Kitabı oku: «Die dunkle Blume», sayfa 4

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Neuntes Kapitel

Am nächsten Tag war er glückselig, denn den ganzen Nachmittag lag er im Schatten desselben Waldes ihr zu Füßen und blickte durch die Zweige der Lärchen empor. Es war so herrlich schön, nur die Natur um ihn. Und die Natur so lebendig, so tätig und groß!

Als er am Tag vorher von der Schutzhütte heruntergekommen war, hatte er eine Spitze erblickt, die der Gestalt einer Frau mit einem Tuch um den Kopf täuschend ähnlich sah – die größte Statue in der Welt; von weiter unten aus gesehen war sie zur Gestalt eines bärtigen Mannes geworden, der den Arm vor die Augen hielt. Hatte sie es auch bemerkt? Hatte sie auch bemerkt, wie alle Berge im Mondlicht oder ganz früh morgens sich wie Tigergestalten ausnahmen? Am eifrigsten strebte er danach, Abbilder von Tieren und Geschöpfen aller Art herstellen zu können, die dem Geiste der Natur glichen, ihn sozusagen in sich hatten, ihn förmlich ausströmten, so daß einem ihr Anblick so viel Freude machen konnte wie der Anblick von Bäumen, Tieren, Felsen und sogar mancher Menschen – nur nicht der von ›englischen Moralhelden‹.

Also hatte er sich zum Studium der Kunst endgültig entschlossen? – O ja, natürlich.

Er würde dann – von Oxford fortwollen! – Nein, ach nein! Freilich – eines Tages würde er es müssen.

Sie erwiderte: »Manche kommen nie davon los.«

Und er sagte rasch: »Natürlich werd ich nie von Oxford fortwollen, solange Sie dort sind.«

Er merkte, wie sie plötzlich den Atem anhielt.

»O ja, Sie werden's! Helfen Sie mir jetzt aufstehn!« Und sie ging mit ihm zum Hotel zurück.

Er blieb noch auf der Terrasse, nachdem sie hineingegangen war, und fühlte sich im Augenblick ruhelos und unglücklich. Eine Stimme dicht bei ihm sagte: »Na, Freund Lennan, tief in Gedanken – oder Katzenjammer? Wie?«

In einem jener hohen Korbstühle, die ihre Insassen von der übrigen Welt isolieren, erblickte er seinen Professor, wie er sich zurücklehnte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und die Spitzen seiner Finger gegeneinandergepreßt. Er glich einem Götzenbild, wie er so träge dasaß, und doch war derselbe Mann gestern einen solchen Berg emporgeklettert!

»Nur wieder lustig! Sie werden sich noch früh genug das Genick brechen! Ich erinnere mich, wie schmerzlich ich es in Ihrem Alter empfunden habe, daß man mir nicht erlauben wollte, das Leben anderer aufs Spiel zu setzen.«

Lennan stammelte:

»Daran hab ich nicht gedacht! Ich hab nur gemeint, wo Mrs. Stormer hinginge, könnte ich auch hin.«

»Ah! Aber trotz all unserer Bewunderung können wir die Ebenbürtigkeit der Frau doch nicht anerkennen, wenn es wirklich auf die Probe ankommt, nicht wahr?«

Des Jungen Ergebenheit brach flammend hervor:

»Das mein ich nicht. Ich halte Mrs. Stormer für ebenso tüchtig wie nur irgendeinen Mann, nur … nur …«

»Nicht für ganz so tüchtig wie Sie selbst, eh?«

»Für hundertmal tüchtiger, Herr Professor.«

Stormer lächelte. Zynisches Scheusal!

»Lennan«, sagte er, »nur nicht gar so enthusiastisch!«

»Natürlich weiß ich ganz gut, daß ich nicht ordentlich klettern kann«, sprudelte der Junge wieder hervor, »aber – aber – ich hab gemeint, wo sie ihr Leben aufs Spiel setzen darf, sollt ich's auch dürfen!«

»Bravo! Das gefällt mir!« Es wurde diesmal ganz ohne jede Ironie geäußert, daß es den Jungen aus der Fassung brachte.

