Kitabı oku: «Absprunghöhen», sayfa 2

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Eine Märchenlandschaft

Eines Morgens hatte Leitner den längst vergessen geglaubten Schweißgeruch an sich entdeckt, und ein wenig ratlos war er aufgestanden und hatte sich mit derselben Sorgfalt rasiert, die ihn bereits als Kind an seinem Vater verwundert hatte. Auch heute war er besonders gründlich rasiert und die irritierte Haut seiner Wangen schmerzte an der kalten Luft. Dennoch hatte er einen Umweg gemacht.

Auf dem Rückweg vom A&O war er den Kirchberg hinunter, vorbei beim Gasthof Gruber aus dem Dorf hinaus in den Wald gegangen, in jeder Hand eine Einkaufstasche, die mit Brot, Käse, Mandarinen, ganzen Erdnüssen und Mineralwasserflaschen gefüllt waren. Die abgegriffenen Taschen waren schwer, und die Henkel schienen trotz der Wollhandschuhe die Haut seiner Handflächen zu furchen. Der Frost war auch in diesem Jahr pünktlich zu Allerseelen gekommen und hatte die Landschaft verglast.

Zügig ging Leitner am Rand der Bundesstraße und unter seinen Schritten klirrte der Boden und seine Atemzüge standen ihm wie Rauchwolken vor dem Gesicht. Ein Auto kam ihm entgegen, der Fahrer ließ grüßend das Fernlicht aufblitzen, und Leitner erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Vor vierzehn Jahren hatte er die Dorfbücherei ins Leben gerufen, vor allem, damit ihm die Pension nicht allzu langweilig wurde. So kannten ihn die Leute der Umgebung. Donnerstags am Abend, von fünf bis sieben Uhr, und sonntags am Vormittag, von neun bis halb zwölf: Da war die Bücherei geöffnet. Und die Leute kamen, ließen sich Bücher empfehlen und tratschten: über ihren Sohn, der nicht das Gymnasium fertig machen, sondern wie die Freunde verdienen gehen wollte, über die Tochter, die Samstag abends nicht mehr nach Hause kam, über Probleme beim Einschlafen, die der Hausarzt nicht behandeln konnte, über den bevorstehenden EU-Beitritt, von dem man nicht wusste, was man von ihm halten sollte. Leitner hörte mit viel Geduld und Ruhe zu, und die Leute mochten ihn, ohne sich für ihn zu interessieren. Das war ihm nicht unrecht. Er hatte kein Bedürfnis von sich zu sprechen.

Nachdem er etwa eine Viertelstunde gegangen war, kam er an den Feldweg, der die Verbindung zwischen der Siedlung am östlichen Rand des Dorfes und der Bundesstraße darstellte. Obwohl die Statistiken eine Abwanderung der Bevölkerung aus dem Bezirk um Gmünd verzeichneten, wuchs die Siedlung ständig und wurde im Verlauf eines Jahres oft um zwei bis drei Rohbauten erweitert.

Sie bauten alle viel zu groß. Sie bauten, als hätten sie einen Lottogewinn oder eine Erbschaft gemacht. Sie bauten für ein ewiges Dasein, für ihre Pension, ihre Kinder, ihre Kindeskinder und die Generationen danach. Doch die Kinder suchten ihr Glück in den umliegenden Städten und alleine blieben die Eltern in riesigen Häusern zurück, bewohnten vielleicht drei oder vier der vielen Zimmer und benutzten die restlichen Räume als Gerümpelkammern, in denen sie Ersatzteile, Schaufeln, Gießkannen und Kinderspielzeug lagerten. An manchen Sonntagen öffneten die Männer morgens die unbewohnten Zimmer und starrten auf das Durcheinander, ohne die Schwelle zu übertreten. Unrasiert und beide Hände tief in die Hosentaschen vergraben standen sie einfach da und sagten kein einziges Wort. Die wenigsten zahlten ihren Kredit vor der Pension zurück.

Die Häuslbauer kamen nicht gut miteinander aus. Sie begegneten einander mit Vorsicht und in Angst vor einer bösen Nachrede. Selten wechselten sie mehr als die üblichen Grußworte, und zwang sie ein Umstand dennoch zu einer Unterhaltung, dann sprachen sie stockend und brachen das Gespräch mitten im Satz ab. Freundschaften gab es nur unter den Kindern und verloren sich, sobald diese mit dem Schulaustritt jeder Gemeinsamkeit verlustig gingen. So verließen die Leute ihre Häuser nur, um zur Arbeit, zum Friedhof oder zum Wirten zu gehen. Außer der einen Städterfamilie, die jetzt nur mehr selten ihre Wochenenden am Land verbrachte, kannte Leitner niemand von hier.

