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8.

Christian sitzt mit seiner Gitarre im Arm in seinem Arbeitszimmer.

Heute will er wieder an seinem Reisebericht über die Inseln im Thyrrenischen Meer, Sardinien und Korsika weiterarbeiten.

Die Tonaufnahmen vorgestern sind gelungen, soweit man davon bei seinem Amateurniveau reden kann. Natürlich ist er kein ausgebildeter Schauspieler, nie hat er Sprachunterricht erhalten, aber in seinen Beratungs- und Verkaufsgesprächen bei der

Bank hatte er sich schon bemüht, allein durch den Klang seiner Stimme, durch betont deutliches Sprechen und Akzentuierung, Erfolg zu erzielen.

Heute will er mit dem letzten Schritt dieser Filmemacherarbeit beginnen, mit der Hintergrundmusik.

Er weiß, viele Amateure, die ihre Videos vertonen, lassen hier irgendwelche Musik ablaufen und fertig, er weiß aber auch, dass über die Filmmusik ein ganz wichtiges Element der Information abläuft. Während die Texte alleine den Verstand ansprechen, die Bilder großenteils auch, - nur manche werden durch ihre Ästhetik unmittelbar vom Gefühl aufgenommen -, wendet sich die Hintergrundmusik alleine an das Unterbewusstsein. Sie erzeugt Spannung, Trauer, Freude, Skepsis, Humor, je nachdem, was der Reisebericht gerade erzählt und transferiert.

Nicht umsonst sind Filmmusiken oft berühmt geworden. Er denkt an die Mundharmonikamelodie aus: Spiel mir das Lied vom Tod.

In dieser Phase der Arbeit ist Feeling angesagt, ein Gefühl, ein Händchen für die richtige Musikauswahl. Dazu muss er sich selbst erst einmal auf einen gewissen sensitiven Level bringen. Am besten kann er das mit Musik, mit seiner Gitarre.

Christian spielt einige Songs der Beatles, Yesterday, Let it be und Norwegian wood. Er liebt diese Musiker noch heute, 42 Jahre, nachdem sie sich getrennt haben. Dann John Lennons Imagine, bei dessen Melodie es ihm immer noch kalt den Rücken runter läuft. Nur diese gefühlvollen Lieder braucht er jetzt, um sich hochzubringen in eine Gefühlswelt, wo er die richtige Melodie für die richtigen Bilder empfindet. Er spielt noch drei Songs von Leonard Cohen, dem kanadischen Liedermacher, Suzanne und Marianne, und zum Abschluss sein wahnsinniges Halleluja.

Während seinem Gitarrenspiel und seinem Gesang hat er bereits den Laptop hochgefahren und das Programm von > Fotostory < hochlaufen lassen.

Die Arbeit kann beginnen. Er lässt jeweils eine Erzählpassage in der Vorschau ablaufen und sucht dann in seiner riesigen Musikbibliothek nach dazu passenden Songs oder Melodien. Auch eine ganze Reihe rein instrumentaler Aufnahmen stehen zur Verfügung, auch selbst gespielte, die er mit seinem DR2 - Aufnahmerecorder aufgenommen hat. Auch einige Liveaufnahmen von unterwegs sind dabei.

Oft ist aber die erste Wahl falsch, so gut die Musik auch an sich passte, im Zusammenspiel mit den sich bewegenden Fotos und seiner Sprache ist der Gesamteindruck dann doch nicht befriedigend. Es ist wie ein Puzzle.

Nun kommt die herrliche Fahrt durch das Maddalena-Archipel im Norden Sardiniens und die Überquerung der Straße von Bonifacio zur gleichnamigen Stadt im Süden Korsikas.

Hier muss die Musik einfach der Lebensfreude Ausdruck verleihen, die dieser Törn in ihm ausgelöst hatte.

