Kitabı oku: «Die Anarchisten», sayfa 2

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Erstes Kapitel: Im Herzen der Weltstadt

Über London hin begann sich ein naßkalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich »Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien« nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 »Jubilee Year« genannt wurde.

An diesem Abend - es war der letzte einer Woche - suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu dem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen und ungefähr über der Mitte des Flusses angelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Wasserseite hin und stand dort eine Weile, während er die Menschen hinter sich vorbeitreiben fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn haltmachen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten »jenseits der Themse« gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen

Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.

Es war noch eben hell genug, daß er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits überall die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Latemenreihen auf Waterloo Bridge hin, und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur Linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorüberhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm - von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet - die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes ...

Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!

Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen liebe des Trotzes.

Denn man liebt London entweder, oder man haßt es ...

Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, daß er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußweg schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hinüber gespült würde. Es war, als ob der Zögemde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er, über die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und überall hingewirrt die tausend und abertausend Lichter ...

Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpfbrausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halbhell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. »Do not forget me-do not forget me« war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. »Do not forget me« - überall konnte man es im Jubilee Year in London hören ... Es war das Lied des Tages.

Wer das Gesicht des eben über den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: wieviel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all das Große, das er um sich sah, geschaffen.

Schweiß und Blut werden abgewaschen, und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessener ...

Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrjunderts die »soziale« genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht -in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben »den anderen« das Leben gibt ...

Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: diese wollten noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten - verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt -, ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm über den »Preis« handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend - Auban sah alles. Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Vorübereilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehengeblieben war, sich an ihn drängte und ihm die nächste Nummer der »Matrimonial News« - »für alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen« - aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem nächsten zuwandte, als er sah, daß er keine Antwort erhielt.

Auben ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als daß es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und überall fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennenlernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt…

Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel - weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher - gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmitag hinübergestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth - jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseite jenes Lebens zu zeigen.

Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Northumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo drangen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorübergehenden hatte sich zusammengescharrt: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikaturkostüm und mit überrußtem Gesicht sein Instrument - wer hat die bizarren Gestalten dieser »Neger-Komödianten« nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? -, während zu seinen Klängen ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.

»Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen«, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehaßte, der gefürchtete.

Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war, und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vorüber. Auch Auban wußte, daß an naßkalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepreßt, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem »Arm des Gesetzes« auseinandergetrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die »Parias« der Gesellschaft, die in Wahrheit Heimatlosen ...

Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor etwa einem Jahre an diesem Ort erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, daß er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen -:

Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht über in einem Lodginghouse, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er die Stufen niedergeschritten war - der Tunnel war überfüllt mit Menschen, die, nach allen Stadien des Elends, am letzten angelangt waren -, sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches - an der Brust einen Säugling - ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich schleppte, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte. - Zwei Shilling nur, Gentleman, zwei Shilling nur! - Er war stehen geblieben, um sie zu fragen. - Zwei Shilling nur! Sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.

Ein Schauder überlief ihn. Aber die flehende Stimme des Weibes ertönte weiter:

Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen; - nur zwei Shilling, Gentleman, nur zwei Shilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch... und wieder riß sie das Kind an sich.

Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn überschlich. Er wandte sich - unfähig, ein Wort hervorzubringen - zum Gehen.

Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihm auf den Boden hinwarf, das Mädchen mit sich riß und sich an ihn anklammerte.

Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. - Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern - nehmen Sie sie mit - hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht - tun Sie es doch - tun Sie es doch!...

Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.

Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell.

Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfaßte. Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.

Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman - sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu. Keiner hatte der Szene geachtet.

Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.

An acht folgenden Tagen suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wiederfinden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als daß er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg ...

Dann vergaß er über dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut, Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren, sich darbieten - und war unfähig zu helfen!

Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß mußte das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem »Scheusal von Mutter« und von dem »verkommenen Kinde« - die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde ...

Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Um so schneller muß die Erkenntnis kommen, daß die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.

»Die Wahnsinnigen«, murmelte Auban vor sich hin, »die Wahnsinnigen - sie sehen alle nicht wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben!« Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.

Wie deutlich er heute abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: »Do it! Do it!« zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf. Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle - diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht überschwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allnächtlich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand - und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten ...

Auban kannte alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt, und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sandufer... Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte mit der nebligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.

Der »Strand«! West End und City verbindend, lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut: zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St Paul's, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, übersät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem andern; ein Hansom, leicht, behend auf seinen zwei Rädern dahinhuschend, dem andern folgend; dröhnende Lastwagen; rote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bicycles ...