Er erreichte die Mariensäule, die den Schnittpunkt von Ortskern und Siedlung markierte. Dort hielt Leitner an und stellte die Einkaufstasche ab. Er streckte sich und blickte auf die mater dolorosa. Leitner war klein mit flinken braunen Augen, die hinter eckigen Brillen in Deckung lagen. Er nahm den Hut ab und fuhr sich über das Haar. Es war der Hut seines Vaters. Dieser hatte sich die mit einer Hahnenfeder geschmückte Kopfbedeckung zum sechzigsten Geburtstag gewünscht und war dann, ohne sie jemals getragen zu haben, verstorben. Heute war sein Todestag.

„In den Mantel helfen dürft ihr mir erst nach dem ersten Schlaganfall“, hatte der Vater nach jeder Familienfeier gescherzt, und selbst wenn die vielen Krügerln und Vierteln aus dem Anlegen des Mantels ein schier unausführbares Kunststück gemacht hatten und der Vater mit seinen nach hinten gestreckten und in den Einschlupflöchern der Ärmel verfangenen Hände wie ein riesiger Schmetterling um den Mittelpunkt eines konzentrisch anwachsenden Kreises tanzte, duldete er nicht die geringste Hilfestellung. „Schleich dich“, fauchte er dann jeden an, und einmal ließ er mit einem Fluch den Mantel einfach auf den Boden fallen und ging im Sakko nach Hause. Drei Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstags starb er. Eines Morgens lag er im Bett und stand einfach nicht mehr auf, und wie Leitner später Jochen erzählte, sei er einfach dagelegen, als wäre das Sterben das Natürlichste im Leben.

„Meine Mama sagt, wenn man stirbt und im Leben auf den lieben Gott gehört hat, dann kommt man in den Himmel“, hatte Jochen geantwortet. Und dann hatte er zu Leitner gesagt: „Darf ich zu dir Opa sagen?“ Und als Leitner erstaunt fragte, was denn Jochens Opa dazu sagen würde, hatte Jochen geantwortet: „Den stört das nicht, der ist schon im Himmel.“ Da hatte Leitner gelächelt und eingewilligt.

Leitner zog die Handschuhe aus, bückte sich und holte aus einer Einkaufstasche das Säckchen mit den Erdnüssen heraus. Er öffnete es, nahm eine Handvoll und steckte sie in seine Manteltasche, die übrigen Nüsse verstaute er wieder in der Einkaufstasche. Er nahm eine Erdnuss und brach die Schale auf. Feiner Staub tanzte zu Boden. Er schob die Erdnuß in den Mund. Die Braunau würde nun bald ganz mit Eis überwachsen sein. Als sie Jochen aus dem Fluss zogen, war er so steif gefroren gewesen, dass sie ihm beim Versuch das Stück Holz herauszulösen, das er in den Händen hielt, die Finger brachen. Leitner fixierte die mater dolorosa. Die Witterung hatte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit erodiert. An einem Donnerstagabend im Oktober war Jochen in die Bücherei gekommen – klein, feingliedrig, mit porzellanblauen Kinderaugen – und fragte, ob er sich etwas zum Lesen ausborgen könne. Zufällig war Leitner alleine in der Bücherei, und neugierig musterte er den Buben. „Grüß dich. Wer bist denn du?“, fragte er Jochen, und Jochen nannte seinen Namen im reinsten Hochdeutsch. Mit unverhohlener Neugierde stand er eineinhalb Meter von Leitners Schreibtisch entfernt und betrachtete die vielen nach Themenbereichen geordneten Bücher.

„Was interessiert dich denn?“, fragte Leitner.

„Naja ... ich muss jetzt gehen“, erwiderte Jochen mit einiger Verzögerung, dafür umso hastiger, „kann ich morgen wiederkommen?“

„Morgen bin ich nicht da, aber wenn du am Sonntag kommst, bin ich wieder hier. Wenn du dann ein Buch findest, dann schreibe ich dir einfach eine Karteikarte mit einer Karteinummer, und dann kannst du dir das Buch mitnehmen, und pro Woche, die du es ausgeborgt hast, zahlst du zwei Schilling.“ Jochen nickte eifrig, dann war er verschwunden gewesen.

