Kitabı oku: «Absprunghöhen», sayfa 3

Yazı tipi:

Iba kam aus der Küche. Sie trug einen dunkelblauen Ghalabea, der ihre bernsteinfarbene Kette betonte. Sie reichte mir die Hand und lächelte: „Hast du Hunger?“ Tariq rief irgendetwas auf Arabisch, und ich sagte: „Jetzt hast du gesagt: Wir verhungern schon!“

In der Küche war das Essen bereits aufgetragen: Eierspeise, Linsensuppe, Schafskäse vermengt mit Knoblauch und Olivenöl, dazu Gebäck und Tomatensalat. Als Nachspeise gab es Zuckermelonen. Während des Abendessens sprachen wir nur wenig. Das hatte vor allem damit zu tun, dass Tariq vom Essen gänzlich in Bann geschlagen wurde. Nach dem Essen nahm er die Medikamente, dann lehnte er sich zurück und bedankte sich bei Iba. Er war zufrieden.

Iba hingegen wirkte angespannt. Sie hatte immer Sorgen. Und immer Arbeit. Wie eine Sklavin. So scherzte sie manchmal bitter. Diesmal aber schien sie bedrückter als sonst. Ich vermutete, dass es mit ihrem Job zu tun hatte. Sie arbeitete bei der Take Off GmbH, die im Auftrag der Landesregierungen Beratungsleistungen für jugendliche Langzeitarbeitslose erbrachte. Iba war als einfache Bürohilfskraft eingestellt worden. Sie erledigte Postwege, stellte die Versorgung der Belegschaft mit Büromaterial sicher, kopierte Unterlagen, kuvertierte Briefe, ordnete Akten, spielte die Empfangsdame für Klienten und erledigte Telefondienste. Hinsichtlich des Familieneinkommens war die Arbeit, so gering die Bezahlung auch war, ein Segen. In jeder anderen Hinsicht ein Fluch. Einerseits lag es an ihrem Gesundheitszustand, der ihr die Erledigung vieler Arbeiten, wie etwa den Transport eines mit Briefsendungen gefüllten Handwagens vom Büro zum nächsten Postamt, an manchen Tagen unmöglich machte. Andererseits litt sie unter der Einfachheit ihrer Tätigkeit. Iba hatte Recht studiert, dann allerdings als Journalistin gearbeitet. Tariq hatte erzählt, dass sie für ihre Artikel gefürchtet gewesen war und sie deswegen oft in Angst gelebt hatte. Doch das Leben in einem fremden Land mit einer fremden Sprache machte sie, die Intellektuelle, zu einer Analphabetin, zu einer Sprachbehinderten. Das einfachste Gespräch konnte ihr zu einem Spiegellabyrinth werden, indem sie ständig gegen ein unerwartetes Hindernis prallte. Dabei sprach sie nicht schlecht Deutsch. Doch bei der Take Off GmbH wollte sich niemand auf sie einhören. Ihr Chef demütigte Iba vor ihren Kolleginnen, die nur allzu dankbar waren, die eigene Unfähigkeit mit dem Verweis auf die oberflächlichen Mängel einer anderen übertüncht zu wissen. Wie Volksschüler einander bei der Lehrerin anschwärzen, fanden sie an Iba immer etwas auszusetzen. Einmal hatte sie eine schwere Darmgrippe gehabt und hatte ein paar Tage gefehlt. Da fixierte ihre Kollegin eine Notiz auf der Büropinnwand. „Iba“ stand darauf und daneben, in roten Großbuchstaben: krank.

„Was macht dein Beruf?“, fragte ich Iba und reichte ihr das Geschirr, das sie in den Spüler einräumte. Sie fasste die Teller und Schalen mit großer Vorsicht an, denn sie war am rechten Auge operiert worden. Iba lachte bitter: „Mein Chef sagt zu mir, wenn ich den Postwagen nicht ziehen kann, hat er keine Arbeit für mich!“ Tariq, der Tee gekocht hatte, schaltete sich in unser Gespräch ein. „Dieser Mensch ist …“

Er wurde von Iba unterbrochen: „Inferiority complexes ! Dieser Mensch hat – wie sagt man …“

„Minderwertigkeitskomplexe“, half ich ihr.

„Wir sind nur Frauen in der Arbeit. Neun Frauen, ein Mann. Aber der Chef … He wants to be admired. All the time!“ Iba schüttelte den Kopf: „Was sie an mir hassen, ist mein Stolz!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders: „Komm, trinken wir Tee!“ Wir nahmen unsere Tassen und setzten uns in die Polstersessel im Wohnzimmer.