Das East End ist die Arbeit und die Armut, aneinandergekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der jene verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich soviel erwerben, daß sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort »anständig« werden können.

Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und in ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen (alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet und die jeder mitspielt, wird er geladen) - wenn man sie in die hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden (von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden) in seinem kalten Somerset House; und der Strand hat seine Theater, mehr als irgendeine Straße der Welt.

So ist der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt und den seine meist engen und aufeinander gepreßten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verläßt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.

Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische licht die Straße - die Gasflammen weit überstrahlend - mit seinem hellweißen Licht überschimmerte, konnte man sehen, daß er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Faß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.

Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher weiter unten gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorübergehenden mit ihren unaufhörlichen »Penny a bunch!« zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie über die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Special Editions los sein wollten, um noch in Gatti's Hungerford Palace Charlie Cobom - den inimitable - in seinen »Two Lovely Black Eyes« bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West-Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure übertönt worden wäre.

Mit jener Sicherheit, die nur durch langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt gewonnen wird, benutzte Auban die erste Sekunde, in der die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu überschreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm »etwas zu sagen« - etwas von einer »jungen Dame« - und befand sich nach drei Minuten an den grell erleuchteten Eingängen der Alhambra, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem überfüllten Hause zu erlangen hofften. Auban ging gleichgültig vorüber, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen - Reklameaufnahmen aus dem neuen Monstreballett »Algeria«, dem halb London zuströmte - zu werfen.

Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. »There is no Darkness but Ignorance« - stand dort Wer las es? ... An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban mußte sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles übertönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: - »Chéri, Chéri«-, mit denen sie sich an jeden Vorübereilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.

Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechzehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang über den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, daß sie schon lange so gewandert waren - immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend... An einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme - alle Deutschen schreien in London -, sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in den Auban hineingestoßen wurde, so daß er die Szene mit ansehen mußte, die sich nun abspielte: eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrieen einander an. »Da« - brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurückempfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher. Bis einer der Zuschauer sie auseinanderriß, worauf sie ihre Sachen - die eine ihren zerbrochenen Schirm und die andere ihren Fetzen von Hut - auflasen und der Haufen sich lachend nach allen Seiten zerstreute.

Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene - eine unter unzähligen -: was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, daß die Methode, das Volk in Roheit zu erhalten, um dann von dem »Mob« und seiner Verkommenheit zu sprechen, vortrefflich anschlug?

Musikhallen und Boxereien - sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus; an den Sonntagen Gebete und Predigten -: vortreffliche Mittel gegen das »gefährlichste Übel der Zeit« - das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.

Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.

Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street - sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt unterstützt von den »zivilisierten« Staaten des Festlandes, ein Angebot das sogar eine unersättliche Nachfrage übersteigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.

Wie wundervoll bequem - dachte Auban - machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut - ein notwendiges Übel; die Prostitution - ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen und alle Entwicklung hemmen ... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die »Reformarbeit«. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz - und heutzutage muß sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem »materiellen Dahinleben« ist es nicht mehr getan. - Betrogene Betrüger! vom ersten bis zum letzten, sagte Auban lachend vor sich hin; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.

Aber dieser Mann, welcher wußte, daß es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewußte Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewußt- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, sooft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, daß hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch. Was ist dem Besitzenden das Volk - das Volk, welches »nicht zu gut behandelt werden darf«, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die versorgt werden muß, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: »Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht—«. Ihre Söhne - gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung - in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig - von der Arbeit eines ewig währenden Tages.

Ihre Töchter - gut genug, als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst über die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter - bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!...

Aber hier - hier allein! - zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.

Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich über unser ganzes geschlechtliches Leben - das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte - ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches über einer noch im Schlummer liegenden Generation.

Auban wurde gezwungen aufzusehen. Aus dem Restaurant des London Pavilion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme über Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der Jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal- verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzudeutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in Full dress: aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus dem schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die einen einige der Halbweltlerinnen, während die anderen nach Hansoms schrieen, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben, und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.

Auban überschaute den Platz. Dort vor ihm - Piccadilly hinunter - dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst - das ganze übersättigte und raffinierte Leben der »großen Welt«... das Trugleben des Scheins ... Der Blitz der kommenden Revolution muß hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein.

Als Auban die Straße überschritt fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedesmal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: und es kam Auban die Lust an zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangsbogen von Spiere und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten überschritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner.

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