Leitner nahm noch eine Erdnuss. Eine kurznackige Frau kam mit einem zusammengefalteten Tischtuch aus dem Haus. Sie blickte misstrauisch zu Leitner hinüber, beutelte das Tischtuch aus und ging wieder ins Haus. Am Rand der Siedlung ließ jemand einen Dieselmotor an, und das plötzliche Geräusch überlagerte das Klingen in Leitners Ohren. Dann war es wieder so ruhig, als gäbe es in einer gläsernen Welt kein Geräusch.

Brünhild, hatte Leitner erzählt, lebe im ewigen Eis, doch ihre Burg war von einem Ring aus Feuerzungen umgeben, den nur ein wahrer Held durchdringen konnte. Sie war so schön, wie sie dunkel war, eine große Dunkelheit mit den kühlen Augen einer Herrenfrau. Jochen unterbrach Leitner mit der Frage, ob Brünhild größer als ein Meter achtzig gewesen sei, und irritiert erwiderte Leitner, dass er das nicht wisse, als er aber Jochens Enttäuschung sah, beeilte er sich, die Walküre noch einmal um fünf Zentimeter wachsen zu lassen. Jochen wollte alles genau wissen, wahrscheinlich war er der aufmerksamste Zuhörer, den Leitner jemals gehabt hatte.

Er zog seine Handschuhe wieder an, hob die Taschen vom Boden auf und machte sich weiter auf den Weg. Seine rechte Schulter schmerzte, es waren die Gelenksschmerzen; auch die kamen jedes Jahr um diese Zeit wieder. Als Jochen am Sonntag nach jenem Donnerstag die Bibliothek betrat, hatte Leitner ein Buch bereitgelegt. Eine illustrierte Nacherzählung des Nibelungenlieds, deren Einband Siegfrieds Kampf mit dem Drachen zeigte. Jochen trat zielstrebig ein, blieb aber abwartend in einiger Entfernung stehen. Leitner winkte ihn zu sich und hielt dem Buben das Buch hin. Ob er das schon kenne. Jochen schüttelte den Kopf. Das müsse er unbedingt lesen. Es werde ihm gut gefallen. Jochen erwiderte, dass er aber erst in zwei Wochen wiederkommen könne, da er nach Wien fahre. „Nimm das Buch mit, aber bring es mir wieder. Ich habe es extra für dich vorbereitet.“

Die Straße war alt und der Asphalt stellenweise von knapp unter der Erdoberfläche liegenden Baumwurzeln gesprengt. In Gedanken verloren stolperte Leitner über eine Unebenheit und konnte sich nur mühsam auffangen. Vom Schreck pochte sein Herz so stark, dass sein Brustkorb schmerzte. Vor seinen Augen tanzten schwarze Flecken. Als sich sein Blick wieder scharfgestellt hatte, bemerkte er, dass er nur wenige Meter von der Stelle entfernt stand, an der sie Jochen aus der Braunau gezogen hatten. Jochen musste an einer nur von dünnem Eis überwachsenen Stelle weiter flussaufwärts eingebrochen und dann starr von Schreck und Kälte ins Wasser gerutscht sein. Dann hatte ihn wohl die Strömung erfasst und hierher gespült. Auf den farbigen Fleck unter der dünnen Eisschicht unweit von der Brücke aufmerksam geworden, verständigte ein Spaziergänger die Polizei. Diese hatte bereits vor einigen Stunden eine Verlustnachricht der Eltern erhalten und als großstädtische Nervosität abgetan. Nun aber befürchtete man das Schlimmste und rückte gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr aus. Zur Seelenmesse hatte sich Leitner unter die zehnte Kreuzwegstation gesetzt. „Ich bin immer gottgläubig gewesen“, begann er zu beten. Über diesen Anfang war er nicht hinausgekommen.

Das Stechen in der Brust ließ nach, ohne ganz zu verschwinden. Leitner war alt geworden und würde an seinem Alter sterben, dabei hatte er viel Schlimmeres überlebt als Gelenksschmerzen, Stechen in der Brust oder Sehschwächen. Vor beinahe fünfundvierzig Jahren, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, hatte er seinen Beruf als Volksschullehrer wieder aufgenommen. Einmal im Jahr, meistens im Mai, hatte er die umliegenden Schulen der Umgebung besucht und den Kindern die Geschichte vom Drachentöter und seiner Liebe, von König Etzel, vom schwachen König Gunther, von Albrecht und dem Schatz der Nibelungen erzählt. Vor allem aber von Hagens Treue. Bedingungslose Treue. Oft war er dabei ins Schwärmen gekommen.