Wir hatten uns kaum gesetzt, als mein Handy klingelte. Es war Elsbeth. Ich ging in die Küche, um in Ruhe telefonieren zu können. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, las Tariq den ORF-Teletext. Er saß nach vorne geneigt und hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Erst jetzt bemerkte ich, dass er seine alte Brille trug. Ich kam jedoch nicht dazu, ihn nach dem Grund zu fragen. Bevor ich mich noch gesetzt hatte, legte er seine Hand auf meinen Oberarm und wies mit dem Kopf auf den Bildschirm: „Sie haben eine neue Welt entdeckt!“ Seine Augen leuchteten.

Der Grund für seine ungewöhnliche Begeisterung war Gliese 581c. Folgendes war auf dem ORF Telext zu lesen:

Astronomen haben nach eigenen Angaben den ersten bewohnbaren Planeten, Gliese 581c, außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt. Obwohl der Planet seinen Stern, Gliese 581, vierzehn Mal dichter umkreist als unsere Erde die Sonne, liegt er in der „Goldilocks Zone“. Das ist jener Bereich um einen Stern, innerhalb dessen Wasser an der Oberfläche eines Planeten flüssig anzutreffen ist und Leben sich entwickeln kann.

„… und Leben sich entwickeln kann“, wiederholte Tariq. „Das ist gut.“ Er lachte, schüttelte den Kopf und zog die linke Augenbraue hoch.

Eine neue Welt.

Sein Traum.

Er streichelte Iba, die neben ihm saß, über den Hinterkopf. „Wenn sie uns hier nicht mehr wollen, können wir dorthin gehen.“ Er lachte. „Sicher haben sie dort keinen Chef!“

Iba nickte und lächelte ein wenig gequält, aber Tariq ließ sich in seinem Enthusiasmus nicht beirren. „Der Stern, um den sich dieser Planet dreht“, fuhr er fort, „ist ein roter Zwerg. Das heißt, dieser Stern ist nicht so heiß, und Leben kann viel näher an so einem Stern existieren als bei unserer Sonne.“ Er nahm einen Schluck Tee: „Die neue Welt hat eine rote Sonne, und es ist nicht zu kalt und nicht zu heiß. 0-40 Grad Celsius, sagen sie. In der Sahara ist es heißer und in Wien im Winter kälter. Ich finde, wir sollten eine Expedition zu diesem Gliese 581c machen. Ich möchte in dieser Welt leben. Mit angenehmen Temperaturen und einer roten Sonne. Sicherlich kann man dort auch fischen!“

Inzwischen hatte ich auch die zweite Seite der Teletextnachricht gelesen und konnte mit Information kontern: „Du vergisst, dass die neue Welt etwa 200 Billionen Kilometer von unserer Erde entfernt ist. So leicht kommen wir da nicht hin!“ Mein Argument wurde weggewischt.

„Egal. Wir schaffen das!“

Tariq blätterte weiter im Teletext, und als er konzentriert auf den Bildschirm blickte, fand ich Gelegenheit, nach seiner Brille zu fragen. „Warum trägst du nicht deine neue Brille?“

Tariq sah mich an, als ob er soeben aus einem Traum geweckt worden war. Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ich habe sie verloren!“

„Wirklich! Wann?“

„Heute.“

„Wieso?“

„Ist doch egal.“

„Nein, ist nicht egal.“ Ibas Stimme war entschieden. „Es waren trifokale Gläser. Die Brille hat mehr als fünfhundert Euro gekostet. Es ist nicht egal. Erzähle, was dir heute passiert ist!“

Unwillig sah Tariq seine Frau an. Dann erzählte er, wie er in der Früh zur neuen Donau gefahren war, um dort zu fischen. Dummerweise hatte er dabei seine Brille verloren. Das sei es auch schon. Mehr gäbe es dazu nicht zu sagen.

Aber Iba war mit seiner Erzählung nicht zufrieden: „Das ist nicht alles!“

„Lass es gut sein. Eine dumme Sache.“

Und er wandte sich wieder Gliese 581c zu.

Also begann Iba zu erzählen.

