waren bunt vor Handtüchern, nicht goldgelb vom Sand.
Deshalb hatten sie beschlossen, mit Camping- und Tauchausrüstungen und mit Schlauchbooten nach Sardinien zu fahren in die große Bucht von Alghero, dort wild zu campen und mit den Booten rund ums Capo Caccia zu tauchen.
Sie hatten auch einen wunderschönen Platz oberhalb einer Klippe gefunden, die zwei Boote schwammen in einer kleinen Bucht und konnten bei Südwind an Land gezogen werden.
Doch schon am dritten Tag waren Carabinieri gekommen und hatten auf das Schild hingewiesen, das am Anfang des Weges zu ihrem Zeltplatz stand: Camping divieto . Zelten verboten. Der Beton um die Stange war noch feucht, sie hatten es nur wegen uns aufgestellt.
Wir hatten die zwei Polizisten zum Rotwein eingeladen und es war ein geselliger wunderschöner Abend gewesen. Der Beginn einer deutsch-italienischen Freundschaft, hatten wir gedacht.
Am nächsten Morgen waren sie zurückgekommen und hatten uns, als sie sahen, dass wir nicht verschwunden waren, angebrüllt und unmissverständlich zum Einpacken aufgefordert.
Die Freiheit der 60er und 70er Jahre hatte in weiten Teilen Südeuropas ein Ende gefunden.
Man hatte in Campingplätze investiert und dort sollten die reichen Deutschen auch ihr Geld lassen.
Wir hatten uns dann getrennt, Rudi war nach Norden auf einen Campingplatz gefahren, wo er Tauchfreunde kannte. Georg und ich fuhren weiter nach Süden und fanden schließlich ganz im Süden Sardiniens bei Villasimius doch noch einen herrlichen wilden Zeltplatz für unser Tauchhobby.
Zurück in die Gegenwart, denkt Christian.
Er drückt auf seinem Laptop das > f< für facebook.
Als erstes drückt er den Button >Benachrichtigungen<. Die zeigen ihm alle Einladungen, > Gefällt mir <- und Textkommentare auf, die seit seiner letzten facebook-Sitzung angekommen sind.
Er klickt sie einzeln an und sieht die Reaktionen auf seine eigenen Aktivitäten.
Das interessiert und freut ihn, gibt ein Gemeinschaftsgefühl, vertreibt das Gefühl von Einsamkeit.
Auf seiner eigenen Seite hat doch diese Veronika ein Gedicht hinterlassen, nein, Gedicht ist der falsche Ausdruck, einen Text, der beginnt:
Es gibt keine Pflicht des Lebens, es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins....
Ja, Recht hat sie, nur das Glück zählt, das, was der Mensch aus sich macht, was er empfindet beim Leben.
Ja, er war Bankkaufmann gewesen, war jeden Morgen im Anzug mit Krawatte zur Arbeit gefahren und, „doch die ersten Jahre war ich glücklich, ich habe gerne mit Menschen zu tun gehabt und es war mir eine Befriedigung, ihnen bei ihren Geldgeschäften zu helfen, ihnen mein Wissen zur Verfügung zu stellen.“ Bei manchen hatte er nur gesagt, „machen Sie das und das...“, anderen hatte er den Mechanismus der Geldanlage genau erklärt, ihnen etwas BWL beigebracht. Die Kunden hatten gerne bei ihm im Kundenbüro gesessen, die Mädchen hatten auf Telefonanruf Kaffee gebracht, man hatte über vieles geredet.
Manchmal auch über ganz andere Dinge, die gar nichts mit Bankgeschäften zu tun hatten. Dann war er manchmal der Zuhörer, der Lernende gewesen.
Das war wirkliche, effektive Kundenbindung gewesen, vertrauensbildend, nicht dieser dumme Schnickschnack von heute, die dummen auswendig gelernten Sprüche, die man den Kunden entgegensäuselte.
Er liest weiter:
Wenn der Mensch gut sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist, wenn er Harmonie in sich hat, also wenn er liebt...
Christian denkt nach: Bei seiner China-Reise vor fünf Jahren war das Wort Harmonie permanent präsent gewesen. Er hatte in Peking einen Tempel besucht, der der „Harmonie im Alter“ gewidmet war und hatte das für bemerkenswert gefunden. Überhaupt hatten ihn die chinesische Kultur und Philosophie und die Chinesen begeistert, aber ist das Liebe?
Jetzt wird’s schwierig und kompliziert.
Was ist Liebe?
Nein, den Gedanken will ich jetzt nicht weiterspinnen.