Auf die Frage, ob er sein eigenes Schwert, seinen eigenen Balmung besäße, hatte Jochen den Kopf geschüttelt. Er dürfe keine Spielzeugwaffen besitzen, das wollten die Eltern nicht. „Ein Ritter braucht ein Schwert“, hatte Leitner erwidert, „und du bist ja ein Ritter. Und ein Schwert ist kein Spielzeug.“ Er lud Jochen ein, ihn am Nachmittag zu Hause zu besuchen.

Kurz nach drei Uhr klingelte Jochen. Leitners Frau war nicht zuhause, und so öffnete Leiter selbst die Tür. Er gab Jochen die Hand und führte ihn durch das Haus in den Hinterhof, wo sich ein kleiner Schuppen befand. Dort hatte sich Leitner eine kleine Werkstatt eingerichtet. Leitner machte Licht, schloss die Tür und wies Jochen an stillzustehen, damit er Maß nehmen könne. Dann ging er in die Hocke, umfasste mit losem Griff Jochens Knöchel und fuhr das Bein mit einer kaum spürbaren Bewegung hinauf bis zu den Hüften. Dort löste er den Griff und schlug Jochen sanft mit der Handkante gegen das Hüftgelenk. Er lächelte ihn an und sagte, „so lange“, und er schlug Jochen noch einmal gegen die Hüfte, „so lange muss ein Schwert sein, damit es etwas taugt. Von hier“, dabei berührte er den Knöchel des Buben, „bis hier“, und er ließ seine Hand voll an Jochens Hüfte ruhen. Dabei blickte er Jochen ins Gesicht. Dann nickte er einige Male schweigend. Endlich ließ er Jochen los und stand auf. „Komm, wir schmieden dir ein Schwert.“ Er griff nach einer etwa zehn Zentimeter breiten und einen Zentimeter dicken Latte aus Eichenholz und lehnte sie sanft gegen Jochen. Dann nickte er und pfiff vor sich hin. Er bat Jochen, ihm das Lineal zu geben, bekam es und zeichnete die Umrisse eines Schwertes auf das Holz. Die Klinge war lang und schlank und der Knauf kurz und bullig. „Gefällt es dir?“ Jochens Augen blitzen. „Bemalen und verzieren freilich musst es du. Das kann ich gar nicht. Es ist dein Schwert, du musst es nach deinem Gutdünken und deiner Vorstellung verzieren. Nicht zu viel verzieren, ein Schwert ist kein Schmuckstück. Es ist eine Waffe, deine Waffe. Verstehst du mich?“ Jochen nickte mit funkelnden Augen und kaute verträumt an seiner Unterlippe. „Ich weiß, dass du mich verstehst“, lächelte Leitner und strich Jochen über den runden Hinterkopf.

Er fixierte die Latte und begann präzise und mit kleinen runden Sägebewegungen die gezeichnete Vorlage aus dem Holz herauszuschneiden. Jochen stand in einiger Entfernung und beobachtete alles mit großer Aufmerksamkeit. Sägespäne tänzelten zu Boden. Nachdem Leitner seine Arbeit beendet hatte, hielt er das Schwert hoch und betrachtete es eingehend. Dann nickte er, rundete die Spitze der Klinge mit Sandpapier und überreichte es Jochen. Ehrfurchtsvoll nahm es der Bub entgegen. „Es ist freilich noch nicht fertig“, erklärte Leitner. „Du musst ihm den Feinschliff geben, die Ecken abfeilen und den Griff abrunden, damit es dir und nur dir gut in der Hand liegt.“ Und er gab Jochen das Sandpapier und zeigte ihm, wie es zu handhaben war. Dann setzte er sich auf den Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und betrachte den am Boden kauernden und in seine Arbeit versunkenen Buben. Jochen war geschickt und feilte emsig und mit großem Ernst an dem Stück Holz. Manchmal murmelte er halblaut vor sich hin oder gab Geräusche von sich, die wie Geysire Zeugnis von Vorgängen einer ansonsten hermetisch abgeschlossenen Welt gaben. Schweigend wartete Leitner, bis Jochen seine Arbeit beendet hatte. Es dauerte beinahe eine Stunde, dann war Jochen fertig. „Schau!“ Er hielt Leitner das Schwert hin, und Leitner nahm es und prüfte mit der Hand die Glätte des Holzes, tat, als versichere er sich der Schärfe der Klinge, simulierte einige Fechtbewegungen und nickte dann ernsthaft.

