Kitabı oku: «Die Anarchisten», sayfa 5

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Währenddessen hatte der, dem diese Gedanken galten, in nervöser Erregung - wie unzählige Male mochte er schon so an dem Ufer des brausenden Menschenmeeres gestanden haben! - darauf gewartet, daß sich der Beifallssturm legen möchte, der zu ihm hinaufbrauste. Nun begann er in jenem harten, klaren Englisch des Russen, der die Sprachen aller Länder spricht, in denen er lebt. Man glaubte, ihn erst nicht verstehen zu können; nach drei Minuten war es unmöglich, ein Wort seines lebendigen und hinreißenden Vortrages zu verlieren.

- Als was erscheinen die Vorgänge in Chicago? fragte er. Und er gab die Antwort: - Als eine Rache an Gefangenen, die gemacht sind in dem Kampf zwischen den beiden großen Klassen. Wir protestieren gegen sie als eine Grausamkeit und Ungerechtigkeit Es ist die Schuld unserer Gegner, rief er, wenn solche Verbrechen den Kampf immer furchtbarer, immer erbitterter, immer unversöhnlicher machen. Es ist das keine Angelegenheit welche nur das amerikanische Volk angeht: das Unrecht an den besitzlosen Arbeitern jenes Landes verübt trifft uns mit gleicher Wucht Die Arbeiterbewegung ist ihrem ganzen Wesen nach international; und die Arbeiter jedes Landes haben die Pflicht ihre Mitarbeiter in einem anderen aufzurufen und zu unterstützen im Widerstande gegen solche Verbrechen, welche an ihnen selbst begangen werden!

Er sprach nicht sehr lange. Aber was er sagte, erregte ihn selbst wie die Hörer gleich stark. Der unentrinnbare Ernst seiner Worte, sein blitzendes Auge, seine bebende Leidenschaftlichkeit erweckten in dem Gleichgültigen eine Ahnung von der Bedeutung einer Sache, die er nicht verstand, und stärkte in deren Bekennern den Glauben an ihre Gerechtigkeit und an ihre Größe. In demselben Moment, in dem der Redner geendet, hatte er schon den Platz verlassen, als wolle er sich dem neu ausbrechenden Beifall entziehen, und saß im nächsten wieder ernst und bleich unter den Zuhörern, gespannt mit ihnen die Worte seines Nachredners verfolgend, der - als Delegierter eines großen Londoner liberalen Klubs - darauf aufmerksam machte, daß jene Ereignisse, welche heute drüben geschehen, morgen schon hier im eigenen Lande sich ereignen könnten ...

Auban vernahm nicht mehr, was dieser und jeder der noch nachfolgenden Redner sagte. Er war in Gedanken versunken. Noch immer saß er so unbeweglich wie vor einer Stunde da, die Füße über den vorgestreckten Stock gekreuzt, die Hände auf seinen Griff gestemmt, und starrte vor sich hin. Die Stimmen der Redner, das Gemurmel wie das Beifallsrufen und -klatschen der Menge - das alles klang wie aus einer weit abliegenden Ferne zu ihm her. Er war oft in den letzten Tagen - beim Durchwandern brausender Straßen - von diesem Gefühl der Abwesenheit überwältigt worden; dann dachte er an jene Tage, in welchen die Menschheit aufatmend einmal wieder sich befreit hatte von einem ihrer Tyrannen, und an die Tage, in welchen dessen wertloses und fluchbeladenes Leben gerächt wurde an vielen unschätzbar teuren. Und er dachte an die Heldengestalten jener Märtyrer, an ihre schweigenden Opfer und an ihr nur einem Gedanken geweihtes Leben. Er dachte an sie, sooft er einen von denen sah, auf deren Stirnen noch der Schatten jener Tage zu liegen schien. Aber nicht mehr vermochte es ihm über alles groß und beneidenswert zu erscheinen, so zu leben und so zu sterben... Verflüchtigt hatte sich jene Leidenschaftsglut, welche seine ganze Jugend verzehrt hatte und welche in Asche gelegt war unter den kalten Hauchen des Verstandes, der unaufhörlich und rastlos alle unsere wirren Gefühle bekämpft, bis er uns mit dem Glauben an die Gerechtigkeit auch den letzten genommen hat, und nun selbst - als der einzig berechtigte - Leiter und Lenker unseres Lebens geworden ist. Zuviel Blut hatte er fließen sehen, als daß er nicht gewünscht hätte, die Erfolge des Friedens endlich zu erblicken. Aber wie war das möglich, wenn das Ziel immer verschwommener, die Wünsche immer unmöglicher und die Leidenschaften immer mehr entfesselt wurden?! -

