Kitabı oku: «Factory Town», sayfa 2

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2. Kapitel

Weil mich niemand zu bemerken schien und niemand etwas sagte, zog ich die Tür auf und begann, auf einer langen Treppe in die Tiefe hinabzusteigen. Alles war dunkel, und die Stufen liefen hin und her, hin und her, immer weiter unter die Erde. Von den Betonmauern hallten das Fiepen von Ratten und das Knirschen meiner Sohlen wider. Ich hielt die Flamme eines billigen Plastikfeuerzeugs vor mich, aber der eisige Luftzug blies sie immer wieder aus. Vorsichtig trat ich auf die bröckeligen Stufen und hielt mich vorsichtshalber an dem Metallgeländer fest, das aber nach einer Weile im Nichts endete. Als mir das Feuerzeug runterfiel, glich ich einem Blinden, der mit jedem Schritt von einer Betonklippe stürzen konnte.

Beklommen setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg langsam tiefer in den Schacht. Stundenlang ging ich so dahin, meinte ich, war mir jedoch nicht sicher, doch als ich endgültig von Angst und Verzweiflung befallen war, sah ich ein Stückchen vor mir Licht glimmen.

Ich beschleunigte meine Schritte, und kurz darauf war die Treppe zu Ende, und ich stand vor einer morschen, schief in ihren Angeln hängenden Holztür. Ich trat dagegen, und die Tür flog krachend auf. Sie führte in einen Gang, dessen Wände erneut mit wilden Graffiti bedeckt waren und dessen Boden mit Sägespänen, Glasscherben, toten Nagern und Patronenhülsen übersät war. Das Atmen fiel mir schwer, die Luft war muffig, faulig.

Ein Stück weiter mündete der Gang in einen großen Raum, der von einer Reihe Taschenlampen erhellt wurde, die angeschaltet an mehreren Stellen auf dem Boden platziert waren. Die Wände waren verputzt, doch blätterte der Putz großflächig ab und legte die Ziegel frei. In der Raummitte standen fünfundzwanzig bis dreißig Reihen zersplitterter Holzstühle. Der Gang zwischen den Sitzreihen war mit rotem Teppich belegt. Die Kuppeldecke war aufwendig mit Mosaiken verziert, die zwar ausgebleicht, aber noch zu erkennen waren. Am Ende des Raums befand sich ein halb eingestürzter Balkon, der von fünf bis zum Boden reichenden Metallrohren gestützt wurde. Der Raum musste einmal ein Theater oder Kinosaal gewesen sein, aber jetzt gab es weder Bühne noch Leinwand, nur Schutt und Dreck.

Verwirrt und orientierungslos stand ich lange Zeit einfach da. Dann tat ich ein paar Schritte nach vorne. Sobald ich mich vom ersten Schock dieses Anblicks erholt hatte, erkannte ich in dem Verfall eine gewisse Schönheit. Ich atmete langsamer, tiefer, entspannte mich.

Ich ging weiter bis zu den Sitzreihen und nahm Platz. Während ich einfach vor mich hin starrte, zogen die Geister vergangener Tage vor meinem Gesicht vorbei. Sie lächelten fröhlich, nicht traurig. Ich schloss die Augen. Und bald nickte ich ein …

Es war ein traumloser Schlaf. Vielleicht schlief ich auch gar nicht. Ich spürte, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Dann hörte ich eine seltsam vertraute Stimme. Was tun Sie hier, Mister? Wie haben Sie das hier überhaupt gefunden?

Ich drehte mich um und sah einen Jungen, höchstens acht oder neun Jahre alt. Er war als Superheld verkleidet, mit enger schwarzer Hose, rotem Oberteil, gelbem Cape. Auf dem Cape ein großes rotes A aus Klebeband, das sich stellenweise löste. Über dem Gesicht trug er eine schwarze Maske, ein billiges schwarzes Plastikding, das mit einem Gummiband an seinem Kopf befestigt war.

Ich … ich hab dich im Gang gesehen. Da bin ich neugierig geworden und bin dir gefolgt.

Das hätten Sie nicht tun dürfen. Ich hätte Sie töten können. Warum haben Sie das überhaupt getan?

Weil … weil ich mit dir reden wollte.

Dann arbeiten Sie nicht für den Cowboy?

Cowboy? Wer ist denn der Cowboy?

Sie dürfen keinem was von dem Versteck hier sagen, sagte er. Sonst wäre alles kaputt. Unser ganzer Plan.

Nein. Natürlich nicht.

Ohne Anzeichen von Angst setzte sich der Junge auf den Sitz neben mir. Er hatte pechschwarze Haare und einen traurigen Mund. Eins seiner Augen zuckte von Zeit zu Zeit.