Der Text erwähnt Jesus, Buddha und Hegel und stellt sie in eine gedankliche Reihe.
Für jeden, liest er weiter, ist das einzig Wichtige auf der Welt sein eigenes Innerstes, seine Seele, seine Liebesfähigkeit. Ist sie in Ordnung, so mag man Hirse oder Kuchen essen, Lumpen oder Juwelen tragen, dann klingt die Welt mit der Seele zusammen, ist gut, ist in Ordnung.
Das kann er nachvollziehen, das würde er unterschreiben.
Ob diese Veronika das selbst geschrieben hat? Mein Gott, dann müsste sie eine interessante Frau sein.
Nein, denkt er, das hat sie irgendwo abgeschrieben, aber wo? Und warum gerade das?
Er hatte ihr doch nur von seinem Segeltörn und seinem Ziel, das Mittelmeer zu umrunden, erzählt.
Hatte sie daraus gefolgert, dass er so sein Glück suchte, mit sich und der Welt in Harmonie sein wollte, die Wahrheit suchte, die sich durch die Geschichte der Menschen zog?
Nicht dumm der Text.
Er geht noch einmal auf ihre Seite.
Ja, sie ist Single, nicht sein Beuteschema, aber doch etwas sexy. Er hätte nichts gegen einen date.
Er schreibt unter ihren Text:
Wenn du das selbst formuliert hast, bist du ein Philosoph,
wenn du es nur ausgesucht hast, bist du eine kluge Frau, die ich kennenlernen möchte.
So, der Köder ist ausgeworfen.
Er wendet sich einer weiteren facebook-Nachricht zu, schreibt ein paar belanglose Worte, über deren Wirkung beim Adressaten er sich nicht viel Gedanken macht. Oberflächlichkeit ist angesagt.
6.
Drei Tage später sitzt Christian Söndermann vor seinem Computer, aufgeregt rückt er seinen Stuhl hin und her und hält das Mikrofon in der Hand.
Heute ist wieder so ein Lifetag, an dem man sich bei seiner Schreibtischarbeit nicht hinter der Programmmaske verstecken kann. Heute muss er das recherchierte und niedergeschriebene Wissen, die Kommentare und Schilderungen auf die Tonspur sprechen. Keiner kann ihm dabei helfen, akzentuiert, in einer gleichbleibenden Lautstärke, aber doch wieder nicht einschläfernd zu sprechen, die Stimme honor oder spannend klingen zu lassen, Überraschungen zu akustizieren, Sprechpausen einzuhalten, die Texte zu Beginn, in der Mitte oder erst am Ende einer Bildlaufzeit zu sprechen.
Er konfiguriert das Mikrophon auf der Soundkarte des Computers, liest sich den Text zum ersten Bild noch einmal durch und beginnt mit den Sprachaufnahmen zum dritten Teil des Reiseberichtes:
Inseln im Tyrrhenischen Meer: Sardinien und Korsika
Zwei Stunden intensivster Arbeit liegen nun vor ihm, kleine Fehler lässt er durchgehen, bei echten Aussprachefehlern muss er anhalten, löschen und sofort neu sprechen. Der Gesamtrhythmus der Aufnahme sollte nur selten unterbrochen werden, sonst leidet das Feeling. Er selbst wird später jede nachträgliche Korrektur hören und daran leiden, aber er weiß aus Erfahrung, dass seine Zuhörer das kaum bemerken werden.
Aber er macht diese Reiseberichte in erster Linie nicht für eventuelle Vorträge oder für private Vorführungen bei sich zu Hause, sondern für sich selbst, für seine Erinnerungen, sein Ego, als Beweis seiner Kreativität.
Seine wunderbaren Fotos von der Reise vergammeln nicht auf irgendwelchen Festplatten oder CD's, unstrukturiert und nach Jahren kaum auffindbar, sondern sie werden hoffentlich noch von seinen Kindern und Enkeln gerne gesehen.
Als er nach zwei Stunden getaner Arbeit das Mikrophon aus der Hand legt, ist er platt, gemolken, ausgebrannt.
Facebook hat nun die notwendige Leichtigkeit und Unverbindlichkeit, um von dieser Anspannung runter zu kommen.
Mehrere Benachrichtigungen hat er.
Unter anderem den Kommentar zu einem Reiseberichtsbeitrag, den er im letzten Jahr in facebook eingestellt hatte. Er hatte damals aus gegebenem Anlass einen Artikel zum Thema
Alleine Reisen – Angst und Langeweile oder Mut und Chance
geschrieben, hatte dargelegt, dass alleine unterwegs sein nicht die Abstinenz von Zweisamkeit ist, sondern gerade ständig neuen Bekanntschaften, Einladungen und Begegnungen Tür und Tor öffnet.