Wieder sollten sich jene Tage, an welche er dachte, nun in Wirklichkeit wiederholen! Wieder das Blut der Unschuldigen in Strömen fließen, um die ungezählten Verbrechen, begangen von der Macht an der Schwachheit, der Willenlosigkeit, der Einsichtslosigkeit, zu verbergen! Was wollten doch alle diese Menschen, die hier so begeistert schienen, so überzeugende Worte der Wahrheit fanden? Protestieren? Wann hatte sich das privilegierte Unrecht, welches die Macht der Gewalt sich kaufte, je um Proteste gekümmert? -

Warum unterlagen sie? Weil sie die Schwächeren waren. Und was ist Schuld? Ist es nicht ebenso große Schuld, schwach zu sein, als stark zu sein, wenn es überhaupt eine Schuld gibt? Weshalb waren sie nicht die Stärkeren?

Mit der grausamen Härte seiner durchdringenden Logik prüfte und sezierte er weiter. Der Schmerz, der hier so beredt aus allen Mienen und allen Worten sprach: zusehen zu müssen dem Verbrechen, war er nicht doch geringer als der, den ein Versuch, es tatsächlich zu verhindern, bereitet hätte? Weshalb sonst gaben sie sich alle hier zufrieden, zu protestieren und nur zu protestieren?

Sie hätten die Stärkeren sein können. Und waren es nicht... Es war eine große Leere und Kälte in ihm nach der auflodernden Leidenschaft. Es war ihm, als schwebe er in einer eisigen Luftewigkeit ohne Raum und Grenze und Versuche, in der Angst des Todes sich an dem Haltlosen zu halten. –

Der alte Herr, welcher neben ihm saß, sah in diesem Augenblick in Aubans Gesicht. Es war aschgrau, und in seinen Augen loderte ein zusammensinkendes Feuer.

Auf der Empore trat unterdessen unermüdlich ein Redner nach dem andern auf. Die Erregung schien noch im Wachsen zu sein, obwohl gewiß in dem ganzen weiten Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geschäftsmäßig ihre Blätter mit Notizen füllten.

Auban hörte nichts mehr. Einmal hatte er sich halb erhoben, als habe er sich entschlossen zu sprechen. Aber er hatte gesehen, daß die Reihe der Sprecher noch nicht erschöpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu sagen, welches heute abend nicht gesagt werden sollte. -

Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde schaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt worden, den England in die Geschichte seiner Dichtkunst des neunzehnten Jahrhunderts längst neben die glänzendsten unverwischbar eingetragen hatte; den das Kunstgewerbe einen seiner Erneuerer und tätigsten Förderer nannte; und der endlich einer der gründlichsten Kenner und hervorragendsten Vertreter des englischen Sozialismus war. Dieser merkwürdige und einzige Mann - Dichter, Maler und Sozialist in einer Person und Meister in allen - hatte trotz seiner weißen Haare die Lebendigkeit und Frische eines Jünglings. Unvergeßlich war noch immer für Auban einer seiner zahllosen Vorträge, die er heute in irgendeinem der kleinen Klubsäle der Socialist-League-Gruppen in London vor Hunderten und morgen in Edinburgh oder Glasgow auf öffentlichen Versammlungen vor Tausenden hielt, geblieben: »The Coming Society«. Und nie hatte sich vor Aubans Augen verlockender und begehrlich-täuschender das Bild der »freien Gesellschaft« hingestellt als unter dem Banne dieser Worte, denen der Dichter Zauber und Schönheit, der Künstler Plastik und Fülle, der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu leihen suchte. Wie schön es wäre, wenn es so sein könnte; wie alles aufgelöst wäre in Harmonie und Frieden - hatte er damals gedacht.

Ein alter Barde und Patriarch und doch wieder der natürlichste, gesündeste alte Engländer - der Selfmademan - in seinem weichen blauen Hemd und bequemstem Anzuge stand er da und erzählte mehr, als er sprach, von den Tagen von Chicago. Der Beifall, mit dem sein Kommen und Abtreten begrüßt wurde, gab Zeugnis von der Popularität dieses Mannes, dessen Lebendigkeit und Tatkraft für die Sache der sozialen Bewegung keine Ermüdung zu kennen schien.