Nachdem er die Angel ausgeworfen und am Boden fixiert hatte, setzte sich Tariq in seinen Klappstuhl und schloss die Augen. Es war kurz vor acht Uhr morgens und außer einigen Joggern und anderen Anglern war die Donauinsel menschenleer. Es hatte bereits über zwanzig Grad und eine leichte Brise wehte. Iba erzählte, dass sie sich gesorgt habe, Tariq hole sich einen Sonnenstich. Er vergaß immer seinen Hut aufzusetzen. Doch heute hatte Tariq daran gedacht. Im Nachhinein betrachtet war es freilich der falsche Tag, um ausnahmsweise einmal nicht vergesslich zu sein. Den Hut verlor er ebenfalls.

Woran dachte Tariq, als er mit geschlossenen Augen in seinem Klappstuhl saß? Das konnte Iba natürlich nicht erzählen. Aber mich interessiert es. Die Idee zu seinem berühmtesten Theaterstück ist ihm ja beim Fischen gekommen. Eine Szene aus dem Theaterstück hat mich besonders beeindruckt: Ein Engländer möchte den Esel reiten, und als dieser sich weigert, befiehlt er dem Hund, den Esel zu beißen. Was dieser tut, dafür bekommt er auch einen Knochen. Der Affe sieht sich die Szene an und zitiert während der Bestrafung des Esels Michail Bakunin: „Macht, dass alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden!“ Keine Frage: Tariq hatte immer Ideen. Doch uns war beiden klar, dass er davon keine mehr realisieren würde. Seine Zeit als Schriftsteller war vorbei. Zu sehr ermüdete ihn die Arbeit als Bibliothekar, und sein Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert und zwang ihn, schonend mit sich umzugehen.

Woran Tariq im Klappstuhl dachte, bleibt also ungewiss. Gewiss ist, dass er nicht lange nachdachte. Er schlief ein. Er hatte für zwei Stunden geschlafen, da weckten ihn Schreie. Es war eine Frau, die ganz in seiner Nähe um Hilfe rief. Dass sie um Hilfe rief, war nur aus der Situation zu erkennen: Sie schrie in höchster Angst, unartikuliert und schrill. Tariq blickte auf, jäh munter, und sah unmittelbar vor sich ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, das verzweifelt Schwimmbewegungen machte, sich aber nicht mehr über Wasser halten konnte. Wie er war, mit Brille und Sonnenhut, warf er sich in die neue Donau und tauchte mit kräftigen Stößen dorthin, wo soeben das Mädchen noch um sich geschlagen hatte. Er bekam es zu fassen und zog es an die Oberfläche, wo es ihm jedoch wieder entglitt, sodass er noch einmal zupacken musste, um das hustende und strampelnde Bündel vor einem erneuten Absinken zu bewahren. Auf dem Rücken schwimmend brachte er das Mädchen zum Ufer. Das Wasser ist an dieser Stelle nicht allzu tief, Tariq hätte seine Rettungsaktion auch stehend durchführen können, wenn die Strömung auch ziemlich stark ist. Doch gewisse Situationen erzwingen gewisse Vorgehensweisen: Bei Feuer springen Menschen fast immer aus dem Fenster, selbst wenn der nächste Fluchtweg durch die Wohnungs- oder Zimmertür verläuft, und einen Ertrinkenden rettet man nun einmal, indem man schwimmt oder taucht und nicht indem man durchs Wasser watet. Dass er das Mädchen zu fassen bekam, ist allerdings ein kleines Wunder, denn bei seiner Herzkrankheit war es nicht selbstverständlich, dass sein Kreislauf die plötzliche Abkühlung tolerieren würde. Zwei Männer halfen ihm aus dem Wasser und die Mutter, verweint und außer sich, entriss ihm ihre Tochter, umarmte und liebkoste sie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige: Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dir Schwimmflügel anzuziehen hast. Über diese Erziehungsmaßnahme vergaß sie, sich bei Tariq zu bedanken. Dieser musste sich hinsetzen, nun kippten ihm die Beine weg. Die beiden Männer fragten, ob alles in Ordnung sei, und Tariq winkte ab. Ja. Kein Problem.

Das Nachhausekommen war jedoch ein Problem, denn ohne Brille war Tariq praktisch blind. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zu seinem Angelplatz zurückgefunden hatte. Von dort schob er sein Rad zurück in die Dianagasse, eigentlich ein Wunder, wie Iba ihre Erzählung schloss, dass Tariq heute Abend schon wieder fit sei. Denn wie er nach Hause gekommen sei, habe sie ihn geradezu ins Bett hieven müssen. Sie liebe ihn und überallhin sei sie ihm gefolgt und habe ihn unterstützt. Doch jetzt sei es genug. Er dürfe sein Leben nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Don’t do this again. Aber Tariq zuckte nur mit den Achseln, eher aus Erschöpfung als aus mangelnder Einsicht, wie ich denke. Jedenfalls wurde Iba wütend.