Christian versucht es mit Summertime von George Gershwin. „Summertime and the living is easy“. Ja, genau das war's, diese Leichtigkeit des Seins, als die Nirwana über

azurblaues Wasser durch die Inselwelt des Maddalena-Archipels hindurchglitt.

Dann die zwölf Kilometer über die eigentliche Straße von Bonifacio nach Korsika hinüber, häufig sturmumtost. Er hatte sie aber bei traumhaftem Wetter übersegelt, und dank GPS musste man auch keine Angst vor den zahlreichen Klippen und Untiefen dort haben.

Schließlich Bonifacio selbst, ein Traum. Auf hohen weißen Kreidefelsen diese korsische Küstenstadt. Eine tiefe, fjordartige Bucht schneidet in dieses Kalksteinplateau ein und bildet einen wunderschönen Naturhafen.

Sein Reisebericht erzählt nun die Geschichte der Stadt von der Stadtgründung 828 durch den toskanischen Grafen Bonifacio II bis zur Besetzung 1942 durch deutsche Truppen.

Welche Musik passt zu diesen historischen Informationen?

Er probiert es mit einer ganz schlichten Tonfolge, eigentlich gar keiner richtigen Melodie, die er selbst eingespielt und bereits im Reisebericht des letzten Jahres verarbeitet hatte. Jawohl, wieder passt sie. Sie verdrängt nicht die gesprochene Information, sie lässt den Bildern den Vorrang, aber sie beruhigt die Seele des Zuschauers, sie hilft bei der Konzentration.

Nach zwei Stunden Arbeit hat er die erste halbe Stunde seines Reiseberichtes fertig, knapp die Hälfte und er ist platt. Jetzt würde es zur Routine, sein Feeling ist verbraucht. Er speichert sein Arbeitsergebnis und beendet dieses Programm.

Jetzt erst geht er ins Internet.

Die Nachrichten bei yahoo bringen eine Meldung der Piraten zum Urheberrecht. Sie haben ihr 10-Punkte Programm vom Mai dieses Jahres noch einmal überarbeitet.

Eigentlich interessiert ihn diese Partei gar nicht. Und Schwarmintelligenz als gewünschte menschliche Verhaltensweise ist für ihn Schwachsinn pur. Das haben wir im 3. Reich gesehen.

Aber die Sache mit den Urheberrechten geht ihn unmittelbar an.

Gershwin hat sein Summertime, welches er eben in seinem Reisebericht unterlegt hat, 1935 geschrieben, also vor 77 Jahren. Der Song war damals Teil seiner berühmten Oper: Porgy und Bess.

Nach US-Recht ist er 95 Jahre lang geschützt. Das gilt, wenn er den Song selbst auf der Gitarre spielt und singt. Unterlegt er aber eine Interpretation von Janis Joplin, beginnt der Schutz erst in den 70er Jahren.

Nur der absolut private Gebrauch ist frei. Zeigt er seine Reiseberichte irgendwo in der Öffentlichkeit ohne Eintrittsgelder, macht er sich eigentlich schon strafbar.

Das ist, denkt Christian, eine Schwachsinnsregelung. Er sieht ein, wo Geld fließt, Geld verdient wird, will auch der geistige Urheber seinen Anteil haben. Aber „ohne Moos, nix los“, sagt der Volksmund, da gibt er den Piraten Recht. Auch die Rechtslage in facebook, das ständige Kopieren fremder Texte, Bilder und Melodien, liegt sicher

rechtlich in einer Grauzone.

Er schaut in seinen mail-Briefkasten, bearbeitet seinen Inhalt und geht in facebook. Auf der Startseite nichts Besonderes, aber er hat eine Nachricht: Aha, von Veronika.

Sie will sich nicht mit ihm treffen. Noch nicht, schreibt sie. Sie hätte ihre Gründe, welche auch immer.

Bleib du für mich bitte noch ein bisschen im Dunkeln...das wäre schön.

Geheimnisvolle Worte, die er mehrmals liest.