Bestimmt bist du der Annullator, sagte ich.

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: Ja.

Gibt’s in der Stadt hier viele schlechte Menschen?

Er nickte.

Aber es gibt auch ein paar gute, oder? Diejenigen, die du beschützt.

Er überlegte kurz. Ein paar schon, sagte er. Aber nicht viele. Jedenfalls mehr schlechte als gute.

Ja, sagte ich. Das scheint überall auf der Welt so zu sein.

Wir saßen lange nebeneinander. Für mich war es sehr seltsam, in einem alten, verfallenden Theater inmitten eines alten, verfallenden Gebäudekomplexes mit dem Annullator zu sprechen. Er war der erste Superheld, dem ich begegnet war.

Wie sieht’s mit Waffen aus?, fragte ich. Hast du welche? Ich meine, du musst doch bestimmt gegen die Bösen kämpfen.

Er nickte. Ja, klar hab ich welche. Ich hab sogar viele Waffen.

Sofort ging er ein paar Sitzreihen nach hinten, griff unter einen Sitz und zog einen Pappkarton hervor, der mit seinem Erkennungs-A verziert war. Darin waren Schilde, Schwerter, Pistolen und Dolche, alle aus Plastik. Ich nickte. Du bist gut ausgerüstet. Jetzt verstehe ich, warum du der Beschützer bist.

Die Waffen sind schon okay, sagte er, aber ich hätte gern eine richtige Pistole und ein richtiges Schwert. Damit würde ich mich sicherer fühlen.

Was ist mit deinen Eltern? Wo sind sie? Wissen sie, dass du hier unten bist? So ein richtig guter Spielplatz ist das hier ja nicht, oder? Schau nur. Überall liegen Glasscherben. Tote Tiere. Patronenhülsen.

Der Junge schüttelte den Kopf. Hier verstecken wir uns nur. Es gibt nämlich nicht nur mich. Wir sind mindestens hundert. Hier unten haben wir unsere eigene kleine Welt. Das ist super. Hier können wir spielen. Murmeln. Räuber und Gendarm. Cowboy und Indianer. Und kein Erwachsener weiß, was wir tun. Das ist unsere eigene kleine Welt, verstehen Sie?

Hundert Kinder, sagst du? Aber wo sind die alle hin? Außer dir seh ich niemand.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Ach, hier gibt’s ganz viele Verstecke.

Wirklich? Warum verstecken sie sich denn?

Er schwieg längere Zeit. Weil sie Angst vor Ihnen haben.

Angst vor mir? Aber dafür gibt’s doch keinen Grund. Ich bin ja grad erst gekommen. Ich bin fremd hier. Die kennen mich gar nicht.

Klar haben sie Angst vor Ihnen. Wieso auch nicht? Wieso sollten sie keine Angst vor Ihnen haben? Sie machen schreckliche Sachen. Sie sind genau wie mein Vater. Sie sehen sogar aus wie er. Sie haben denselben Blick. Mein Vater ist schrecklich. Das sagt jeder. Wissen Sie, was mein Vater gemacht hat?

Ich bin fremd hier, sagte ich. Du kennst mich gar nicht. Und die anderen Kinder kennen mich auch nicht.

Er hat mich an die Heizung gekettet. Weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nur weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nichts als eine Schüssel Wasser hat er mir hingestellt, wie einem Hund. Die anderen Kinder sagen alle, dass das gemein war. Aber noch schlimmer war, was er mit meiner Mutter gemacht hat. Mir hat er wenigstens Murmeln geschenkt. Das war nett. Andere Väter tun nicht mal das.

Im selben Moment bemerkte er das zerknitterte Foto in meiner Hand. Was haben Sie da, Mister? Von wem ist das Foto?

Ich öffnete die Faust und reichte dem Jungen das Bild. Er betrachtete es aufmerksam.

Sie heißt Alana, sagte ich. Sie ist schon vor Jahren verschwunden. Das Bild zeigt, wie sie heute aussehen könnte. Es hat nicht viele Hinweise gegeben. Die Polizei hat die Suche mehr oder weniger eingestellt. Eine Schande ist das. Aber es gibt einfach immer mehr Verbrechen auf der Welt. Jetzt muss ich sie suchen. Schon seit mehr als sechs Jahren such ich nach ihr. Laut meinen Quellen ist sie hier in Factory Town.

Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, sagte der Junge. Ich glaube, ich hab schon mal mit ihr gespielt.

Ich ging in die Knie, sodass ich mit dem Jungen auf Augenhöhe war. Erzähl mir davon. Hast du wirklich schon mit ihr gespielt?