Nachdem ich Tariq vorgeschlagen hatte, die neue Welt zu kaufen, holte ich meinen Laptop und stieg ins Internet ein. Es war unsinnig, eine Hilflosigkeit meinerseits, was hätte ich auch tun sollen, Geld für eine neue Brille hätte Tariq nicht genommen. Während er sich umständlich eine Zigarette anzündete, gab ich in einem Anzeigenportal eine Anfrage auf: „Kaufe Gliese 581c. Preis verhandelbar.“ „Wenn wir die neue Welt erst einmal haben, können wir endlich sein, wer wir sein wollen!“, zwinkerte ich Tariq zu, der einen tiefen Zug nahm und seufzte: „Ja, dann können wir sein, wer wir sein wollen.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Iba, ob sie meine Suchanfrage erheitert hätte, eigentlich war sie für solche Dummheiten zu haben. Doch Iba starrte auf den Teletext, ihre Augen wie hinter Panzerglas. Und wie sie so dasaß, erinnerte sie mich an das Portrait, das im Vorzimmer ihrer Wohnung hängt. Ihr Vater hatte es zu ihrem zwanzigsten Geburtstag anfertigen lassen. Das Portrait zeigt eine Schönheit. Ein ovales Gesicht, das von dichten, schwarzen Haaren umrahmt ist, eine gerade Nase und leicht geöffnete, sinnlich geschwungene Lippen. Den Blick ihrer dunkelbraunen und von einem starken Lidstrich in die Waagrechte gezogenen Augen hat der Maler gemäß den Erwartungen des Auftraggebers geformt: Die Schönheit blickt nach oben, verträumt irgendeinem Stern entgegen, und dieser wirft in der Nuancierung der Ölfarben sein Licht auf Ibas Anmut. Wie zur Korrektur hat Iba die Fotografie, die dem Maler als Vorlage diente, in den Bilderrahmen gesteckt. Auch die Fotografie zeigt eine Schönheit. Doch ihre Lippen sind nicht geöffnet und ihr Blick ist klar und nicht einem Stern zugewandt. Direkt blickt sie in die Kamera. Skeptisch und ohne Illusion.

Natürlich erhielt ich auf meine Anfrage keine sinnvolle Antwort. Doch die Idee einer neuen Welt, die wie warmes Wachs formbar ist und einen umhüllt wie ein gut sitzender Anzug, ließ mich nicht los. Ich beschloss, eine Erhebung durchzuführen. Wenige Tage nach dem Abendessen versandte ich eine Anfrage an meine Facebook-Freunde: „Stell dir vor, du hast dir eine neue Welt gekauft und kannst sie formen, wie du willst. Welchen drei Prinzipien würdest du alles Handeln unterordnen?“

Wie bei meiner letzten Suchanfrage fiel auch hier die Ausbeute an Antworten mager aus. Offensichtlich stand ich mit meinem Interesse an philosophischen Spekulationen ziemlich alleine da. Elsbeth feixte, als ich ihr morgens im Bad meine Frage stellte, hielt im Zähneputzen inne und antwortete, den Mundwinkel mit der Zahnbürste in die Waagrechte ziehend: „Wein, Weib und Gesang.“ In ihrem Fall eben Wein, Mann und Gesang. Nicht, dass mich die geringe Rücklaufquote bedrückt hätte. Aber das Desinteresse, mit dem meiner Frage begegnet wurde, erinnerte mich an eine Schulstunde, keine sehr gelungene, die ich hielt. Wir nahmen Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe durch, und mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich der Einzige war, den der Text berührte. Die Schüler, junge Erwachsene, die ihr Mangel an Erfahrung gerne harte Urteile fällen ließ, hatten zu der Geschichte nichts zu sagen. Der Text schien ihnen absurd, ein kurioses Dokument aus einem Paralleluniversum. Als ob es bei uns selbstverständlich wäre, dass man sein Schicksal selbst wählt.

Nachdem ich an jenem Abend meine Kaufanfrage von Gliese 581c deponiert hatte, saßen wir eine Zeit lang schweigend in den Polstersesseln. Irgendwann verließ Iba das Wohnzimmer, und ich fragte Tariq, wie sein Theaterstück, das ihm in der Bucht von Abu Qir eingefallen war, endete. Ich kannte das Ende schon, aber ich hörte die Geschichte immer wieder gerne von ihm. Es war eindrucksvoll, wie er erzählte, mit seiner kraftvollen Stimme und der ausdruckstarken Mimik, die er jedem seiner Charaktere verlieh.