„Knie dich hin“, befahl er Jochen, und Jochen tat wie ihm geheißen. „Ein Ritter ist seinem König treu, bedingungslos treu. Gehorsam ist sein Panzer, Ehrlichkeit sein Helm, Tapferkeit sein Schwert und der Glaube an das Heil seine einzige Zierde. All diese Tugenden sind dir zueigen und ich weiß: Du wirst mein Urteil nie enttäuschen. Und deshalb frage ich dich, willst du ein Ritter des Sonnenrads werden, dann sage jetzt laut und deutlich: Ich gelobe.“ Und Jochen antwortete laut und deutlich: „Ich gelobe.“ Und Leitner fuhr fort: „Gelobst du der Sonne, der ewigen und allmächtigen, zu dienen in Treue und Bereitschaft?“ Und Jochen nickte heftig und Leitner sprach ihm leise vor und Jochen wiederholte laut: „Ich gelobe.“ Jetzt bekam Leitner einen heftigen Hustenanfall, der den Weiheakt unterbrach, doch nichts von der Feierlichkeit in seiner Stimme nehmen konnte, als er fortfuhr: „Gelobst du über alles, was du hier gesehen und erfahren hast, zu schweigen, niemandem etwas zu erzählen und das Geheimnis deiner Ritterschaft immer tief in deinem Herzen zu tragen?“ Er blickte Jochen scharf an, und der Bub nickte ein wenig unsicher, dann aber umso heftiger, und sprach mit kindlicher Sorgfalt: „Ich gelobe.“ Und Leitner sagte, „so schlage ich dich zum Ritter des Sonnenrads“, und sanft legte er die Holzklinge auf die rechte, dann auf die linke und wieder auf die rechte Schulter. Dann sagte er: „Erhebet Euch, Ritter Jochen.“ Und Jochen erhob sich. Leitner gab Jochen das Holzschwert in die Hand, das dem Buben, als er es mit der Spitze auf den Boden stellte, bis zur Hüfte ging. „Willst du es nicht verzieren“, fragte Leitner, aber Jochen schüttelte den Kopf und meinte: „Es hat schon alles. Da der rote Stein am Griff und die Klinge aus Damaszenerstahl. Ich will es so haben.“ Dann hielt er kurz inne und fragte: „Was ist ein Sonnenrad?“ Leitner lächelte und streichelte Jochen über die blonden Bubenhaare. „Ein altes, gutes Zeichen“, erwiderte er nach kurzem Zögern, „ein altes, gutes Zeichen.“

„Kann ich jetzt ein bisschen hinausgehen“, fragte Jochen und Leitner nickte, schärfte ihm aber ein, bald wieder zurückzukommen und in der Nähe zu bleiben. Dieser Schuppen sei jetzt seine Rüstkammer, in der Schwerter aufbewahrt würden, wenn er zurückkomme, könne er sein Schwert hierlassen. Leitner passe darauf auf, und Jochen könne es jederzeit verwenden. Dann schärfte er Jochen noch einmal ein, bald wieder zurück zu sein.

Aber Jochen war nicht bald zurück gewesen, und Leitner hatte ihn von Vorahnungen geplagt zu suchen begonnen. Er war im nahen Wald herumgegangen, hatte Jochens Namen gerufen; dann wieder quer durchs Dorf, durch die Siedlung, wieder zurück. Zur Bergung war er gerade rechtzeitig gekommen.

Leitner erreichte sein Haus. Im Vorhaus zog er sich die Schuhe und den Mantel aus und trug die Einkaufs­taschen in die Küche. Dann ging er ins Schlafzimmer, um seine Frau zu begrüßen. Sie war bettlägerig und schien gedöst zu haben, aber sobald Leitner eintrat, öffnete sie die Augen. Er beugte sich zu ihr hin und küsste sie auf beide Wangen. Sie sah ihn an. „Du siehst bedrückt aus. Denkst du noch immer an ihn?“ Leitner gab keine Antwort, richtete sich wieder auf. „Du solltest den Hut nicht tragen, wenn dich die Erinnerung so bedrückt, er …“, sie unterbrach sich erschöpft. Sie schloss ihre im Alter ganz hellblau gewordenen Augen und bedeckte ihre Stirn mit einer kraftlosen Bewegung. Leitner bemerkte, dass er vergessen hatte, den Hut abzunehmen. Gedankenverloren strich er über die Hahnenfeder, nickte nur. „Ich mache uns einen Tee.“ Er ging an der Kleiderablage vorbei und hängte den Hut daran, sah sich kurz in den Spiegel, fuhr sich durch das schüttere weiße Haar und ging in die Küche. Er setzte Wasser auf und blickte aus dem Küchenfenster. In der Ferne fuhr ein Zug durch eine gläserne Märchenlandschaft. Leitner wandte sich vom Fenster ab. Vom Teekessel stiegen Dampfwolken auf. Müdigkeit verhängte den Blick.