Ach, Lehrerin ist sie, das hatte er gar nicht gesehen oder gibt sie es auf ihrer Seite auch gar nicht an? Und ihre Telefonnummer schreibt sie dazu. OK. Das letztere ist eigentlich der Beweis oder die Aufforderung, dass es weitergehen soll. Wenn sie ihm ganz ein Rendevouz absagen wollte, würde sie ja wohl nicht ihre Telefonnummer dazu schreiben.

Mit ...und alles Liebe wünscht dir Veronika, schließt sie ihre Nachricht.

Was soll er antworten?

Heute erst mal gar nichts, lass sie zappeln, falls sie doch angebissen hat.

Zwei Tage später schreibt er ihr:

Liebe Veronika,

dein Schreiben und deine Äußerungen sind absolut ok, nicht alles im Leben passt jederzeit zu jeder Situation. Das Geheimnis des Erfolges ist es, zur rechten Zeit am richtigen Platz das Richtige zu tuen.

Vielleicht vertraust du mir ja einmal zu einem späteren Zeitpunkt dein kleines Geheimnis an, welches dich hindert, dich im Moment mit mir zu treffen.

Ich selbst bin auch etwas im Stress, weil ich nächste Woche einen Tauchtörn nach Ägypten unternehme und mein Tauchgepäck nicht extra anmelden will.

Die Fluggesellschaften haben in diesem Jahr die Beförderungskosten dafür verdoppelt von 50,- € auf 100,- €. Deshalb leihe ich mir ein ganz leichtes Jackett, verzichte auf überflüssiges Equipement und bringe meinen Atemregler zerlegt im Handgepäck unter.

Warum nehme ich eigentlich immer eine zweite Jeans, einen zweiten Pullover usw. mit? Zu Hause laufe ich doch auch eine Woche lang in den gleichen Klamotten rum. Und tagsüber auf dem Tauchboot brauchst du eh nur eine Trainingshose, warme Jacke

und Badehosen. Alleine mein großer Tauchbag wiegt schon sechs Kilo von den 20 erlaubten. Nein, ich versuche mein komplettes Gepäck auf 20 kg plus Handgepäck zu begrenzen.

Ja, und eben, bevor ich facebook öffnete, habe ich an einem weiteren Teil meines Reiseberichtes gesessen, an dem ich im Moment arbeite.

Inseln im Thyrrenischen Meer: Sardinien und Korsika

Im Moment bringe ich die Hintergrundmusik ein. Du kennst das sicher aus Filmen als Filmmusik. Ein wesentlicher Teil des Gesamtprojektes. Einen Teil der Musik mache ich selbst mit Gitarre und Gesang. Und auch jetzt steht die Gitarre noch neben mir, mit ihr hab ich mich in Stimmung gebracht, meine Nerven hochgekitzelt, mein Feeling trainiert. Doch länger als zwei Stunden kann man das nicht tun, dann ist man platt, ist leer, ist wie ausgesaugt.

So das reicht, ich denke, ich habe dir genug von mir erzählt, ich muss ja auch noch ein bisschen aufbewahren für den Fall, dass wir uns wirklich einmal treffen.

Ich wünsche dir und deiner Arbeit in der Schule jetzt in den letzten Wochen vor Weihnachten ein gutes Gelingen und denke mal an dich, wenn ich unter der ägyptischen Sonne liege.

Liebe Grüße

Christian

9.

Im Lehrerzimmer der Ernst Barlach Realschule in Miesenhain sitzen, alle weit voneinander entfernt, drei Lehrer. Sie haben eine Freistunde, 45 Minuten keinen Unterricht. Ob das aber Arbeitszeit ist, wird nach wie vor unterschiedlich interpretiert. Auf jeden Fall ist es unterrichtsfreie Zeit, wie die Bürokratie das nennt.