Die zehnte Stunde war lange vorüber, als der Chairman sich erhob, um mit seiner klaren lauten Stimme die Resolution zu verlesen. Die Hände flogen in die Höhe - keine erhob sich bei der Gegenfrage -: die Resolution war einstimmig angenommen. Ein Kabeltelegramm wurde nach New York gesandt, wo am folgenden Tage aus demselben Anlaß eine große Protestversammlung stattfinden sollte-: es brachte die Wünsche der hier Versammelten über das Meer ...

Dann begann der Saal sich langsam zu leeren. Die lebhaft sprechende, aufgeregte Menge schob sich allmählich durch die Türen ins Freie; die Reporter packten ihre Blätter zusammen, einzelnes noch miteinander vergleichend; die Tribüne wurde leer. Nur jene Frau, welche zuerst gesprochen hatte, stand noch bei dem Chairman, die Atheistin und Kommunistin neben dem Priester der Kirche und christlich-sozialen Demokraten.

Wahrscheinlich ließ sie sich noch einige Namen und Notizen für ihr kleines, allmonatlich in vierseitiger Stärke erscheinendes Blatt geben. Als Auban jene beiden sah, dachte er, wie innerlich sich doch ihre Anschauungen berührten und wie es nur Scheinwände waren, was sie zwischen sich sahen. Und ferner. wie unvereinbar schroff er selbst gerade dem, was jene verband, gegenüberstand.

Nachdem er sich herzlich bei dem alten Herrn, der noch von dem jungen Amerikaner zurückgehalten wurde, verabschiedet hatte, ging er langsam und allein hinaus.

An der Tür standen noch die Genossen mit ihren Blättern, deren Namen sie riefen. - Auban erkannte einen unter ihnen, welcher der »Autonomie« angehörte, einen jungen Mann mit blondem Bart und freundlichen Zügen. Er fragte ihn nach Trupp und erhielt die Bestätigung, daß er nicht dagewesen war. Als er hinaustreten wollte, erhielt er einen Schlag auf die Schulter. Er wandte sich um. Vor ihm stand ein seltsamer alter Mann, dessen Gesicht man wohl nicht mehr vergaß, wenn man es einmal gesehen hatte. Es war alt, eingefallen, durchfurcht und scharf geschnitten, der Mund trat zurück, so daß das unrasierte Kinn hart hervortrat, die Oberlippe war von einem kurzgeschnittenen, struppigen Bart bedeckt, die Augen lagen hinter einer großen Stahlbrille verborgen, aber in Augenblicken der Erregung blitzend und diesem alten Antlitz - welches Kummer und Mühsal verändert hatten, um seine charakteristischen Eigenschaften (ohne sie verwischen zu können) nur schärfer hervortreten zu lassen -, diesem Antlitz noch immer Kühnes verleihend. Sonst aber schien die Gestalt des Alten gedrückt unter der schwer niederziehenden Wucht einer mächtigen, überfüllten Ledertasche, welche an seiner Seite hing. Um den Hals trug er ein vielfach geknotetes, buntfarbiges Wollentuch, welches das Hemd verdeckte und das er auch im heißesten Sommer so wenig ablegte wie den abgetragenen braunen Mantel.

- Hallo, alter Freund, rief Auban und schüttelte ihm die Hand, seid Ihr auch da? - Kommt, wir wollen ein Glas trinken. - Der Alte nickte:

- Aber kein Ale, Comrade, kein Brandy, nur eine Lemonade...

Seid Ihr denn Temperenzler geworden? fragte Auban lächelnd. Aber der Alte ging bereits voran.

Sie traten in das große Public House an der nächsten Straßenecke. Die geräumige Privatabteilung nach hinten zu war ziemlich leer, während die übrigen überfüllt waren. Auban erkannte eine Gruppe von englischen Sozialisten, die gleichfalls soeben dem Meeting beigewohnt hatten. Man schüttelte sich die Hände.