Gliese 581c oder
Der Traum meines Freundes Tariq

Für Sylvia und Essam

Schließlich ergänzte Iba die Erzählung Tariqs. Denn er, der so gute Ideen hatte und stundenlang über Politik oder Religion monologisieren konnte, schwieg und hatte ihrem vorwurfsvollen Blick nicht mehr entgegenzusetzen als Achselzucken und hilfloses Lachen.

So sei er nun einmal, sagte er schließlich leise, worauf Iba in Wut geriet und ihn auf Arabisch zur Rede stellte. Ihre Angst war ehrlich und groß wie ihre Wut, und ebenso groß war ihre Stimme, die beinahe brach. Auch wenn ich kein Arabisch verstehe, konnte ich mir denken, was sie ihm vorwarf: Er dürfe nicht immer nur an andere denken, er habe auch eine Familie und was solle sie tun, wenn er nicht mehr sei? Tariq zuckte weiterhin nur mit den Achseln, Iba sah ihn kopfschüttelnd an, und ich saß dort, wo ich oft sitze: zwischen zwei Menschen, zwischen zwei Stühlen, in einem Streit, der nicht meiner ist. Und im Versuch die Spannung zu lösen, machte ich den Vorschlag, der zwar dumm war, aber keine Konsequenzen hatte, indem ich Tariq anstieß und sagte: „Komm, wir kaufen uns die neue Welt!“

Wie Tariq erzählt hatte, war er um sieben Uhr morgens losgefahren. Der Wecker läutete um halb sechs, Iba drehte sich noch einmal um, und Tariq stand auf, kochte sich einen grünen Tee, aß das Frühstück, das ihm Iba am Vorabend hergerichtet hatte, und stellte sich unter die Dusche. Dann zog er die beige Kargohose und das ebenso beige, kurzärmelige Hemd an, packte seinen Notizblock in den Rucksack und verließ die Wohnung.

Auf dem Weg in den Keller traf er Elias. Elias kam gerade von einer Party, zu der seine Freundin geladen hatte, und vielleicht, sagte Tariq, vielleicht sollte ein Vater seinen Sohn zur Rede stellen, wenn dieser mit siebzehn Jahren um sechs Uhr morgens von einer Party nachhause kommt. Er tat es jedoch nicht, denn er war dankbar, dass Elias Freunde hatte, ja sogar eine Freundin, deren Vater ein bekannter Rechtsanwalt war. Das war nicht selbstverständlich. Lange genug war Elias von seinen Schulkollegen geschnitten worden. Tariq hielt seinem Sohn die rechte Hand hin, damit dieser mit einer lässigen Gebärde nach der Art seiner Kumpels einschlagen konnte. „Sei leise“, mahnte er, „die Mama schläft noch.“

Im Keller packte er die Dose mit den Ködern, den Behälter für gefangene Fische und die Angelrute, ordentlich zusammengelegt, in den Rucksack, fixierte den Klappstuhl auf dem Gepäckträger und trug sein Fahrrad auf den Gehsteig. Es war ein altes KTM-Fahrrad, das wir gemeinsam auf eBay ersteigert hatten. Mit seinen Sechsundzwanzig-Zoll-Reifen war es Tariq etwas zu hoch, und wenn er stehenblieb, musste er vom Sattel auf die Lenkstange rutschen und das Fahrrad schräg stellen. Sonst hätte er mit den Füßen nicht den Boden erreicht. Aber er war nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Die mochte er nicht, dort wurde er beobachtet. Noch lag kein Dunst über dem dritten Bezirk. Tariq atmete tief durch und wartete, bis sich sein Puls, der vom Tragen des Fahrrads in die Höhe geschnellt war, beruhigt hatte. Dann fuhr er los.

Er nahm den Weg, den er immer nahm, wenn er fischen ging. Er überquerte den Donaukanal bei der Franzensbrücke und fuhr zum Praterstern, wo er der Lassallestraße bis zur Reichsbrücke folgte. Dort nahm er die Abfahrt zur Donauinsel. Ziemlich weit nördlich warf er die Angel aus.