»Sie sind noch jung, Bruder Lennan«, fuhr sein Professor fort. »In welchem Alter, glauben Sie nun, fängt der Mann an, besonnen zu werden? Denn das eine sollten wir uns stets vor Augen halten: Den Frauen geht diese vortreffliche Eigenschaft gänzlich ab.«

»Ich glaub, die Frauen sind das Beste auf der Welt«, platzte der Junge wieder heraus.

»Mögen Sie noch lange dieser Meinung bleiben!« Der Professor hatte sich erhoben und betrachtete ironisch seine Knie. »Etwas steif«, sagte er. »Lassen Sie's mich wissen, wenn Sie Ihre Ansicht ändern.«

»Ich werd sie niemals ändern, Herr Professor!«

»Ah, ah! Niemals ist ein großes Wort, Lennan. Na, ich geh jetzt Tee trinken.« Und mit einem Lächeln ging er vorsichtig davon, als spöttelte er gewissermaßen über seine eigenen steifen Beine.

Lennan blieb mit flammenden Wangen zurück. Wieder schienen ihm die Worte seines Professors gegen sie gerichtet. Wie konnte nur ein Mann so über die Frauen reden! War es richtig, so wollte er's nicht wissen, und war es unrichtig, so fand er es häßlich, so zu sprechen. Es mußte doch furchtbar sein, niemals Edles empfinden zu können, immer und ewig spötteln zu müssen! Entsetzlich, den ›englischen Moralhelden‹ zu gleichen! Natürlich war er anders als sie, denn im Grunde genommen war der alte Stormer doch weit interessanter und intelligenter – gar nicht zu vergleichen; nur geradeso ›überlegen‹ wie sie. Manche kommen nie davon los. Hatte sie damit sagen wollen: von jener Überlegenheit? Gerade unter ihm mähte eine Bauernfamilie Gras und rechte es zusammen. Man konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie das tat und wie wunderschön sie mit einem bunten Tuch um den Kopf dabei aussehn würde; man konnte sich sehr gut vorstellen, daß sie irgend etwas Alltägliches tat – aber den alten Stormer konnte man sich unmöglich anders als in seiner gewohnten Tätigkeit denken. Und auf einmal fühlte sich der Junge elend, niedergedrückt durch diesen flüchtigen Einblick in das verfehlte Leben zweier aneinandergeketteter Menschen. Und er beschloß, nicht wie Stormer zu werden, wenn er einmal alt war. Nein, viel eher wollte er ein regelrechter Lump werden als so einer! …

Als er auf sein Zimmer ging, um sich zum Abendessen umzukleiden, erblickte er in einem Glas Wasser eine große Gartennelke. Wer hatte sie hingestellt? Wer anders konnte sie hingestellt haben als sie? Sie strömte denselben Duft aus wie die Bergnelken, die sie über ihn hatte rieseln lassen, nur noch stärker und köstlicher, einen Duft, der heimlich berauschend, verführerisch war. Er drückte sie an die Lippen, ehe er sie ins Knopfloch steckte.