Dann nahm er dem Alten seine Tasche ab, bestellte, und sie setzten sich auf eine der Bänke. Es wurde keine Versammlung von Sozialisten in London abgehalten, ohne daß dieser Alte auf ihr zu sehen war. Seit wie langen Jahren? Keiner wußte es. Aber jeder kannte ihn. Der eine oder andere hatte auch wohl schon gelegentlich eine seiner originellen Reden oder Ansprachen gehört und gefragt, wer denn dieser alte, grauhaarige Mann mit den scharfen Zügen sei der mit so jugendlicher Leidenschaftlichkeit seine wilden Anklagen gegen das Bestehende schleuderte und mit ebenso jugendlicher Wärme sein Ideal der Brüderlichkeit und Gleichheit verteidigte. Dann mochte er die Antwort erhalten haben, es sei ein alter Kolporteur, der seinen Unterhalt durch den Verkauf sozialischer Broschüren und Zeitschriften verdiene.

Wer er aber wirklich war, wußten nur wenige.

Er erzählte gern, und so hatte er einmal zu Auban gesagt, daß er schon an der Chartistenbewegung teilgenommen; und Auban wußte auch, daß seine Broschüren und Elaborate unter den Millionen Büchern des Britischen Museums, dieses einzigen wirklich sozialen Institutes der Welt, genauso sorgfältig gebunden, numeriert und katalogisiert zu finden waren wie die seltenste Handschrift vergangener Jahrhunderte.

- Nun, was habt Ihr Neues? fragte er, als sie sich gesetzt hatten.

Der Alte zog seine Ledertasche heran und packte aus. Sorglos und unbekümmert um die Umstehenden streute er seine Zeitschriften und Blätter um sich her, während er für Auban aussuchte, was dieser noch nicht besaß, und mit seiner lauten Stimme seine originellen Urteile über den Wert und Unweit des einzelnen abgab.

- Was ist denn das? fragte Auban und griff nach einem kleinen Heft, das seine Aufmerksamkeit erregte: - »Impeachment of the Queen, Cabinet, Parliament & People. Fifty Years of Brutal & Bloody Monarchy.« Auban sah erstaunt auf die Ausstattung dieses seltsamen Opus: es war durchweg in unförmig-großen, groben Lettern eng gesetzt, welche nur zum kleinen Teil klar, aber dennoch bei ihrer unverhältnismäßigen Größe stets erkennbar herausgekommen waren. Da das Papier von dem unregelmäßigen Druck durchschlagen war, war immer nur eine Seite bedruckt und je zwei Blätter zusammengeklebt, und das Ganze - acht solcher Blätter stark - war mühsam und unregelmäßig mit der Schere beschnitten. Auban betrachtete das Heft mit einiger Verwunderung. Er las einige

Zeilen, welche, unter seltsamer Verwendung der Absätze und Interpunktionszeichen, eine leidenschaftliche Anklage im Lapidarstil gegen die Königin bildeten. - »REVOLT, WORKERS, REVOLT! HEADS OFF! «- las er mit zentimeterhohen Buchstaben auf einer der folgende Seiten.

- Was ist denn das?! fragte er.

Über das Gesicht des Alten zog ein Lächeln:

- Das ist mein Jubiläumsgeschenk für die Königin! rief er.

- Aber warum denn in dieser primitiven Form?

Der Alte schüttelte seinen grauen Kopf.

- Look here! sagte er und nahm seine Brille ab. - Meine alten Augen sehen nichts mehr. Da muß ich mich behelfen und große Lettern nehmen, die ich fühlen kann, mit den Fingerspitzen, eine nach der andern. - Da ist kein Druckfehler, nur die Interpunktion ...

- Und Ihr habt das selbst gedruckt?

- Gesetzt mit den Fingern ohne Augen; - und ohne Manuskript, aus dem Kopf; - gedruckt ohne Presse, immer nur eine Seite; - geheftet und herausgegeben ...

-Aber das war eine Riesenarbeit...

- Schadet nichts. Aber es ist gut Das muß der Arbeiter lesen!