Warum Fischen so ein besonderer Sport sein soll, habe ich nie verstanden. Besonders langweilig. Das ja. Aber beim Angeln waren Tariq immer die besten Ideen gekommen. Die Idee zu seinem bekanntesten Theaterstück, in dem ein Affe, ein Esel und ein Hund zwischen Pyramiden, arabischen Reitern oder britischen Besatzern die verschiedenen Epochen seines Herkunftslandes durchwandern, war ihm auf einem kleinen Boot in der Bucht von Abu Qir gekommen. Ebenfalls beim Angeln. Das Mittelmeer. Die Sonne. Die Ruhe. Die Kunst, rechtzeitig Schnur zu geben und wieder einzuholen. Als ob Angler und Fisch ein Team seien. Die neue Donau war natürlich nicht gerade das Mittelmeer. Aber besser als nichts.

Tariq und Iba hatten mich zum Abendessen eingeladen. Sie aßen immer sehr früh, und so läutete ich am späten Nachmittag an ihrer Wohnungstür in der Dianagasse. Der Zeitpunkt des Abendessens war durch die Arbeitswoche vorgegeben. Iba arbeitete halbtags und kümmerte sich am Nachmittag um den Haushalt. Wenn Tariq gegen sechs Uhr abends von der Bibliothek kam, in der er den Bücherbestand der letzten drei Jahrhunderte katalogisierte, war er hungrig und wollte essen. Sein Hungergefühl stellte sich auch am Wochenende zur selben Zeit ein. Es war die einzige Mahlzeit, die sie am Tag gemeinsam einnahmen, und dieses Ritual war ihnen wichtig. Genauso wie es ihnen wichtig war, dass ich, wenn ich zu Besuch war, mitaß. Lehnte ich ab, wurde meine Ablehnung als Schüchternheit aufgefasst. Erkannte Iba, dass ich wirklich keinen Hunger hatte, fühlte sie sich zurückgewiesen. Details wie diese bestätigten mir, dass unsere Freundschaft über eine kulturelle Grenze gebaut war. Elias aß übrigens nie mit seinen Eltern, er aß irgendwann, hatte jede Freiheit. An diesem Abend war er nicht zuhause.

Tariq öffnete und reichte mir die Hand. Iba war noch in der Küche beschäftigt und würde gleich zu uns kommen. Wir setzten uns in die Polstersessel im Wohnzimmer und sprachen über irgendwelche Belanglosigkeiten.

Wir hatten lange gebraucht, bis Belangloses Gegenstand unserer Gespräche wurde. Nicht einmal bei unserer ersten Begegnung war Zeit für Smalltalk. Ich erinnere mich gut daran. Ich hatte Elias Nachhilfeunterricht gegeben, und als ich durch das Wohnzimmer in Richtung Vorzimmer ging, wo ich meine Schuhe abgestellt hatte, bat mich Iba Platz zu nehmen. Es war Mitte August und sehr heiß. Die Fenster waren verdunkelt, der Fernseher lief. Neben der Couch surrte ein Ventilator. Tariq saß in seinem Polstersessel und rauchte. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Tariq rauchte wortlos weiter, Iba drehte den Fernseher ab. In Stille vergingen Minuten. Schließlich sagte Tariq nicht ohne theatralisches Geschick: „I had a dream.“ Dann lauter und energischer: „I have a dream.“

Wovon träumte Tariq?

Seinem Sprechen nach zu urteilen, litt er an seinem Traum. Bei unserer ersten Begegnung sprach er nur Englisch, mit der Zeit wechselte er immer öfter ins Deutsche. Dass er gezwungen war, sich in einer ihm noch fremden Sprache auszudrücken, hemmte ihn, doch es schmälerte nicht die Faszination, die von ihm ausging. Er war ein brillanter Rhetoriker, der, um zur vollen Kraft seiner Gedanken zu gelangen, Publikum brauchte; jemand, der ihm zuhörte und gelegentlich nickte, eine Frage stellte oder nachdenklich einen Punkt in weiter Ferne fixierte; jemand, der in seinen Intonationskurven und exakten Stimmmodulationen die Richtigkeit seiner Anschuldigungen und dahinter die Größe seines Traumes erkannte. Was auch immer dieser war. Denn direkt sprach er nie von ihm. Vielmehr verbiss er sich in allem, was dessen Umsetzung behindert hatte und auch in Zukunft behindern würde. Und das Hindernis, wie ich nicht bei unserer ersten Begegnung, aber nach vielen Monologen begriff, war nichts weniger als diese Welt.