Am Abend tanzte man wieder, diesmal gab es mehr Paare, und das Klavier wurde noch von einer Geige begleitet. Sie hatte eine schwarze Toilette an. Er hatte sie nie zuvor in Schwarz gesehen. Ihr sonnenverbrannter Hals und das Gesicht waren gepudert. Der erste Anblick dieses Puders flößte ihm einen leichten Schrecken ein. Er hatte sich irgendwie eingebildet, daß wahre Damen sich niemals pudern. Aber wenn sie es tat, dann war's in Ordnung! Und er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Er sah, wie der junge deutsche Geiger sie umschwärmte, sogar zweimal mit ihr tanzte, beobachtete sie, wie sie mit andern tanzte, aber ohne alle Eifersucht, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie von einem Traum befangen. Was war es nur? War er in diesen sonderbaren Zustand gezaubert worden – durch das Geschenk der Nelke in seinem Knopfloch? Was war es nur, das ihn, als er mit ihr tanzte und sie schwiegen, mit Seligkeit erfüllte? Er erwartete ganz und gar nicht, daß sie etwas sagen oder tun würde, er erwartete nichts, er wünschte nichts. Selbst als er mit ihr auf die Terrasse hinausging, selbst als sie den Hügel hinunterschritten und sich auf eine Bank setzten, von der man die Felder übersah, wo die Bauern gemäht hatten, empfand er noch immer nichts anderes für sie als stille, träumerische Anbetung. Dunkel und träumerisch war auch die Nacht, denn der Mond stand noch tief hinter den Bergen. Die kleine Kapelle spielte den nächsten Walzer; er aber saß ganz regungslos da, als ob man ihm alle Kraft zu handeln und zu denken genommen hätte. Und der Duft der Nelke in seinem Knopfloch stieg empor, denn es war windstill. Plötzlich hörte ihm das Herz zu schlagen auf. Sie hatte sich an ihn gelehnt, er hatte gefühlt, wie ihre Schulter seinen Arm berührte, ihr Haar seine Wange streifte. Da schloß er die Augen und wandte ihr das Gesicht zu. Er fühlte, wie sie ihre Lippen mit einem raschen, brennenden Kuß auf seinen Mund preßte. Er seufzte, streckte die Arme nach ihr aus. Nur die Luft war geblieben. Nur das Rascheln ihres Kleides durch das Gras hin vernahm er. Die Nelke – auch die war fort.

Zehntes Kapitel

Anna schloß die ganze Nacht kein Auge. Waren es Gewissensbisse, die sie wach hielten, oder der Taumel trunkener Erinnerung? Wenn sie den Kuß als ein Verbrechen empfunden hatte, so war es nicht ihrem Gatten oder sich selbst, sondern dem Jungen gegenüber – wie die Vernichtung einer Illusion, eines Heiligtums schien es ihr. Gleichzeitig aber konnte sie sich eines Glückseligkeitstaumels nicht erwehren, und es kam ihr auch nicht einen Augenblick in den Sinn, das, was sie getan, ungeschehen machen zu wollen.

Er war also bereit, ihr ein wenig Liebe zu schenken! Ein ganz klein wenig, verglichen mit der ihren, aber doch ein wenig! Etwas anderes konnte die Bewegung seines Gesichtes mit den geschlossenen Augen, als ob er es an ihre Brust hätte schmiegen wollen, nicht bedeuten.

Schämte sie sich ihrer kleinen Manöver in den letzten paar Tagen, dem jungen Geiger zugelächelt zu haben, so spät von der Klettertour zurückgekehrt zu sein, ihm die Nelke gegeben zu haben; schämte sie sich der ganzen planmäßigen Belagerung, die sie ins Werk gesetzt hatte seit jenem Abend, als ihr Gatte ins Zimmer getreten war und sie beobachtete, ohne zu wissen, daß sie ihn sah? Nein, sie schämte sich eigentlich nicht! Ihre Gewissenbisse entsprangen einzig und allein dem Kusse. Es tat ihr weh, daran zu denken, weil es das Ende, das gänzliche Aufhören des Muttergefühls in ihr bedeutete, das Erwachen von – wer konnte sagen was – in dem Jungen! Denn wenn sie ihm als etwas Rätselhaftes vorkam, um wieviel rätselhafter erschien er ihr, in seinem Eifer, seinem träumerischen Wesen, seiner jugendlichen Wärme, seiner Unschuld! Wie, wenn dadurch sein Vertrauen getötet, der Tau abgestreift, ein Stern am Firmament gestürzt worden wäre? Hätte sie sich das verzeihen können? Hätte sie's ertragen können, ihn so zu machen, wie so viele andere junge Leute waren, wie zum Beispiel der junge Geiger – zu einem zynischen Jüngling, der die Frauen als Freiwild betrachtete? Aber war es denn denkbar, ihn zu einem solchen Menschen zu machen, konnte er sich je nach dieser Richtung hin entwickeln? Nein, gewiß nicht, sonst hätte sie ihn nicht vom ersten Augenblick an lieben und ihn ›einen Engel‹ heißen können.