Die schwarzhaarige Veronika hatte jetzt fast anderthalb Jahre später diesen Artikel kommentiert.
Ja, schreibt sie, sie könne seine Haltung nur zu gut verstehen und habe das auch schon so erfahren. Sie finde es toll, wie positiv er auf die Menschen zugehe. Nur so werde man fremde Kulturen verstehen, andere Länder und Regionen kennenlernen. Das Vertrauen in sich selbst und das prinzipielle Vertrauen anderen Menschen gegenüber sei ein wunderbarer Charakterzug eines Menschen.
Das liest er gerne. Zustimmung verbindet. Aber fast noch wichtiger ist die Tatsache, dass diese Veronika weit in die Vergangenheit seiner facebook-Reportagen hinab getaucht ist, sich mit seiner Seite und mit ihm selbst, hofft er doch, beschäftigt hat.
Aber auf seinen Köder ...diese Frau möchte ich kennenlernen ..., ist sie nicht eingegangen.
Er schreibt ihr eine persönliche Nachricht:
Hallo Veronika,
danke für deinen interessanten Kommentar. Deine Texte erstaunen mich immer wieder und machen mich neugierig auf den Menschen, der sowas schreibt.
Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn ich dich persönlich kennenlernen könnte. Bei 'nem Bier, im Cafe, gerne auch im Restaurant oder wie immer du das möchtest, wenn du es denn möchtest.
Du weißt, ich bin unkompliziert und spontan und verbinde mit Kennenlernen, die Befriedigung meiner Neugierde, wie du sprichst, dich gibst, aussiehst, reagierst, lachst oder traurig bist.
Hier ist meine Nummer: 01523569103.
Als Streuner habe ich natürlich nur Handy, aber mit Flatrate.
Ruf mich an oder schicke mir deine Nummer. Dann rufe ich dich an. Oder schreib mir, was du zu meinem Wunsch zu sagen hast. Egal wie oder was, sieh' es bitte locker!
Ganz liebe Grüße
Christian
So, das ist ja wohl mehr als deutlich. Wie leicht ist es doch, solch einen unverbindlichen Text ins Netz zu setzen. Der Stress beginnt frühestens, wenn es wirklich zu einer Verabredung käme. Käme ist Konjunktiv, Möglichkeitsform, nichts, um das man sich schon heute einen Kopf macht.
Er blättert noch ein bisschen durch die Startseite, staunt, was so alles kopiert wird, und beendet facebook.
Ja, es ist fast schon so ein Ritual: Du fährst den Computer hoch, um irgendeine Arbeit zu erledigen, und überfliegst schon auf der Startseite Klatsch und Nachrichten des Tages.
Dann machst du dein email-Programm auf und sichtest deine mails. Schrott wird sofort gelöscht, Infos eventuell notiert, Wichtiges bearbeitet, manchmal kopiert oder gedruckt. Beiträge von facebook werden ebenfalls als mail angekündigt. Auf eine von ihnen drückst du drauf und schon bist du in facebook, genau an der Stelle, Kommentar oder
Nachricht, die die mail ankündigt.
Zum Schluss überfliegt man noch die facebook-Startseite und wundert sich, dass schon die erste halbe Stunde der Arbeitszeit verflogen ist.
Am Ende vor dem Herunterfahren ein ähnliches Ritual.
7.
Die letzten drei Schulwochen vor den Weihnachtsferien haben begonnen. Stress pur. Eigentlich in allen Klassen und Fächern noch einmal eine Runde Klassenarbeiten, Tests und Hausaufgabenüberprüfungen. Die Schulbürokratie fordert eine Menge von Einzelnoten, ohne die eine Zeugnisnote Ende Januar nicht ausgesprochen werden darf.
Die Schüler hassen diese ständigen, oft an den Haaren herbei gezogenen Überprüfungen und als Folge auch die Lehrer, die sie durchführen.
Das ergibt genau die richtige Atmosphäre vor Weihnachten, vor dem Fest der Liebe, denkt Veronika zynisch.
Anstelle mit den Kindern in aller Ruhe Weihnachten vorzubereiten, kreativ zu basteln, zu dichten, zu singen, kleine Theaterstücke einzuüben, für einander Verständnis zu entwickeln, auch einmal einen Blick auf die Kinderwelt außerhalb unseres westeuropäischen Paradieses zu werfen, nur Stress, Druck, Aggression, manchmal sogar Hass und nirgendwo Liebe.