Eine von den dreien ist Veronika Langhäuser, Deutsch- und Geschi-Lehrerin, wie die Schüler sagen. Sie hat wie ihre Kollegin am anderen Ende des Tisches ihren Laptop vor sich stehen und schaut auf ihre facebook-Seite. Doch ihre Gedanken fliehen vom Monitor hinweg.

Ihre Kollegin, Bärbel Sommer, unterrichtet Englisch und Musik, ist so um die zehn Jahre jünger als sie und bei den Schülern recht beliebt. Sie scheint es geschickt zu verstehen, Musik und Englisch miteinander zu verknüpfen: How many roads must a man walk down, lernt sich in Verbindung mit Bob Dylan natürlich leichter, als wenn dieser Satz in Lektion 11 im Englisch-Lehrbuch steht.

Aber sonst weiß Veronika nicht sehr viel über Bärbel, sie sind aber per du, wie die meisten hier.

Um die 50 Frauen, zum Teil als Teilzeitlehrerinnen, manche auch nur mit einem Lehrauftrag für Maschinenschreiben und ähnliches.

Dann unterrichten heute hier auch Frauen, die gar nicht Lehramt studiert haben, sondern als Seiteneinsteiger ein paar Stunden bei mieser Bezahlung diesen Job machen. Sport zum Beispiel. Richtig weiß sie es aber auch nicht. Es herrscht eine ständige Fluktuation und viel reden tut man heutzutage auch nicht mehr miteinander. So wie im Moment.

In einer Ecke des Lehrerzimmers sitzt noch der Mathe- und Physiklehrer Johannes Maier, ihr Alter, übergewichtig geworden in den letzten Jahren. Er sagt offen, dass er keine Lust mehr hat und lieber heute als morgen in den Sack hauen würde.

Veronika erinnert sich an frühere Zeiten. Da hätten die drei jetzt neben einander und gegenüber gesessen, hätten sich unterhalten, gelacht, über einzelne Schüler geschimpft und Pläne für das Schulfest geschmiedet. Informelle Gruppenarbeit, würde man das heute nennen.

Nein, sie hatten einfach nur Spaß miteinander, sie waren Kollegen, auch Freunde, auf jeden Fall zogen sie zusammen an einem Strick, wussten instinktiv, dass dieser Job nur in Solidarität zu bewältigen war.

Sie hatten gemeinsam geraucht und Kaffee getrunken und das Gespräch unterbrach nicht, bis die Klingel zur nächsten Stunde sie zum Aufstehen zwang.

Nein, als Team hatten sie sich nicht gesehen, Team, das war eine Fußballmannschaft mit Trainer mit klar verteilten Rollen.

Lehrer waren früher aber Individualisten, freiheitsliebende Einzelkämpfer, die in Konferenzen Gemeinsamkeit planten, den Rest aber in solidarischen Chaos gestalteten.

Wie gerne ging sie damals jeweils nach zwei absolvierten Unterrichtsstunden in das Lehrerzimmer, es war Heimat und Freiheitsraum, die Viertelstundenpausen dort massierten das angekratzte Ego zum nächsten Einsatz.

Gut, sie alle waren jünger gewesen, aber kann es daran liegen? Auch damals gab es einige ältere Kollegen, die man schon mal ermutigen musste, nach der Konferenz noch auf ein Bier mitzukommen. Die Jungen zogen, die Alten folgten.

Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wann sie mit einer größeren Kollegengruppe im Ort eine Kneipe besucht hatte, gefühlte 50 Jahre nicht mehr.

Egal, sinnlose Gedanken, sie wendet sich der modernen Art der Kommunikation zu.

Facebook ersetzt das Plaudern früherer Zeiten. Wenn sie junge Leute in der Stadt im Straßencafe beobachtete und sah, dass die anstelle von Reden, Erzählen, Flirten, Lachen, nur noch in ihre Smartphones starten, einander mit ausgestreckter Zunge fotografierten und diese affischen Bilder sofort in facebook veröffentlichten,

kommentar- und kritiklos, ahnte sie, dass die Welt sich gerade entscheidend änderte.