„Eine einfache Szene“, sagte Tariq und hob den rechten Zeigefinger. Nur wenig Text. Nachdem sie auf ihrer Zeitreise verschiedene Epochen durchwandert und verschiedenen Herrschern gedient haben, stehen Hund, Esel und Affe vor einem goldenen Käfig. Der Esel zuckt mit den Ohren, der Hund knurrt und der Affe, der Intellektuelle, rückt seine Brille zurecht. Was tun? Da sagt eine angenehme Frauenstimme:

Please, enter the cage.

Entrez dans la cage, s’il vous plait.

Entre en la jaula, por favor.

Bitte, betreten Sie den Käfig.

Und Hund, Esel und Affe betreten den Käfig.

Liebesgeschichte

Sie stand an der Tür und kochte vor Wut. Der behäbige Schatten war bereits in der Seitengasse verschwunden, da hatte sie ihre linke Hand noch zur Faust geballt, und erst als sie die Theke wieder wie ein Verteidigungswall umgab, entspannte sich ihr Gesicht. Die Gespräche waren verstummt, nur aus der Anlage dröhnte ungerührt der stupide Viervierteltakt von La Passion. Früher hätte sie das Problem gelöst, indem sie den Kellner von der Pizzeria nebenan geholt hätte. Der hätte den Betrunkenen hinausgeworfen, und um zu verhindern, dass er wiederkam und Probleme machte, hätte sie die Eingangstür einfach für eine Weile versperrt. Aber heute hatte sie keine Hilfe geholt, und als der Betrunkene sein Hemd auszuziehen versuchte, dabei alle Frauen „Nutten“ hieß und schließlich auf die Bar spuckte, ging sie zu ihm hin, sah ihm in die starren Pupillen und sagte nur: „Hinaus, du Schwein.“ Und er ging.

Sie nahm einen Schluck Frucade, und Leben kam wieder in die Gäste. Sie prosteten ihr zu und ließen sie hochleben. Wie sie den so einfach hinausgeworfen hätte, ohne irgendetwas, das sei schon sehr beeindruckend gewesen. Peter, der an diesem Abend, wie er sich ausdrückte, den zweiten Jahrestag seiner Scheidung beging, rief, er hoffe, seine Tochter werde nicht wie ihre Mutter, sondern wie Claudia. Dabei schüttelte er den Kopf, als könnten Worte gar nicht beschreiben, wie sehr ihm dieser Rauswurf imponiert hätte bzw. wie sehr er sich wünschte, dass seine Tochter wie Claudia werde. „Freilich“, warf Harry ein, „eine Frau, die schön ist, ist schon an und für sich gefährlich, aber eine Frau, die schön ist und stark, da müssen wir aufpassen.“ Alle lachten. Claudia erwiderte, dass sie weder besonders schön noch besonders stark sei, sondern in diesem Moment nur besonders verärgert, worauf Peter einwarf, wie es denn mit einem Beruhigungsschnaps wäre. „Geht auf mich!“ – „Nein, nein“, meinte Claudia, „der geht auf mich.“ Und sie schenkte allen einen doppelten Tequila ein, teilte Zitronenspalten aus, dann riefen alle „Prost“ und schluckten. Später teilte Harry „Wursti“ aus, dünne Scheiben einer deftigen Paprikawurst, die er bei seinen Geschäftsreisen in Ungarn kaufte und deren Verzehr durch einen rituellen Ablauf geregelt war. Jeder, der eine Scheibe bekam, musste die spezielle Gewürzmischung der Salami loben und im Besonderen auf den herb-süßen Abgang des ungarischen Paprikas hinweisen; tat er es nicht, gehörte er nicht dazu und bekam auch keine Wurst mehr. Gegen ihre Gewohnheit nahm Claudia auch eine Scheibe. Kurz vor zwei, als endlich auch Kaye, der Niederländer, gegangen war, sperrte sie das Lokal zu, putzte Tische und Theke ab und bestellte ein Taxi. Zwei jungen Männern, die offensichtlich noch Lust auf ein letzes Bier hatten, deutete sie, dass sie bereits zugesperrt habe, und drehte das Licht ab. In der Dunkelheit wartete sie auf das Taxi.