Auban sah staunend auf den unförmlichen Druck und dachte mit einer Art von Bewunderung an die ungeheure Mühe, welche das Zustandebringen dieser wenigen Blätter dem Alten gemacht haben mußte. Ob es wohl im Zeitalter der Marinonipressen noch ein zweites solches Druckwerk gab, so grotesk in seinem Äußern, an die Anfange Gutenbergscher Buchdruckerkunst erinnernd? Auban las: »Fünfzig Jahre immer wachsender Wohlstandsvöllerei und Verbrechen, begangen von den königlichen, aristokratischen und verdammenswerten Klassen -« so begannen sie, und setzten sich fort in einer wirr durcheinander geratenen Aufzählung der Kosten der Kriege, einer wahllosen, meist aus persönlicher Erinnerung zusammengehäuften Menge von Namen, um mit einer heftigen Verwünschung zu enden: »Oh, die Flüche von tausend gemordeten, verhungerten Menschen mögen über Dich kommen, Viktoria Guelph, auf Deine brutale und blutige Monarchie -«, und mit wachsendem Erstaunen las Auban auch die letzte Seite, aus welcher ihm in ungefügen und wirren Worten dieselbe heiße Empörung entgegenloderte.

Auch die Engländer, welche den Alten kannten, waren neugierig näher getreten. Man nahm ihm lachend ab, was er an Exemplaren bei sich hatte.

Dann packte der Alte seine Sachen wieder in die Tasche warf sie mit einem kräftigen Ruck über die Schulter, stülpte seine Hüte - er trug stets zwei Filzhüte übereinander gezogen, und es war das eine seiner unverwüstlichen Eigenheiten - auf den grauen Kopf und verließ mit lautem, hartem Lachen, von Auban begleitet, den Ort. Sie gingen zusammen nach der nächsten Station. Der Alte sprach fortwährend, halb für sich und so undeutlich, daß Auban auch die andere Hälfte nur schwer verstehen konnte; aber er kannte ihn und ließ ihn ruhig gewähren - machte der Alte doch stets auf solche Weise seinem Grolle Luft.

Auch als er sich schon mit einem festen Händedruck verabschiedet hatte, sah Auban ihn noch, wie er gestikulierend und vor sich hinredend weiterging. Dann verschwand er in dem treibenden Strom der Menge, und Auban trat an den Schalter von Moorgate Station.

Auf der mittleren Plattform des unterirdischen Riesenraumes fand er sich wieder mit einer Anzahl Bekannten zusammen, die wartend dastanden und sich unterhielten. Einige der Sprecher des heutigen Abends waren unter ihnen. Auban setzte sich müde in eine Ecke.

Züge rasten ein und aus. Die Holztreppen hinab und hinauf drängten und polterten die Massen. Die Halle war durchzogen von dem weißgrauen Rauch und Dampf der Maschinen. Er strich über die Plattformen und die dort Stehenden hin, kräuselte sich um die unzähligen geschwärzten Pfeiler, Balken und Pfosten, legte sich schmeichelnd wie ein Schleier an die Decke hoch oben und suchte sich endlich durch die Luftöffnungen seinen Weg hinaus auf die Straße, in das Leben, in den Lärm und in das Getöse von London.

- Well, Comrade, wurde der vor sich Hinsehende plötzlich von dem neben ihm Sitzenden, einem englischen Schriftsteller, bekanntem Verfasser sozialer Aufsätze und Werke, gefragt - was denken Sie über Chicago?

Er war Auban nicht sympathisch, und daß dieser nie ein Hehl aus seinen Sympathien und Antipathien machte, war allen bekannt. Trotzdem drängte er sich bei jeder Gelegenheit an ihn heran. Auban wußte ganz gut, daß er, wie alles, so auch die entsetzlichen Vorgänge, nach denen er fragte, kühlen Herzens verarbeiten würde. Er sah ihm unhöflich und ohne zu antworten ins Gesicht.

Dem andern war dieser starre und gleichgültige Blick unerträglich.

- Well, sagte er wieder - denken Sie nicht, daß der Bourgeoisie keine Schändlichkeit gegen das Volk zu schändlich ist, wenn es die Erhaltung ihrer elenden Vorrechte gilt?

- Certainly, Sir, sagte Auban- würden Sie aber, wenn Sie an das Ruder gelangt sind, etwa eine andere Taktik befolgen? - und er sah zu dem Frager empor, mit seinem sarkastischen und überlegenen Lächeln, dessentwegen er so verhaßt war bei allen, die er nicht liebte. Und ohne ein weiteres Wort stand er auf, nickte und stieg schwer und langsam in den heranbrausenden Zug, der ihn nach einer Minute voll Lärm, Wirrwarr und Türenschlagen mit rasender Eile in der Richtung nach Kings Cross forttrug.