Doch auch sie, Veronika Langhäuser, moderne, emanzipierte Frau, nutzt facebook oder benutzt es sogar.

Jetzt zum Beispiel:

Dieser Segler hatte ihr wieder geschrieben und wunderbar von seinen Reisen und seiner Arbeit an den Reiseberichten erzählt. Sogar Gitarre kann er spielen. Und kennenlernen würde er sie gerne. Doch sie hat ihn vertröstet, nicht weil sie wirklich Probleme oder keine Zeit gehabt hätte, nein, wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, genießt sie dieses langsame Anmachen durch kurze Schreiben, durch Andeutungen. Das prickelt mehr, als wenn sie sich mit ihm zum Kennenlernen trifft, dann ist das Flair weg, was sollte an einem 63jährigen auch noch smart sein? Nur sein Geist, sein Charme, wenn er ihr schreibt, sie gewinnen will, reizt sie wirklich. Und nächste Woche fliegt er zum Tauchen nach Ägypten, wird dort wahrscheinlich mit allen Taucherinnen flirten und sie längst vergessen haben.

Ah, sie hat eine Idee: Soll er ihr doch eine Postkarte schicken, dann muss er ihre Adresse mitnehmen, eine vernünftige, interessante, ästhetisch schöne, vielleicht leicht anmachende Postkarte suchen, Briefmarken und eine Postbox finden, und das alles nur für sie, Veronika.

Sie schreibt ihm in der Rubrik: Nachrichten:

Lieber Christian,

ich danke dir für deine netten Zeilen und dass du so verständnisvoll meine momentane Dateabsage akzeptierst.

Ich weiß, das ist nicht selbstverständlich, aber du scheinst ein sehr sensibler Mann zu sein, der bei allem Abenteuergeist und Mut sich ein Herz für kleine Geheimnisse bewahrt hat.

Ja, ich bin seit 30 Jahren Lehrerin und hier an der Ernst Barlach Realschule in Miesenhain schon seit 25 Jahren.

Ich habe Germanistik und Geschichte studiert und liebe ganz besonders die Kunstgeschichte. Da, denke ich, liegt auch eine große Gemeinsamkeit zwischen uns. Deine Reiseberichte zeigen, dass auch du die Welt mit den Augen der Historie schaust, und als ich dein Foto von der Kathedrale Sagrada familia in Barcelona sah und deine ausführliche Bildunterschrift zu Gaudis Architektur, habe ich in dir schon mehr gesehen als den bewundernswerten Segler und Weltenbummler.

Ich konnte in jungen Jahren übrigens auch mal Gitarre spielen, habe es aber schon gefühlte 100 Jahre nicht mehr getan, die Gitarre steht aber noch in einer Ecke meines Arbeitszimmers. Oh, wie liebe ich es, guten Gitarristen zuzuhören. Eric Clapton zum Beispiel. Sein wonderful tonight macht mich an.

Und du fliegst nach Ägypten, Christian !

Da wünsche ich dir ganz viele tolle Erlebnisse. Und ich drücke dir die Daumen für ein super schönes Postkartenwetter. Ach ich denke, jeder Urlaub birgt immer was Schönes in sich. Es fängt schon mit der Vorfreude an. Und wenn man dann noch mit guten Freunden zusammen ist, dann macht das Spaß.

Erstmal siehst du das Meer wieder, auf dem du dich doch sicherlich wie zu Hause fühlst.

Hab eine schöne Zeit und komme gesund wieder zurück!

Wenn du Lust hast, kannst du mir ja eine Karte schreiben. Ich würde mich freuen:

Veronika Langhäuser

Lange Reihe 13

43150 Miesenhain

Mal sehen, wann sie ankommt, aber es ist ja egal!

O.k., das war‘s für heute. Alles Liebe dir, Christian, und pass auf dich auf!