Nach jenem Kuß im Dunkeln, jenem Verbrechen, wenn es eines war, wußte sie nicht, was er getan, wohin er gegangen – vielleicht war er umhergewandert, vielleicht sofort in sein Zimmer hinauf. Warum hatte sie sich zurückgehalten, ihn dort allein gelassen, warum sich seinen Armen entzogen? Das konnte sie kaum selbst begreifen. Nicht aus Scham, nicht aus Furcht; aus Ehrfurcht vielleicht – aber wovor? Vor der Liebe – vor der Illusion, dem Geheimnisvollen, all dem, was die Liebe so herrlich machte; vor der Jugend, ihrer Poesie; vielleicht nur um der dunklen stillen Nacht willen und des Duftes jener Blume, jener dunklen Blume der Leidenschaft, die ihn zu ihr getrieben und die sie ihm wieder entwendet hatte, die sie jetzt die ganze Nacht lang dicht am Halse trug und morgens welk in ihrem Kleid verbarg. So lang hatte sie gehungert, so lang auf diesen Augenblick gewartet – es war gar nicht verwunderlich, wenn sie selbst nicht recht wußte, warum sie gerade dies und nicht jenes getan.

Und wie sollte sie ihm jetzt entgegentreten, wie ihm in die Augen blicken? Waren sie inzwischen anders geworden? Hatten sie vielleicht nicht mehr den geraden Blick, den sie so liebte? Ihr fiel nun die Führung zu, sie hatte die Zukunft zu gestalten. Und sie sagte sich in einem fort: Ich werd mich nicht fürchten. Es ist einmal geschehen. Ich will nehmen, was mir das Leben bietet! An ihren Gatten dachte sie dabei überhaupt nicht.

Aber in dem Augenblick, als sie den Jungen wiedersah, wußte sie auch schon, daß ihn seit jenem Kuß etwas von außen, etwas Ungünstiges beeinflußt hatte. Er kam zwar auf sie zu, sagte jedoch nichts, sondern stand an allen Gliedern zitternd da und reichte ihr ein Telegramm, das lautete: ›Komm sofort zurück, Hochzeit unmittelbar bevorstehend, erwarte dich übermorgen. Cicely.‹ Die Worte schienen ihr beim Lesen ganz verschwommen, und sie sah das Gesicht des Knaben wie durch einen Nebel. Dann bezwang sie sich und sagte gelassen:

»Sie müssen natürlich hingehn. Sie dürfen die Hochzeit Ihrer einzigen Schwester nicht versäumen.«

Er sah sie ohne jeden Widerspruch an, und sie konnte seinen Blick fast nicht ertragen – er schien so wenig zu wissen und so viel zu fragen. Sie sagte: »Es wird nicht lange sein nur für ein paar Tage. Sie kommen wieder her, oder wir kommen zu Ihnen.«

Sein Gesicht hellte sich sogleich wieder auf.

»Kommen Sie wirklich bald zu uns, sofort wenn Sie eine Einladung erhalten? Dann ist es mir gleich – ich … ich …« Und dann brach er ab, denn er erstickte schier.

Sie sagte wieder:

»Laden Sie uns ein. Wir werden kommen.«

Er faßte ihre Hand, drückte sie immer wieder zwischen seinen beiden Händen, dann streichelte er sie zärtlich und sagte:

»Ach! Ich tu Ihnen weh!«

Sie lachte, um nicht weinen zu müssen.

In wenigen Minuten mußte er abreisen, um den einzigen Zug zu erreichen, der ihn rechtzeitig nach Hause brachte. Sie ging mit ihm und half ihm einpacken. Es war ihr unendlich schwer ums Herz, da sie aber sein unglückliches Gesicht nicht ertragen konnte, redete sie in einem fort anscheinend heiter von ihrer Rückkehr, fragte ihn über sein Heim und wie man am besten hinkäme, sprach von Oxford und vom neuen Semester. Als seine Sachen fertig waren, schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihn einen Moment an sich. Dann lief sie fort. In der Tür blickte sie nach ihm zurück: er stand noch genauso da wie im Augenblick, als sie sich von ihm abgewandt hatte. Ihre Wangen waren naß; sie trocknete sie, während sie hinunterging. Als sie sich genügend sicher fühlte, trat sie auf die Terrasse hinaus. Dort sah sie ihren Gatten und sagte zu ihm:

»Willst du mit mir in den Ort gehn? Ich möchte ein paar Sachen einkaufen.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe, lächelte ungewiß und folgte ihr. Langsam stiegen sie den Hügel in die lange Dorfstraße hinab. Die ganze Zeit redete sie, ohne recht zu wissen wovon, und die ganze Zeit dachte sie: Sein Wagen wird vorbeifahren – sein Wagen wird vorbeifahren!

Mehrere Wagen mit Schellengeläute überholten sie. Endlich kam der seinige. Er starrte vor sich hin und bemerkte sie nicht. Sie hörte ihren Gatten sagen:

»Nanu! Wohin fährt denn unser Freund Lennan mit dem ganzen Gepäck? Sieht ja wie ein verängstigtes Löwenjunges drein!«

Sie bemühte sich, so deutlich und ruhig wie möglich zu erwidern:

»Es ist gewiß etwas passiert, sonst kann es nur die Hochzeit seiner Schwester sein.«

Sie fühlte, wie ihr Gatte sie musterte, und hätte gern ihr eigenes Gesicht dabei gesehen; in diesem Augenblick jedoch schlug das Wort ›Madre‹ an ihr Ohr, und sie waren von einem kleinen Trupp ›englischer Moralhelden‹ umgeben.

Elftes Kapitel

Die mehr als dreißig Kilometer lange Wagenfahrt war vielleicht der qualvollste Teil der Reise für den Jungen. Es ist stets schwer, leiden zu müssen und dabei ruhig zu sitzen.

Als Anna ihn in der vergangenen Nacht verlassen hatte, war er in der Dunkelheit umhergestrichen, ohne recht zu wissen, wohin er ging. Dann stieg der Mond empor, und er fand sich unter dem vorspringenden Dach einer Scheune sitzen, nahe bei der Sennhütte, wo alles schwarz und ruhig war; und unter ihm im Tal lag das mondbeglänzte Dorf mit seinen Dächern und Türmen und den kleinen, schimmernden, nebelhaften Lichtern.

Es wäre ein merkwürdiges Schauspiel für die Eigentümer jener Hütte gewesen, wenn sie ihn zufällig gesehen hätten, wie er im Gesellschaftsanzug, ohne Hut auf dem dunklen, wirren Haar, auf den heubedeckten Brettern gegen ihre Scheune gelehnt saß und in sehnsüchtigem Entzücken vor sich hin starrte. Doch sie gehörten zu den Leuten, denen der Schlaf kostbar ist …

Und nun war ihm alles entrissen worden, in solch ungeheuer weite Ferne entrückt! Würde es denn möglich sein, seinen Vormund zu bewegen, sie nach Hayle einzuladen? Und würden sie auch kommen? Sein Professor würde gewiß nicht gern nach einem Orte gehen, der so abseits auf dem Lande lag, so weit von Büchern und allem andern! Bei dem Gedanken an den Professor runzelte er die Stirn, von Zweifel und Unruhe erfüllt, doch aus keinem andern Grunde. Aber wenn er sie nicht dort haben konnte, wie sollte er die zwei Monate warten, bis das nächste Semester begann? Solche Gedanken gingen ihm im Kopf herum, während der Wagen ihn weiter und weiter von ihr forttrug.

Im Zuge war es besser; die Zerstreuung, die die seltsame Menge von Ausländern ihm bot, das Interesse an fremden Gesichtern und fremden Gegenden – und dann der Schlaf – eine ganze Nacht lang in eine Ecke geschmiegt, vollkommen erschöpft! Und am nächsten Tag wieder neue Gegenden, wieder neue Gesichter. Und allmählich wich sein Schmerz und seine Unruhe einem Gefühl der Erwartung von etwas, das man ihm versprochen hatte und worauf er sich freuen durfte. Endlich Calais und eine nächtliche Überfahrt in einem feuchten kleinen Dampfer, die sommerliche Brise, die ihm Gischt ins Gesicht spritzte, weißschäumende Wogen in der schwarzen See und das wilde Heulen des Windes. Zurück nach London, die Fahrt am frühen Morgen durch die Stadt, die noch im Augustnebel schlief; ein englisches Frühstück: Haferbrei, Hammelkoteletten, Orangenmarmelade. Und schließlich der Zug nach Hause. Auf alle Fälle konnte er ihr schreiben; er riß eine Seite aus seinem kleinen Skizzenbuch und begann:

›Ich schreibe im Zug, verzeihen Sie deshalb, bitte, die zitterige Schrift …‹

Dann wußte er nicht, wie er fortfahren sollte, denn alles, was ihm auf dem Herzen lag, war derart, daß er es ganz unmöglich niederschreiben konnte – was er fühlte, würde auf dem Papier entsetzlich aussehen! Außerdem durfte er doch nichts schreiben, was nicht jedermann hätte lesen können. Was sollte er also sagen?

Zuletzt schrieb er: ›Die Reise war lang, fort von Tirol.‹ (Er wagte nicht einmal zu schreiben ›von Ihnen‹.) ›Ich dachte, sie würde nie enden, aber schließlich hat sie doch geendet – beinahe. Ich habe viel über Tirol nachgedacht. Es war eine herrliche Zeit, die herrlichste Zeit in meinem Leben. Und da sie jetzt vorbei ist, suche ich mich mit dem Gedanken an die Zukunft zu trösten, nicht die allernächste Zukunft, die ist nicht sehr erfreulich. Ich möchte wissen, wie die Berge heute aussehen. Bitte, richten Sie ihnen meine herzlichsten Grüße aus, besonders denen, die wie Löwen aussehen, wenn sie im Mondlicht liegen – hier werden Sie sie schwerlich erkennen.‹ Dann folgte eine Skizze. ›Und das ist die Kirche, an der wir vorbeikamen, wo jemand auf den Knien lag. Und das sollen die ›englischen Moralhelden‹ sein, die eine mit einem Bergstock anstarren, die sehr spät heimkommt – nur daß mir die ›englischen Moralhelden‹ besser gelungen sind als die Dame mit dem Bergstock. Ich wollte, ich wäre einer der ›englischen Moralhelden‹ und jetzt noch in Tirol. Ich hoffe, bald einen Brief von Ihnen zu erhalten, daß Sie im Begriff sind zurückzukommen. Mein Vormund würde sich furchtbar freuen, wenn Sie uns besuchen wollten. Er ist gar kein übler Kerl, wenn man ihn erst näher kennt, und seine Schwester Mrs. Doone und ihre Tochter werden noch nach der Hochzeit dableiben. Es wäre einfach abscheulich, wenn Sie und Mr. Stormer nicht kämen. Ich wollt, ich könnte alles schreiben, was ich über die herrliche Zeit in Tirol fühle, aber Sie müssen sich das, bitte, selber denken.‹

Und ebensowenig, wie er eine Anrede für sie gefunden hatte, wußte er jetzt auch nicht, wie er sich unterzeichnen sollte, und schrieb einfach ›Mark Lennan‹.