Pädagogische Liebe war ein Stichwort in ihrem Studium, die Liebe zu den Zöglingen, zu den Schülern, die man über mehrere Jahre doch intensiv kennenlernte und begleitete. Vergleichbar der elterlichen Liebe, die nur an das Weiterkommen des Nachwuchses, an die Vorbereitung auf das spätere Leben gerichtet ist.
Diese pädagogische Liebe war damals noch unbelastet von den Skandalen sexueller Übergriffe, wie sie in den letzten Jahren bekannt geworden sind. Auch unfassbar!
Heute darfst du kein Kind mehr tröstend in den Arm nehmen, ihm verständnisvoll über das Haar streichen, es vielleicht mit deinem Auto nach Hause zu den Eltern fahren. Die Beziehung zu den Schülern wird bürokratisiert, juristisch geregelt, unterliegt ständiger Kritik.
Ist es ein Wunder, dass die Lehrer sich zurückziehen, dafür die Schulleiter in den Regionalausgaben der Tageszeiten ihre wunderbare erfolgreiche Arbeit an ihrer Schule medienwirksam ins Bild setzen?
Ein Kollege hatte einmal in einer Konferenz Andersens Märchen von des Kaisers neue
Kleider bemüht. Dieser falsche Applaus für viele Dinge, die jeder heimlich als Potemkinsche Dörfer einschätzt, sich aber nicht traut, es laut zu sagen. Diese dann hundertprozentige Zustimmung des Schulkollegiums wandert dann als Bericht zur Schulaufsichtsbehörde und ergibt in der Addition solcher Ereignisse die selbst befriedigende Reaktion des Kultusministeriums.
Veronika könnte heulen, wenn sie an diese Entwicklung der letzten zwanzig Jahre denkt.
Sie hatte anfangs gekämpft, sich den Mund verbrannt, mit Kollegen später beim Bier ohne die Schulleitung darüber gesprochen.
Die letzten Jahre ist es auch ein Generationenproblem, die jungen Lehrer kennen es doch aus ihrer eigenen Schulzeit nicht mehr anders. Junge Männer kommen eh nur noch selten an die Schule. Junge Frauen zwischen Karriere und Kochtopf, oft überfordert und ohne Kraft, bilden einen Großteil des heutigen Kollegiums.
Schluss jetzt, andere Gedanken. Ich will überleben. Sie drückt das magische > f <, die Fahrkarte in eine andere Welt.
Sie hat Post von ihrem Segler. Er schickt ihr seine Telefonnummer und erbittet ein Date. Na, endlich mal was erfreuliches.
Es ist nicht ihr erstes Treffen dieser Art. Noch vor ca. zwei Monaten war sie zu solch einer Verabredung gegangen und war, jetzt fällt es ihr wieder genau ein, so enttäuscht von diesem Schwätzer und Langeweiler. Eine ganze Stunde hatte sie bei einem wunderbaren Schokoladeneisbecher mit diesem … den Namen hat sie vergessen ... zusammengesessen, sich gelangweilt und unwohl gefühlt und war dann unter dem Vorwand noch Unterricht vorbereiten zu müssen, schnell wieder nach Hause gefahren.
Nein, diese Dates mit Männern, die man nur aus dem Internet kennt, sind immer problematisch. Schöner und erfolgreicher sind die Bekanntschaften, die man wirklich draußen im Leben macht. Wenn man abends mal an der Theke steht und ein wirklich lustiger Typ erzählt einen Joke nach dem anderen, und weil man so herrlich lacht, bestellt er schließlich ein Bier für sie mit, prostet ihr zu oder stößt sogar mit ihr an.
Sie erinnert sich an Friedrich-Karl, allein schon der Name, aber er war mit goldenem Humor gesegnet und was sie damals tatsächlich beeindruckte war, dass er sich auch wunderbar ernsthaft und super informiert über Geschichte und Politik unterhalten konnte.
Sie hatte ihn nach Mitternacht mit nach Haus genommen zu einem One-night-stand, wie man heute zu sagen pflegt. Er war etwas älter als sie und im Bett nur Durchschnitt, an der Theke war er viel besser gewesen. Er verschwand morgens nach dem gemeinsamen Frühstück, ließ sein Visitenkärtchen zurück und rief die nächsten Tage noch ein paarmal an. Doch auch am Telefon konnte er den Charme des Thekenstehers nicht mehr entfalten.