Ja. Na ja, ganz sicher weiß ich’s nicht, aber ich glaube …

Wo? Wann? Das ist sehr wichtig für mich, verstehst du? Jede Information, die ich von dir kriege, hilft mir weiter. Und wenn’s nur ganz wenig ist. Ich hab zwar ein paar Hinweise, aber …

Es war Räuber und Gendarm. Genau, das war’s. Sie war die Neue. Sie wollte eine Prinzessin sein. Aber dann hätten wir nicht spielen können. Die Neuen müssen immer die Räuber sein. Das ist die Regel. Wir haben’s ihr dauernd gesagt. Sie hätte auf uns hören sollen. Wir sind schon länger hier. Wir haben uns das aufgebaut.

Ich drängte ihn weiterzusprechen, aber er konnte oder wollte nicht mehr sagen.

Tu mir bitte einen Gefallen, sagte ich. Wenn du sie wiedersiehst, sag ihr, dass ich nach ihr suche. Ich heiße Russell Carver. Sie kennt meinen Namen.

Er nickte, aber sein Blick war jetzt leer, sein Mund stand offen.

Na gut, ich glaube, ich muss los. Es gibt noch ein paar Hinweise, denen ich nachgehen will …

Inzwischen war der Junge in seiner eigenen Welt. Er stierte vor sich hin, dann erhob er sich langsam von seinem Sitz und ging in den hinteren Teil des Saals. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Schild. Er ging noch ein paar Schritte, dann begann er, wild mit dem Schwert herumzufuchteln. Offenbar war er mit einem der Bösen, von denen er gesprochen hatte, in einen Kampf verwickelt …

Dieser Böse hieß Dr. Devil und gehörte dem Führungszirkel der Roten Allianz an. Er war brutal und ein Bär von einem Mann mit kräftigen, tätowierten Armen, ledriger Haut, üblen Narben im Gesicht, und aus seinem Schädel wuchsen rote Hörner. Er war durch und durch böse – wer könnte je vergessen, auf welch grausame Art er den Leopardenmann umgebracht oder wie er der Blauen Patrone das schlagende Herz aus der Brust gerissen hatte? Nichts wäre ihm lieber, als auch den Annullator in die Liste seiner Opfer einzutragen.

Jetzt ging er mit wildem, ungezügeltem Hass auf unseren Helden los und bombardierte ihn mit Speeren, Dolchen und Feuerkugeln. Aber der Annullator war zu flink für ihn. Mit großer Gewandtheit wich er den Wurfgeschossen aus, schlug Rad und machte Handstandüberschläge, um der Gefahr auszuweichen. Im Hintergrund lief dramatische Orchestermusik. Und dann stürzte sich der Annullator mit der Kraft von einer Million Männern auf Dr. Devil, hämmerte ihm die Faust gegen das Kinn, und der Böse knallte auf den Betonboden. Ohne zu zögern, zog der Annullator, Beschützer von Factory Town, sein Schwert (ein Geschenk von Sir Lancelot höchstpersönlich), drückte dem Feind die Schwertspitze gegen die Kehle und sagte leise, beinahe flüsternd: Zeit zu sterben, Ausgeburt der Hölle.

Aber Dr. Devil lachte nur. Sterben?, sagte er. Dazu hast du doch nicht den Mumm. Verdammt, du konntest nicht mal deine eigene Mutter beschützen. Deine eigene Mutter! Ja, genau, ich war bei euch zu Hause, als sie geschlagen und getreten und gequält und verstümmelt wurde, bis sie nur noch ein Klumpen blutiges Fleisch war. Und du bist bloß danebengestanden und hast geglotzt und dir in die Hose gepisst! Ich war bei euch zu Hause, als sie aufgehört hat zu essen, gehungert hat, bis sie nur noch Haut und Knochen war und gestorben ist. Du bist ein verdammter Feigling, hörst du? Du warst zu feig, dich mit deinem Vater anzulegen, und jetzt bist zu feig, Dr. Devil fertigzumachen.

Aber da lag Dr. Devil falsch.

In einem Ausbruch wilden Zorns rammte der Annullator dem Monster das Schwert in den Hals, ließ es für einen langen Augenblick stecken und riss es dann heraus. Leidenschaftslos sah er zu, wie das Leben aus Dr. Devil herausspritzte. Noch hatte Dr. Devil die Kraft, sich an den Hals zu fassen und die Wunde zuzudrücken, aber es war vergeblich. Nach einer Weile zuckte er heftig, die geschwollene Zunge fiel ihm aus dem Mund, und er lag still da, während seine Seele in die Feuerschlünde gesaugt wurde.

Der Annullator hob sein blutrotes Schwert und schob es zurück in die Scheide. Er wischte sich die Stirn ab und blickte zum Himmel. Lieber Gott, er hat es nicht anders gewollt.