Mehr als sieben Jahre arbeitete sie schon im Baíha. Früher war es ein Irish Pub gewesen und hatte Galway Bay geheißen, aber Mike, der neue Besitzer, der sie angestellt hatte, erklärte, dass er die für ein Irish Pub typische Klientel nicht bräuchte. Angesoffene Sechzehnjährige, die ihren ersten Vollrausch in seinem Lokal durch Kotzen dokumentierten, könnten ihm gestohlen bleiben. Er hätte selbst lange genug in so ziemlich allen Lokalen, die es im Bermudadreieck gäbe, gekellnert; und Kotze aufwischen und gebrauchte Kondome vom Klo wegräumen hätte er in dieser Zeit eher gelernt als Bier ausschenken. Nein, nein, die Jungspritzer brauche er nicht, außerdem konsumierten sie zu wenig, er sei Lokalbesitzer und kein Jugendseelsorger. Seine Theorie war es, das Baíha zu einem zweiten Wohnzimmer für eine hoffentlich wachsende Stammkundschaft zu machen, ein Lokal, wohin man nach der Arbeit geht, ein, zwei Bier trinkt, vielleicht einmal auch einen Rosé oder einen Rioja und plaudert. Wer wolle, könne Dart spielen, Würfelpoker gäbe es auch, und Schnapskarten habe er sowieso immer parat. Claudia solle sich ein bisschen herrichten für die Gäste, sie sehe ja blendend aus, eine attraktive Frau, die man gerne anschaut – und schließlich waren die Gäste fast ausschließlich Männer.

Sie mochte das Baíha. Es war kein Traumjob, aber mit den Jahren hatte sich tatsächlich eine Stammkundschaft herausgebildet. Sie kannte beinahe alle, und manche Gäste wurden sogar Freunde, mit denen sie sich hie und da auch privat traf. Dann ging sie allerdings nie ins Baíha, sie verstand jene Kellner und Kellnerinnen nicht, die in ihrer Freizeit nichts Besseres mit sich anzufangen wussten, als ausnahmsweise auf der anderen Seite ihres Arbeitsplatzes zu stehen und sich mit den Leuten, die sie ohnehin jeden Abend sahen, zu betrinken. Sie hatte mehrere Semester Psychologie studiert, immer nebenbei gekellnert, denn egal, wie viel ihre Eltern zuschossen, es schien nie zu reichen. Schließlich blieb sie beim Kellnern. Ein halbes Jahr arbeitete sie auf einem Luxusdampfer und kam so nach Hongkong und Australien. Sie überlegte lange nach Sydney auszuwandern, ließ es dann aber bleiben, ohne so recht zu wissen warum.

Oft fand sie keine Gründe für ihr Handeln. Als sie sich von Christoph trennte, mit dem sie beinahe ein Jahrzehnt zusammengelebt hatte, verspürte sie einen spitzen Schmerz, der mit der Zeit stumpf wurde, aber nicht verschwand. Im Trennungsgespräch unterbrachen sie das Schweigen und Achselzucken mit Floskeln, die man aus Talkshows und Bargesprächen kennt: Dass man sich auseinandergelebt habe, einander selbstverständlich geworden wäre, und im Grunde die Liebe in eine Freundschaft umgeschlagen sei; dass man nur ein Leben habe und noch nicht so alt sei, dass es einfach nicht mehr passe usw. Am Tag, an dem er auszog – er nahm sich das Recht heraus, die Räume ihrer Liebe zu verlassen –, packte sie, während er auf der Bank war, voll Zärtlichkeit seine Koffer, als könne sie ihn mit dem Zusammenlegen seiner Hemden und Unterhosen noch ein letztes Mal liebkosen, ihm etwas von der Geborgenheit auf den Weg mitgeben, in die sie so lange eingebettet waren, und die nun nur mehr in der Erinnerung existieren würde. Später suchte sie nach einer Erklärung, warum sie sich getrennt hatten und was sie am meisten gestört hatte. Aber das Einzige, was ihr einfiel, war die Art bzw. Unart, wie er jeden Morgen Kaffee machte. Trotz aller Hinweise schaffte er es nicht, den gemahlenen Kaffee in den Filter zu beuteln, ohne Kaffeepulver rund um die Kaffeemaschine zu streuen. Die Arbeitsfläche war jedes Mal beinahe flächendeckend mit schwarzem Pulver übersät, und da er es offenbar nicht sah bzw. das, was er sah, ihn nicht störte, wischte sie den Kaffee jeden Morgen wieder weg. Acht Jahre ärgerte sie sich, ohne dass es sie ernsthaft aufregte. Und dann plötzlich machte sie der Anblick des verstreuten Kaffeepulvers so wütend, dass es sie würgte. Eine echte Erklärung war das freilich nicht, aber immerhin besser als gar keine. Manchmal hoffte sie, dass all das Leid, das einem im Laufe des Lebens widerfuhr, irgendwann einen Sinn erhielte; etwa weil es einen weiser und geduldiger machte oder weil man seine Erfahrung mit jemandem teilen könne, um sie durch Mahnen und Warnen demjenigen zu ersparen. Seit einiger Zeit kam ein junger Mann immer wieder ins Baíha. Manchmal mit Freunden, manchmal alleine. Er gefiel ihr, hatte blaue Augen und ein nettes Lachen. Gelegentlich sprach sie mit ihm, dann war sie versucht, ihm etwas auf den Weg mitzugeben. Sie unterließ es aber, da sie Diskretion schätzte und nicht den Eindruck hatte, der junge Mann sei sonderlich an ihren Ratschlägen interessiert.