Er warf den Brief in Exeter, wo er Aufenthalt hatte, in den Kasten, und seine Gedanken wanderten immer mehr von der Vergangenheit zur Zukunft. Jetzt, da er seiner Heimat näher kam, fing er an, an seine Schwester zu denken. In zwei Tagen würde sie nach Italien abgereist sein, und dann würde er sie lange Zeit nicht wiedersehen. Eine ganze Reihe von Erinnerungen streckte ihm die Hände entgegen. Wie sie oft beide in dem von einer Mauer umgebenen Garten und auf dem vertieften Krocket-Spielplatz zusammen spazierengegangen waren, wobei sie, weil sie zwei Jahre älter und in jenen Tagen größer war als er, ihren Arm um seinen Hals geschlungen und ihm Geschichten erzählt hatte. Das erste Gespräch an jedem Ferienanfang, wenn er zu ihr zurückkam; der erste Tee – mit unbeschränkter Marmelade – in dem alten Schulzimmer, das Fenster mit Steinpfeilern und Kattunvorhängen hatte, nur er, sie und die alte Tingle (Miß Tring, die ehrwürdige Gouvernante, die jetzt ihren Schützling verlor) und manchmal noch das kleine Ding, die Sylvia, wenn sie gerade mit ihrer Mutter zu Besuch dort war. Cicely hatte ihn stets verstanden, wenn er ihr erklärte, wie dumm die Schule war, weil die Vögel und andern Tiere nur dazu zu existieren schienen, um umgebracht zu werden, und niemand Interesse daran fand, sie zu zeichnen und zu modellieren oder sonst etwas Vernünftiges mit ihnen anzufangen. Sie pflegten zusammen im Park umherzustreifen oder am Bach entlang, wo alles so wild und ungewöhnlich aussah – die knorrigen Eichbäume und die riesigen Felsblöcke, von denen der alte Kutscher Godden behauptete: ›Die sind gewiß noch von der Sintflut zurückgeblieben, junger Herr‹. Diese und noch tausend andere Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Und wie der Zug immer näher an die Station heranfuhr, machte er sich eifrigst bereit, aus dem Wagen zu springen, um sie zu begrüßen. Das Wartezimmer und die Holzpfosten des Bahnsteigs waren über und über mit blühendem Geißblatt bedeckt – herrlich in diesem Jahr; und dort stand sie allein auf dem Bahnsteig. Aber das war ja gar nicht Cicely! Ganz verwundert stieg er aus, als hätten ihm seine Erinnerungen einen Streich gespielt. Es war zwar auch ein Mädchen, doch sah sie nur wie etwa sechzehn aus und trug einen großen Sonnenhut, der ihr Haar und das halbe Gesicht verdeckte. Sie hatte einen blauen Rock an und ein paar Geißblattblüten im Gürtel stecken. Sie schien ihn anzulächeln und zu erwarten, daß er ihr Lächeln erwidern würde; und deshalb lächelte auch er sie an. Sie kam auf ihn zu und sagte:

»Ich bin Sylvia.«

Er erwiderte: »Oh! Tausend Dank! Furchtbar nett von dir, mich abzuholen.«

»Cicely hat so viel zu tun. Wir haben nur den kleinen Wagen. Hast du viel Gepäck?«

Sie ergriff seinen Mantelsack, und er nahm ihn ihr wieder ab; sie ergriff seine Handtasche, und er nahm sie ihr wieder ab; dann gingen sie zu dem Wägelchen. Ein kleiner Groom stand dort bereit, der einen kleinen, lebhaft tänzelnden hellen Rotschimmel mit schwarzer Mähne und schwarzem, buschigem Schweif am Zügel hielt.

Sie sagte: »Hast du was dagegen, wenn ich lenke? Ich lern es gerade.«

Und er erwiderte: »Nein, durchaus nicht.«

Sie stieg in den Wagen; er merkte, daß ihre Augen ganz aufgeregt dreinsahen. Dann brachte man seinen Koffer, der mit den übrigen Sachen hinten verstaut wurde, und er nahm neben ihr Platz.

Sie sagte: »Laß los, Billy!«

Der Rotschimmel flog an dem kleinen Groom vorbei, dessen Stulpenstiefel zu funkeln schienen, als er hinten aufsprang. Sie verließen den Bahnhof und sausten um die Ecke, und als er merkte, daß ihr Mund ein ganz klein wenig geöffnet war, als hätte sie das verwirrt, sagte er:

»Er zerrt ein bißchen.«

»Ja – aber ist er nicht reizend?«

»Wirklich ein famoser Kerl.«

Ah! Wenn sie kam, wollte er sie fahren; allein mit ihr in dem kleinen Wagen, würde er ihr die ganze Gegend zeigen.

Da wurde er aus seinem Traum aufgescheucht.

»Ach, er scheut gewiß!« Gleich darauf sprang der Rotschimmel zur Seite. Er ging in leichten Galopp über.

Sie waren an einem Schwein vorbeigekommen.