Drittes Kapitel: Die Arbeitslosen

Nun hatte die Weltstadt an der Themse, die »größte Warze der Erde«, wieder ihr alljährliches Schauspiel: den unheimlichen Anblick jener Scharen, welche nur ein Übermaß von Elend - das Schreckgespenst des Hungertodes - aus ihren Höhlen zu treiben vermochte, um sich im Herzen der Stadt, auf jenem weltberühmten Platze, welcher der Erinnerung an vergangene Tage »des Ruhms und der Größe« geweiht ist, mit der Frage zu beschäftigen: »Was tun, um morgen noch zu leben? Wie diesen langen Winter ohne Arbeit und ohne Brot überstehen?«... Denn diese Unglücklichen, die längst gelernt hatten, daß es für sie keine Rechte auf der Erde gab: weder auf einen Fußbreit ihres Bodens noch auf das geringste ihrer Güter- sie hatten jetzt auch ihr letztes »Recht«: das Recht, sich für andere totschinden zu dürfen, verloren und standen Gesicht an Gesicht mit jenem Schreckbild, welches der treueste Begleiter der Armut durch ihr ganzes Leben ist: dem Hunger.

Die Verzweiflung war es, die diese Menschen - deren Bescheidenheit und Genügsamkeit so groß war, daß sie aufhörte, begreiflich zu sein - hinaustrieb unter die Augen des öffentlichen Lebens.

Der feuchte, unfreundliche Oktober ging zu Ende. Die Tage wurden kürzer und die wilden Stunden des nächtlichen Lebens länger.

Schon in den Morgenstunden füllte sich die weite, kalte Fläche von Trafalgar Square mit den Gestalten des Elends. Aus allen Teilen der Stadt kamen sie her: glücklich, wenn die Not noch nicht zur Aufgabe der eigenen Wohnung, des Schmutzloches im Keller oder im fünften Stock und des Winkels von Zimmer gezwungen hatte; glücklich auch der noch, welcher im Laufe des Tages mit Hilfe eines guten Zufalls genug hatte auftreiben können, um in einem der Lodginghäuser Unterkunft zu finden - aber auf den meisten dieser kranken, bleichen und müden Gesichter war nur zu deutlich erkennbar, daß sie die kalte Nacht durch auf einer Bank am Themse Embankment oder in einem Torweg oder Durchgang von Covent Garden »geruht« hatten.

Die »Unemployed«! Ja, sie machten wieder viel von sich reden in diesem Jahr der Gnade! Seit fünfunddreißig Jahren traten sie nun schon so Jahr für Jahr bei Beginn des Winters vor das Antlitz des Reichtums hin. Und jedes Jahr wurde ihre Zahl größer, jedes Jahr ihr Auftreten sicherer, jedes Jahr ihre Forderung bestimmter! Noch standen in wacher Erinnerung die Februar-Riots von 1886, bei denen es ohne Eigentumsberaubungen nicht abgegangen war. Sie hatten nichts gemein mit irgendeiner Partei; sie hatten keine erklärten Führer im Parliament House, welche ihre Rechte »vertraten« - der Hunger war ihr Leiter und Treiber; keine Organisation schloß sie zusammen, doch das Elend schweißte sie aneinander. Woher kommen in den Tagen politischer und sozialer Empörungen plötzlich die unbekannten Mitkämpfer, wie Ratten aus ihren Löchern? - Ah, es sind die Rekruten der große Armee des Schweigens, welche nie mitgezählt wurden und doch so oft die Entscheidung herbeiführten ... Es sind die Glieder jener großen Masse, welche sich Volk nennt: die Rechtlosen, die Ausgestoßenen, die Namenlosen, jene, die nie waren und nun plötzlich sind, ein enthülltes Geheimnis und ein wesenwerdender Schatten, ein zum Leben erwachter Scheintoter, ein jählings zum Mann gereiftes, nie beachtetes Kind - das ist das Volk!

Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte besaß; nun rechnet es sich selbst mit, und seine Zahlen zermalmen ...

Ihr Lügner, die ihr in seinem Namen groß geworden seid, unter seinem Deckmantel die Verbrechen eurer Gewalt begangen habt, wie seid ihr plötzlich zunichte geworden! Ihr habt es betrogen, verraten und verkauft - ein Wort, ein Gespenst, ein Nichts war es, mit dem ihr umgingt nach Lust und Gefallen - und nun tritt es plötzlich vor euch hin! Leibhaftig vor euch hin!...