Tariq war polemisch und schien mir in seinen Schlussfolgerungen oft erschreckend banal: Sie nehmen alles. Dieser Satz strukturierte wie ein Refrain seine Analysen und Anschuldigungen. Fragen, wer sie seien oder was alles bedeute, irritierten ihn. Machten ihn geradezu wütend, und ich dachte, er sei wütend, weil ich so begriffsstützig sei. Schließlich aber erkannte ich, dass er wütend wurde, da er jede Differenzierung als Relativierung seiner Weltsicht und somit als Resultat kapitalistischer Propaganda begriff. Sie wollen, dass wir so denken. Die Wirklichkeit sei anders. Manager, Universitätsprofessorinnen, Straßenkehrer, Büroangestellte. Alles ein und dasselbe. Sie sind Arbeiter. Sie machen für wenig Lohn alles. Und alles, was sie machen, nehmen sie: Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, dass mit sie nicht unbedingt konkrete Personen gemeint waren. Natürlich hatte er auch konkrete Personen im Visier: Wer Zeitungen aufmerksam lese, wisse, um wen es sich handle. Doch mehr als diese Personen klagte er mit seiner Kampfansage unser Denken an, das uns zu Akteuren des Marktes und eines absurden Wachstumsgebots machte; eines Marktes, den es infolge internationaler Konzernverflechtungen ohnehin nur mehr als Schein gebe. Sie nehmen alles: Auftakt und Abgesang jeder seiner Analysen. Als ob sich, indem man immer zum selben Schluss kommt, die eigene Fremdheit mindern ließe.

Dabei konnte er auch anders. Ließ er in seiner Verzweiflung und Wut nach, erwies er sich als feinfühliger und kluger Menschenkenner. Später, als wir bereits über den Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren, über zwei Kulturen und zwei Vergangenheiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, eine Brücke gebaut hatten, erzählte auch ich ihm von persönlichen Schwierigkeiten: Sinnkrisen, Beruf, Ehe, was eben anstand. Und er hörte zu und fragte nach. Schwieg. Gab keine Ex-cathedra-Ratschläge. Seufzte hilflos: „Menschen sind sehr kompliziert!“ Aber es dauerte, bis wir dahin kamen. Doch über die Jahre wurde er mein Freund. Ein väterlicher Freund, ohne sich bei all seiner Sturheit jemals eine wie auch immer geartete väterliche Autorität anzumaßen. Er mochte keine Autoritäten.

„Was macht Elsbeth?“, fragte Tariq, und ich nickte. Meiner Frau ging es gut.

Über die Gründe, die ihn zur Flucht gezwungen hatten, erfuhr ich nichts Konkretes. Als ich ihn unlängst darauf ansprach, wich er aus. Das sei nun schon nicht mehr wahr. Seit sechzehn Jahren lebe er mit seiner Familie in Österreich. Mittlerweile hätten sie ja sogar die österreichische Staatsbürgerschaft. Einmal nur sagte er, da waren wir betrunken, fast unhörbar und die Augen geschlossen: „Sie haben mich geschlagen. Schlimm geschlagen.“

Iba war Koptin, er Moslem. Ich weiß, dass er Architekt gewesen war und Schriftsteller. Er hatte für den Rundfunk und für das Theater geschrieben und mit Hörspielen gutes Geld verdient. Trotzdem kam er in Österreich bettelarm an, da sein Kapital in diversen Projekten gebunden war und ihm keiner seiner Geschäftspartner so plötzlich seinen Anteil auszahlen konnte. Die Flucht war ja eine Nacht- und Nebelaktion. Zumindest entnehme ich das seinen Andeutungen. Auf Religion war er nicht gut zu sprechen. Wir kannten uns etwa ein halbes Jahr, da drehte sich unser Gespräch um die Frage, ob es einen Gott gäbe. Es war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen und er nicht monologisierte und ich zuhörte. Ich führte die alten Beweise an: die Geschichte mit der letzten Ursache, in der alle Ursachen wurzeln; das Bild von losen Bestandteilen einer Uhr in einer Plastiktüte und den damit einhergehenden Analogieschluss, dass auch ein Universum einen Uhrmacher brauche; oder die Überlegung, dass Gott perfekt ist und folglich existieren muss, da ein Gott, der perfekt ist, aber nicht existiert, eben nicht perfekt ist. Tariq hatte damals hintergründig gelächelt: „Weißt du, die Sache ist so einfach. Wenn von sieben Milliarden Menschen sechs Milliarden an Gott glauben, gibt es Gott.“

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