Ja, dachte Veronika, so mache ich es jetzt auch, er kann schreiben, er kann fotografieren, belassen wir es erst mal dabei. Ein Lifedate beendet meist die Romanze nach irgendeiner Seite hin. Lassen wir das Süppchen doch einfach auf dem Herd ein bisschen köcheln. Sie lächelt über ihre eigenen Gedanken. So kreativ möchte sie manchmal noch in der Schule sein, lauthals lachen über sich, die Kinder, die Situation.
Sie schreibt dem Segler zurück:
Lieber Christian, schön, dass du dich mit mir treffen willst. Ich weiß dein Angebot zu schätzen.
Aber sei mir bitte nicht böse, ich möchte jetzt noch nicht. Im Moment steht mir aus Gründen, die ich dir auch jetzt noch nicht erzählen möchte, nicht der Kopf danach.
Ich genieße deine wunderbaren Fotos, deine Reiseberichte, in denen ich erkenne, dass du ein ganz besonderer Mann bist, ein Streuner, wie du selbst schreibst, aber im absolut positiven Sinne.
Ich selbst reise auch gerne, bin eigentlich in allen Ferien unterwegs und war auch schon in Tarragona und habe wie du die Geschichte, Kultur und Schönheit der alten Römerstadt genossen.
Bleib du für mich bitte noch ein bisschen im Dunkeln...das wäre schön! Jetzt im Weihnachtsstress als Lehrerin an einer Schule ist mein Herz nicht offen für etwas vernünftiges, vielleicht Großes.
Ich gebe dir aber meine Telefonnummer: 02166/37869.
Hab noch einen schönen Abend und alles Liebe wünscht dir
Veronika
Sie überfliegt ihre Worte noch einmal flüchtig auf Rechtschreibfehler, schließlich ist sie Lehrerin, und drückt den > Antwort-Button <.
So, die Antwort hat er.
Erst jetzt denkt sie noch einmal über den Inhalt und die Konsequenz ihrer Worte nach:
Sie hat ihn mit Lob angemacht und sicher einen Jagdinstinkt in ihm geweckt, wenn er denn ein richtiger Mann ist. Er kann sie haben, wenn er baggert, später, vielleicht, es kommt auf seine Qualitäten an, die er ihr beweisen muss.
Ja, sie hat ein Spiel angefangen, in dem sie allein, hofft sie zumindest, die Spielregeln vorgibt. Mein Gott, denkt Veronika, genau umgekehrt wie in der Schule. Sie ist mit sich zufrieden.
Morgen in der 10. Klasse muss sie sich mit dem 3. Reich beschäftigen, muss versuchen den Schülern zu zeigen, mit welchen Instrumenten man Massen hinter sich bekommt. Sie selbst kann es heute eigentlich noch nicht nachvollziehen, wie diese Bewegung die Macht an sich gerissen hat und wie Adolf Hitler zum Idol der Massen aufgestiegen ist.
Er hatte hier in Deutschland die Popularität eines Papstes Benedikt, eines Thomas Gottschalk, Franz Beckenbauer und Peter Maffay zusammen. Unvorstellbar, wie will man sowas vermitteln?
Ein ganzes Volk richtet sich freiwillig auf den Willen des Führers aus, noch nicht einmal ein Gesetz zwang sie dazu.
Doch, entscheidend war sicherlich, dass keine andere Meinung seit Monaten, später Jahren, mehr zu hören gewesen war. Die Opposition saß im Knast, Konzentrationslager nannten sie es.
Der persönliche Eid der Wehrmacht auf den Führer nutzte die Gottgläubigkeit der Menschen aus, obwohl gerade die Nazis damit nichts am Hut hatten und das Schicksal bemühten.
Natürlich war hier auch die alte Weisheit am Werk, dass ein voller Bauch vor der Freiheit kommt. Hitler brachte nach der Weltwirtschaftskrise Arbeit und Einkommen. Wen interessierte es schon, ob die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen volkswirtschaftlich zu vertreten waren?
Noch heute versteht das ja kaum einer, sie selbst auch nicht.
So, liebe Veronika, dann mache bitte aus diesen Erkenntnissen eine spannende, pubertierende Schüler interessierende Unterrichtsstunde.
Alternativ kann sie ein Video zeigen aus der Reihe: Wir Deutschen: Das dritte Reich. Es steht in der Bibliothek des Laptops. Sie braucht nur am Pult die Stecker des Beamers einzustecken und die 45 Minuten Geschichtsunterricht sind abgedeckt.
Sie fährt ihren Laptop herunter.