»Sieht er jetzt nicht prächtig aus? Hätt ich ihm die Peitsche geben sollen, wie er gescheut hat?«

»Aber nein!«

»Warum nicht?«

»Weil Pferde Pferde sind und Schweine Schweine; es ist nur natürlich, wenn die Pferde vor ihnen scheuen.«

»Ach so!«

Er sah sie von der Seite an. Wange und Kinn zeigten ganz weiche Linien und gefielen ihm recht gut.

»Weißt du, ich hab dich zuerst gar nicht erkannt!« sagte er. »Du bist so schrecklich in die Höhe geschossen.«

»Ich hab dich sofort erkannt. Deine Stimme ist noch immer so samtweich.«

Wieder trat ein Schweigen ein, bis sie sagte:

»Er zerrt ganz tüchtig, nicht wahr? Weil er wieder nach Hause will.«

»Soll ich fahren?«

»Ja, bitte!«

Er stand auf und ergriff die Zügel, und sie schlüpfte vor ihm darunter durch; ihr Haar duftete genauso wie Heu, als sie sanft gegen ihn geschleudert wurde.

Jetzt, da sie nicht mehr zu lenken brauchte, sah sie ihn immerzu aus tiefblauen Augen an.

»Cicely hat gefürchtet, daß du nicht kommen würdest«, sagte sie unerwartet. »Was für Leute sind diese alten Stormers eigentlich?«

Er fühlte, wie er über und über rot wurde, würgte etwas hinunter und gab zur Antwort:

»Nur er ist alt. Sie ist nicht mehr als ungefähr fünfunddreißig.«

»Das ist aber alt.«

Er wollte sagen: Freilich ist's alt für so 'n Küken wie du! Statt dessen sah er sie nur an. War sie denn ein Küken? Für ein Mädchen schien sie ganz groß zu sein und auch nicht sehr mager, und ihr Gesicht hatte einen sanften, freimütigen Ausdruck, als verlangte sie, daß man nett zu ihr sein sollte.

»Ist sie sehr hübsch?«

Diesmal wurde er nicht rot, so sehr setzte ihn diese Frage in Verwirrung. Es schien ihm, daß ein ›Ja‹ der ganzen Welt seine Anbetung verraten müsse; doch etwas anderes zu sagen wäre wie Untreue gewesen. So sagte er am Ende doch »Ja« und lauschte gespannt auf den Ton seiner eigenen Stimme.

»Das hab ich mir gedacht. Hast du sie sehr gern?«

Wieder würgte er etwas hinunter und sagte abermals: »Ja.«

Er hätte dieses Mädchen hassen können, aber es war ihm unmöglich – sie sah so sanft und vertrauensvoll aus. Als sie jetzt vor sich hin starrte, waren ihre Lippen noch immer ein wenig geöffnet; es war also vorher gar nicht deshalb gewesen, weil Bolero gezerrt hatte; trotzdem waren sie hübsch, ebenso wie die kurze, gerade, kleine Nase und ihr Kinn, und sie war furchtbar blond. Seine Gedanken flogen zu jenem andern Gesicht zurück, das so herrlich, so voller Leben war. Plötzlich konnte er es sich unmöglich wieder vorstellen, zum erstenmal seit seiner Abfahrt konnte er es nicht deutlich vor sich sehen.

»Ach, sieh nur!«

Ihre Hand zog ihn am Arm. Dort im Feld hinter der Hecke sauste ein Habicht wie ein Stein zu Boden.

»Ach, Mark! Ach! Ach! Er hat's gepackt!«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, und der Habicht, der ein junges Kaninchen in den Klauen trug, schwebte wieder empor. Es war ein so schöner Anblick, daß ihm das Kaninchen eigentlich gar nicht leid tat; doch wollte er sie trösten und beruhigen und sagte:

»Es ist ganz in Ordnung, Sylvia; glaub mir's nur! Siehst du, das Kaninchen ist doch schon tot. Und alles ist auch ganz natürlich.«

Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht, das aussah, als wollte sie weinen.

»Das arme kleine Kaninchen! Es war so 'n ganz kleines!«

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