Sie erzählte wenig von sich. Das kam ihr bei dieser Arbeit zugute, denn die Männer, die allabendlich kamen, alleine an der Bar standen und, so sie nicht Dart spielten, mit ihr redeten, wollten vor allem eines: gewürdigt werden. Sie wollten erzählen, sich darstellen, Meinungen äußern, verstanden, vielleicht bewundert werden, und sich irgendwie dafür entschuldigen, dass sie hier standen und nicht bei ihren Familien waren. So sie eine hatten. Nach dem dritten Viertel erzählte Karl regelmäßig, dass er als Postbeamter vom Nichtstun so müde gewesen sei, dass er zu Hause nichts mehr hätte tun können. Die Müdigkeit habe ihn natürlich auch gehindert, sich entsprechend um seine Frau zu kümmern. Und als er eines Tages müde nach Hause gekommen sei, hätte er nur einen Brief gefunden, in dem sie ihm knapp mitteilte, dass sie es satt habe und sich einen richtigen Mann suchen werde. Die Wäsche hing noch genauso am Wäscheständer, wie sie seine Frau in der Früh aufgehängt hatte. Mittagessen hätte er aber ins Schnitzelhaus gehen müssen.

Als sie im Taxi saß, musste sie noch einmal an den heutigen Rausschmiss denken. Es wunderte sie nicht, dass niemand der Gäste ernstlich versucht hatte, ihr zu helfen. Die Männer kamen ins Baíha, um ein- bzw. unterzutauchen. Nicht umsonst der Name des Lokals. Hilfe zu leisten hätte bedeutet sich hervorzutun, gleichsam in See zu stechen, und das versuchen Männer nur, wenn sie verliebt sind – egal in wen oder in was.

Zu Hause machte sie sich noch ein Käsebrot mit Pfeffer und ging dann zu Bett. Plötzlich, sie war bereits im Halbschlaf, musste sie an die Wut denken, die sie wegen des Betrunkenen verspürt hatte, und genauso plötzlich wusste sie, woher sie die Unbändigkeit des Zorns kannte: Die Mimik, mit der der Betrunkene voll Ekel auf den Tresen spuckte, hatte sie an eine Gewohnheit ihres Vaters erinnert, der, so streng er auf ihre Tischmanieren achtete, sich selbst beim Essen gehen ließ. Schmeckte ihm etwas nicht, und es war nicht abschätzbar, was ihm an diesem oder jenem Tag schmecken würde, spuckte er den halbzerkauten Bissen einfach auf den Teller und fuhr dann ihre Mutter an, ob sie ihn vergiften wolle. Ihre Mutter entschuldigte sich dann mit gesenktem Kopf oder verließ mit feuchten Augen den Mittagstisch. Claudia beschloss am nächsten Tag ihren Vater anzurufen.