Ciao von Veronika

Ab geht’s, es klingelt gleich. Hat das nun mehr Spaß gemacht, als ein Gespräch mit Bärbel, von Frau zu Frau sozusagen? Sie weiß es nicht. Sie fährt ihren Laptop runter.

10.

Ägypten, Sharm el Sheikh, Tauchbasis Oasis. Christian sitzt zusammen mit seinen Tauchfreunden in der Loggia des Tauchclubs und trinkt ein Deko-Bier. Die Stimmung ist prächtig, er fühlt sich hier pudelwohl.

Heute ist Mittwoch, die Hälfte des Tauchurlaubs schon um.

Sie sitzen an einem langen Tisch, sechs Taucher des eigenen Vereins TSV Seepferdchen Ganzheim, und Rita aus Aschaffenburg, die ganz alleine hierher geflogen ist. Einmal im

Jahr der häuslichen Routine entfliehen, dem schönsten Hobby der Welt nachgehen und Gleichgesinnte treffen und mit ihnen Party machen. Neben ihr Rainer aus Basel, erst 26 Jahre alt, Reisender in Sachen Parfüm, spricht arabisch und hat sich auch den Ganzheimer Tauchern angeschlossen, weil dort am meisten los ist. Es wird gelacht und viel erzählt, kurzweilige, lockere Unterhaltung ist am Tisch, aber auch schon vorher auf dem Tauchboot angesagt. Rainer fühlt sich hier wohl, obwohl der jüngste der Ganzheimer schon 44 Jahre zählt. Christian selbst ist mit seinen 63 Jahren der Senior an diesem Tisch, aber nicht der älteste im Tauchclub.

Da gibt es noch ein älteres Pärchen, sie Anfang 50, Rubensfigur, er, Matthias, 65 Jahre alt und schlank und durchtrainiert. Ja, und dann haben sie noch Safak und Leonhard in ihrer Gruppe integriert, beide wohnhaft in Salzburg in Österreich, sie, wie der Name schon verrät, türkischer Abstammung. Safak, die aufgehende Morgenröte, heißt das auf Türkisch. Doch sie erzählt, sie sei eigentlich Kurdin, fühle sich aber türkisch, so wie ein Bayer sich deutsch fühle, wenn er nach Hamburg komme. Christian staunt. Anfang 30 und so beschlagen und weltoffen. Toll. Ihr Freund Leonhard ist nicht ihr Lover, sondern ihr bester Freund. Ja, sowas hat es früher auch schon gegeben. Beziehungskisten sind eine seltsame Fracht.

Happy hour feiern sie jeden Tag, wenn sie mit dem Tauchboot in den Hafen laufen und dann vom Minibus des Tauchclubs zurück in die Basis gefahren werden. Jetzt kostet die Flasche Bier nur 12,5 Ägyptische Pfund, also rund 1,60 €. Außerhalb dieser berühmten Happy hour- Zeit das doppelte.

Christian genießt diese tolle Gruppendynamik. In den 80ern war das selbstverständlich, doch in den 1990er Jahren hatte sich die Einstellung zu Vereinen und zu gemeinsamen Unternehmungen langsam verändert. Immer mehr trat der Individualismus in den Vordergrund, man buchte eine Tauchreise mit irgendwelchen Leuten irgendwo hin. Nur preiswert oder exotisch musste es sein. Absprachen, Kompromisse wurden erst gar nicht mehr angestrebt.

Sogar die gemeinsame Fahrt der TSV nach Düsseldorf auf die boot, die große Ausstellung für Wassersport, war aufgegeben worden, weil man keine Gemeinsamkeit mehr herstellen konnte. Die einen wollten samstags, die anderen sonntags, die einen wollten abends um 18.00 Uhr nach Messeschluss sofort nach Hause, die anderen noch traditionsgemäß in die Düsseldorfer Altstadt. Und die letztere Gruppe zerfiel in die, die aber um 22.00 Uhr zu Hause sein wollten und die, die kein Ende fanden. Schließlich kam diese Tour, die fast 20 Jahre lang Vereinsveranstaltung war, nicht mehr zustande.