Gleichgültig, verständnislos und hartherzig, wie immer, stand die Bourgeoisie und ihre Regierung den Arbeitslosen auch in diesem Jahre gegenüber. Als ihr täglicher Anblick unangenehm zu werden begann, rief sie nach der Polizei und ließ sie vom Square vertreiben. Sie gingen in den Hyde Park; man ließ sie auf den Square zurückkehren, um sie von neuem brutal zu verjagen.

Man reizte sie, um sie verhaften zu können; und wenn sie vor dem Richter standen, erklärte dieser ihre Aufzüge für »theatralisch« - und keine Hand erhob sich, diesem Buben ins Gesicht zu schlagen; sie wandten sich an den Staat, mit der demütigen Bitte um Arbeit, aber der Staat gab ihnen die Antwort, daß er nicht imstande sei, ihnen zu helfen - und ihr Blick reichte natürlich nicht weit genug, um zu sehen, daß gerade dieser Staat es war, der sie verdarb; - nur müder, hungriger und verbitterter noch als vorher kehrten sie von ihren fruchtlosen Bittgängen um Arbeit bei den Behörden zurück; und wenn der frühe Morgen graute, standen Scharen von ihnen hungernd und furchtbar erregt an den Gittern der Docks, wo alltäglich eine nicht geringe Anzahl kräftiger Hände zum Aus- und Einladen der Dampfer gebraucht wurde. Wem es gelang, sich durch stundenlanges Warten und rücksichtslosen Gebrauch der Fäuste und Ellbogen vorzudrängen und angenommen zu werden, dem war für einen Tag geholfen. Aber - verhältnismäßig wie wenige waren das! Die meisten kehrten, Verzweiflung im Herzen und einen Fluch über dies elende Leben auf den Lippen, zurück zu ihren Leidensgenossen, um zu hören, wozu diese nun rieten - sie hatten ja »nichts zu tun« ...

Seit Wochen schon dauerten ihre Zusammenkünfte; und seit Wochen brachten die Londoner Tageszeitungen, froh, einen neuen Stoff zu haben, um ihre endlosen Spalten zu füllen, lange Aufsätze zu der Frage der »Unemployed«: viel weise Lehren - und keine Spur von Verständnis für die eigentlichen Gründe dieses Elends; viel schöne Worte - und kein einziger Weg der Rettung für die Unglücklichen. Jede unter ihnen wußte ein anderes Heilmittel gegen das Übel und brachte es vor mit dem lächerlichen Ton der Unfehlbarkeit - darin aber waren alle einig, daß es eine Schmach für »ein geordnetes Gemeinwesen« sei, daß dieses verkommene Gesindel sich unterstehe, sein Elend auch noch öffentlich zu zeigen. Mochten sie doch verhungern bei Tag und erfrieren bei Nacht, schweigend da draußen in ihren Winkeln und Löchern, wo man nichts davon sah und hörte; aber so die ästhetischen, zarten Gefühle der guten Gesellschaft durch den nahen Anblick all dieses Jammers und Schmutzes zu verletzen - welche Frechheit! –