Das letzte Mal hatte sie ihren Vater auf dem Zentralfriedhof beim Begräbnis der Mutter gesehen. Auch davor waren ihre Besuche spärlich gewesen. Ihr Vater mochte Christoph nicht: Ein Jazzmusiker, noch dazu ein Saxophonist, sei nichts für seine Tochter, selbst wenn – so vermutete Claudia sein Urteil – bei ihr alles schief gelaufen sei, was in einem Leben nur schief laufen könne. Ihr Vater war Universitätsprofessor am Institut für Geschichte gewesen, ein anerkannter Wissenschaftler, der gegen Ende seiner Karriere ein mehrfach ausgezeichnetes Jugendsachbuch über die Geschichte Österreichs geschrieben hatte. Seine kluge, aber kindgerechte Darstellung komplexer Zusammenhänge wurde im Feuilleton gelobt. Im Vorwort schrieb er, dass die Geschichte Österreichs eine Geschichte der Veränderung, der Zu- und Abwanderung sei. Aus vielen Völkern setze sich die heutige österreichische Nation zusammen. Das Zusammenleben vieler Kulturen hätte den besonderen österreichischen Charakter geprägt, der tolerant und kompromissbereit sei, was anhand des einzigartigen Models der Sozialpartnerschaft oder der niedrigen Streikquoten bewiesen werden könne. Der Wohlstand des Landes sei das Verdienst der Besonderheiten dieses Nationalcharakters. Am Stefanitag hatte ihm Christoph einmal heftig widersprochen und ihn darauf hingewiesen, dass es nicht der österreichische Charakter sei, der für Toleranz – übrigens: dieser Begriff sei häufig durch den der Bequemlichkeit zu ersetzen – und Wohlstand verantwortlich gemacht werden könne, sondern schlicht und einfach die besondere politische Situation der zweiten Republik, die dem Land Wohlstand gebracht habe und ihn zumindest noch für einige Zeit sichere. Der soziale Friede sei eine Konsequenz des Wohlstandes. „Alle Menschen überall auf der Welt sind kompromissbereit und tolerant, wenn sie genug zu fressen und zu saufen haben.“ Abgesehen davon glaube er ihm das nicht so ganz mit der Toleranz und der Kompromissbereitschaft, man müsse ja nicht allzu viele Jahrzehnte zurückgehen, um eine klare Gegenthese aufstellen zu können. Darauf nannte der Vater Christoph einen Linken übelster Ausprägung und Christoph den Vater einen beamteten Staatsintellektuellen. Dann warf der Vater Christoph hinaus und mit ihm ging Claudia. Von einem Jazzmusiker müsse er sich überhaupt nichts sagen lassen, er, der jahrelang Geschichte studiert und gelehrt habe, rief er ihnen nach. Als er erfuhr, dass sich Claudia von Christoph getrennt hatte, rief er sie an, das hatte er noch nie gemacht, und versuchte ihr Trost zu spenden, den sie jedoch nicht annehmen konnte, da sie hinter jedem noch so guten Wort einen nur mühsam unterdrückten Triumph vermutete. Das Telefonat verhinderte eine Kontaktaufnahme auf weitere Jahre.

In einem Monat wurde sie dreiundvierzig und konnte sich nicht erinnern, ihrem Vater jemals direkt widersprochen zu haben. Dass sich Christoph weder vom Ruf noch vom Jähzorn ihres Vaters beeindrucken ließ, hatte sie bewundert, obwohl – irgendetwas in ihr verübelte Christoph den damaligen Widerspruch. Immerhin – das war ihr Vater. Und die ganze Angelegenheit ziemlich kompliziert.

Sie war zwölf und noch sehr kindlich, als sie in Ungnade fiel. Als einziges Kind aus zweiter Ehe genoss sie seine ganze Liebe, richtig närrisch war der Vater nach ihren braunen Augen, den langen Wimpern und dem runden Fleisch ihrer Wangen, die er so gerne vor dem Zubettgehen streichelte. Besonders gerne roch er an seiner kleinen Tochter, fuhr mit der Nasenspitze ihren Körper entlang, Kopf, Schultern, Arme, Bauchnabel, Beine – eine zarte, kaum wahrnehmbare Berührung. „Benasen“ nannten sie dieses Ritual, das immer mit dem Riechen an ihren Fußsohlen endete. „Um Gottes Willen, wie das stinkt“, rief dann der Vater, roch noch einmal, sein Atem kitzelte, sie kicherte und kreischte vor Vergnügen, wenn der Vater schließlich mit verdrehten Augen eine Ohnmacht vortäuschend zu Boden sank. Im Gegensatz zur Mutter schlug er sie nie, nie richtete er auch nur ein einziges scharfes Wort an sie. An ihrem ersten Schultag nahm er sich frei, brachte sie zur Schule und wartete dann vor der Eingangstür, wo er sie mit einer riesigen, hellblauen Schultüte empfing, in der ihr, unter vielen Süßigkeiten und Buntstiften, ein weicher Teddybär mit riesigen Tatzen treuherzig entgegenlächelte. Das sei der „Plüschpapiteddybussibär“. Über dieses Wort musste sie so lachen, dass ihr die Tränen kamen, und sie nahm seine Hand und ging hüpfend neben ihm nach Hause.

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