Ja früher, früher trank man sein Dekobier unmittelbar auf dem Boot, nachdem man den Tauchgang beendet hatte. Erst das Bier und dann sich aus dem Anzug schälen.

Oh, das ist heute verpönt. Erst wenn man wieder trocken mit Trainingsanzug und Wollmütze im Salon sitzt, trinkt man Kaffee oder Tee, eventuell auch eine Cola, aber nie Alkohol.

Er erzählt am Tisch die Story mit den abgestorbenen Gehirnzellen.

Alle wenden ihre Aufmerksamkeit ihm zu.

Vor ungefähr 15 Jahren beschäftigte sich der Sporttaucher, die Zeitschrift des deutschen Tauchsportverbandes, mit einem medizinischen Thema. Bei jedem Tauchgang würden Millionen von Gehirnzellen durch den Überdruck unter Wasser absterben: „Tauchen macht blöd“, hieß der Slogan. Allgemeines Gelächter ertönte, jeder versuchte mit einem weiteren Gag die Stimmung am Tisch noch höher zu bringen.

Christian erzählt weiter, wie die Diskussion fast ein Jahr lang in dieser monatlich erscheinenden Fachzeitschrift weiter aufgekocht wurde, Leserbriefe wurden veröffentlicht, Pro und Contra hielten sich die Waage, die Menge der abgestorbenen Gehirnzellen schwankte zwischen hunderttausend und vielen Millionen. Doch schließlich schrieb ein Taucher einen allgemein überzeugenden Leserbrief: Egal, welche Berechnung man anstellen würde, bei jeder Flasche Bier nach dem Tauchen würden auf jeden Fall mehr Gehirnzellen absterben. Danach war diese akademische Diskussion gestorben. Prost!

Allgemeiner Beifall, die Stimmung steigt weiter.

Am Counter des Tauchclubs steht eine neuartige Maschine, ein Postkartencomputer. Man wählt ein Foto vom Tauchgeschehen aus, gibt eine email-Adresse ein und schon ist die Postkarte mit dem obligatorischen Hai oder, was immer gefällt, bei dem Zuhausegebliebenen. Tolle Sache, denkt Christian, würde Veronika auch eine solche Karte schicken, aber ich kenne nicht ihre mail-Adresse.

Er steht vom Tisch auf und verlässt den Club, um eine traditionelle Postkarte zu kaufen. Wirklich originelle Karten haben sie hier in diesem Sinai-Touristenort nicht. Strandmotive, das Katharienenkloster, Red Sea Fotos und natürlich Unterwasseraufnahmen. Er kauft eine Karte, auf dem ein Taucher hinter einem wunderbar bunten Korallenstock zu sehen ist, erwirbt die für Germany notwendigen Briefmarken und geht zurück zum Club.

Letzte Runde im Happy hour wird eingeläutet. Last order!

Während Michael Stories von seiner Arbeit erzählt, schreibt Christian schnell einen kleinen Text auf die Postkarte:

Viele Grüße aus Sharm el Sheikh. Unsere Gruppe sitzt beim Bier und die Stimmung ist toll. Wir trinken auf die ersten sechs wunderbaren Tauchgänge hier am Sinai. Gestern waren wir draußen vor Ras Muhamed, dem Südkap der Sinai-Halbinsel. Das Meer fällt dort in einer Steilwand in scheinbar unbegrenzte Tiefen. Wir schwebten wie die Adler an dieser Wand herab. Leider sind auch hier schon Großfische selten.

Liebe Grüße

Christian

So, sein Flirtauftrag ist erfüllt, in der Hotelrezeption hängt eine Letterbox.

Alles andere später am Laptop über facebook. Er wendet sich wieder dem Gespräch am Tisch zu.

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