Es war an einem Sonntag - dem vorletzten Sonntag dieses unerfreulichen und trüben Monats. Trupp hatte sich entschlossen, seinen freien Nachmittag zu verwenden, um sich von der Ausdehnung und der Bedeutung dieser Zusammenkünfte ein richtigeres Bild zumachen, als er dies aus den Erzählungen seiner Genossen und seiner Mitarbeiter in der Werkstatt zu gewinnen vermochte. Er war in Clarkenwell Green, dem altbekannten Versammlungsort so vieler Parteien und Jahre, um die Mittagsstunde gewesen, hatte dort mit Ingrimm noch einen Teil der Reden mit angehört, und zog nun in einem ungewöhnlich starken Zug von Arbeitslosen, dem eine rote Fahne vorangetragen wurde, den Strand hinunter und auf Trafalgar Square zu. Er hatte noch keinen Bekannten getroffen, war aber mit einem der neben ihm Gehenden in ein Gespräch geraten, als dieser, welcher ihn rauchen sah, ihn um etwas Tabak gebeten hatte, »um den Hunger nicht so zu fühlen«; und ihr Gespräch war (trotzdem Trupp sich nur schwer in Englisch ausdrücken konnte, kaum die eine Hälfte ordentlich verstand und die andere sich erraten mußte von dem, was ihm erzählt wurde) schnell lebhaft geworden, als er dem krank und verwacht Aussehenden in dem nächstliegenden von Lockhardt's Cocoa Shops mit seinen letzten Geldstücken einige Sandwiches gekauft hatte. Er hatte ja noch Arbeit - wie lange noch, das wußte er freilich auch nicht. Es war eine lange, alltägliche Geschichte des Leidens, die jener ihm erzählte: elend bezahlte Arbeit den ganzen Sommer hindurch; plötzliches Aufhören; Stück für Stück des kleinen Hausrats zum Pfandhaus; das Fehlen bald auch des nötigsten Lebensunterhaltes; sein kleines Kind gestorben aus Mangel an Nahrung; die Frau im Arbeitshaus, und er selbst? - »Ich hänge mich lieber auf, als auch dahin zu gehen«, schloß er.

Trupp betrachtete ihn - es war ein intelligent aussehender, schon älterer Mann - und fragte dann:

- Wieviel Unbeschäftigte, glaubt Ihr, gibt es augenblicklich in London?

- Sehr viele! sagte der andere. - Sehr viele! - Sicher mehr als hunderttausend, und wenn Ihr die Frauen und Kinder hinzuzählt, noch viel mehr! Eine halbe Million! Was auf Trafalgar Square zusammenkommt das ist nur ein kleiner Teil, und von dem besteht ein Fünftel dazu noch aus gewerbsmäßigen Bettlern und Herumtreibern, Taschendieben und Tagtotschlägern und hat nichts zu tun mit den Unemployed, welche nur ehrliche Arbeit haben wollen. Aber sie geben uns keine und lassen uns hungern. Wir sind gestern wieder einmal auf dem Board of Works gewesen.

- Was ist das? unterbrach ihn Trupp, der wenig kannte von den verzweigten Einrichtungen der Stadt.

Es ist die Behörde, welche die großen Stadtbauten ausführt - ihre Office ist ganz nah dem Square -; und da war einer unter den Sprechern, der legte klar, daß sie die Themsearbeiten, von denen schon so viel geredet ist, in Angriff nehmen und auf diese Weise sehr vielen von uns Arbeit geben könnten, und ein anderer, der sprach von der Anlegung von Abzugskanälen und der Gründung von Armendörfern in der Nähe von London - aber sie wollen nicht, sie wollen nicht!

Trupp hatte aufmerksam zugehört.

- Und dabei werden in London jährlich zweieinhalb Millionen Pfund Sterling für Armenabgaben aufgebracht; zwei Millionen allein aus freiwilligen Beiträgen. Wo das Geld hinkommt? - Ich wünsche, es zu wissen!

- Ja, sagte Trupp - das and Eure Diener, die Diener des Volkes und die Verwalter seiner Angelegenheiten!

- Und auf dem Polizeiamt sind wir auch gewesen und haben die Antwort erhalten, daß jeder, der beschäftigungs- und obdachlos angetroffen werde und sich weigere, zum Arbeitshaus zu gehen, mit Gefängnis und harter Arbeit bestraft werden wird ...

- Was seid Ihr?

- Ach, ich habe schon viel getan, wenn ich Hunger hatte und meine Arbeit nicht fand. Jetzt war ich bis vor zwei Monaten in einer Konservenfabrik, machte Blechbüchsen, jeden Tag zwölf Stunden, nie weniger, oft aber vierzehn!

- Und wieviel?

- Well, wenn es gut ging, acht, meistens sieben, oft nur sechs Shilling die Woche.

Trupp lebte seit einiger Zeit im East End. Er kannte die Löhne der englischen Arbeiter. Er kannte Familien von acht Personen, welche zusammen nicht mehr als zwölf Shilling in der Woche verdienten, von denen sie vier für ihr Loch von Zimmer zahlen mußten ... Er wußte, daß unter den Streichhölzerschachtel- und Sackverfertigerinnen und in hundert andern Branchen die Hungersnot ständig grassierte.

Die Hungersnot in der reichsten Stadt der Erde! Er ballte die Fäuste.

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