Von dem Schauspiel schockiert, ging ich langsam an dem Jungen vorbei zum Treppenhaus. Er hat mein Gehen gar nicht bemerkt, und wenn doch, sagte er nichts.

3. Kapitel

Ich lief so hastig die Treppe hinauf, dass ich vor Anstrengung außer Atem geriet. Durchs Treppenhaus hallten die merkwürdigsten Geräusche: eine Arien singende Frauenstimme, die Lachkonserve einer Fernsehserie, eine klappernde Schreibmaschine. Zu guter Letzt kam ich an eine Tür, die ich aufstieß, aber sobald ich in den Gang getreten war, merkte ich, dass ich auf einer anderen Etage war. Mit dem vertrauten Gefühl von Angst ging ich ziellos durch den dunklen Gang. Auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Gebäude geriet ich in immer neue Sackgassen und an falsche Türen, und ich wurde immer niedergeschlagener. Mehr als einmal kam ich sogar an eine Tür, die sich öffnen ließ, aber nur um jedes Mal vor einem Vorratsraum oder einer Haustechnikkammer zu stehen.

Auf diese Weise verging viel Zeit, bis ich zu meiner großen Erleichterung den unverkennbaren Schimmer von Licht mit den gespenstergleich aufstiebenden Staubpartikeln sah. Ich drückte die schwere Stahltür auf und trat ins Freie.

Ich atmete auf. Als ich mich umsah, begriff ich, dass ich wieder in der Stadtmitte war, doch jetzt sah alles irgendwie anders aus. Wieder fühlte ich mich wie ein Fremder.

Von außen ähnelte das Gebäude, aus dem ich gekommen war, jetzt einem aufgegebenen Krankenhaus. Drei Stockwerke, grauer Backstein, an jedem Giebelende ein hoher Schornstein. Vom Hauptgebäude gingen Flügel ab, die von absterbendem Efeu überwuchert waren. Viele Fensterscheiben waren zerbrochen, alle vergittert. Hinter dem Komplex erhob sich die Fabrik, ein turmhoher Koloss aus verzogenem Stahl, Laufgittern, gebogenen Rohren und Schloten.

Lange stand ich einfach da und starrte wie gebannt auf die Fabrik. Allem Anschein nach war sie verlassen, aufgegeben, doch dann bemerkte ich im trüben Licht der Mondsichel und der wenigen Sterne dünne Rauchfahnen, die aus den Schloten aufstiegen. Innerlich erschauerte ich, und im nächsten Moment wusste ich, dass mich diese Kälte nie wieder verlassen würde. Je länger ich die Fabrik anstarrte, desto klarer wurde mir, dass darin etwas geschah. Etwas Schreckliches geschah. Alle Geheimnisse der Welt waren hinter diesen Fabrikmauern verborgen, und ich, ich musste herausfinden, was …

Es war spätnachts oder frühmorgens, und ich war hungrig und müde. Ich ging über Straßen voll Schlaglöchern und Gehwege, die übersät waren mit Glasscherben, ausländischen Zeitungen, toten Vögeln und abgetragenen Schuhen. Mein Blick blieb stets auf die Fabrik gerichtet, aber egal wie lange ich ging, immer schien sie außer Reichweite zu bleiben, in weiter Ferne zu liegen.

Ich lenkte meine Gedanken auf mich und dachte an meine Aufgabe, die Suche nach dem Mädchen. Sofort befiel mich die Sorge, man könnte sie in ein Abraumbecken geworfen oder, noch schlimmer, unter Beton begraben haben. In meinen Ängsten gefangen, ging ich gefühlt immer im Kreis durch die Stadt, doch als ich aufsah, war die Fabrik aus meinem Blick verschwunden. Nicht einmal das Stadtzentrum war noch zu sehen. Ich riss mich zusammen und stellte fest, dass ich in einem alten, verkommenen Wohnviertel angelangt war. Es wehte ein kalter Wind, in dem ein paar sterbenskranke Schwarzpappeln träge schwankten. Ich sah eine Reihe dunkler einstöckiger Ranchhäuser mit Vorgärten, die aus nichts als Dreck und Unkraut bestanden. Irgendwo kämpften Katzen auf Leben und Tod. Eine Blechbüchse kollerte über den Gehweg. Sie blieb kurz vor meinen Füßen liegen, dann rollte sie weiter.

Ich hatte mich verlaufen. Ich überlegte, ob ich zu einem Haus gehen und anklopfen sollte, aber ich hatte zu viel Angst, dass jemand die Tür öffnete, der mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet war, während ich nichts hatte.

Plötzlich hörte ich leise Musik. Zuerst hielt ich es für Einbildung, doch als ich weiterging, wurde die Musik lauter, klarer. Es klang wie Doo Wop aus den Fünfzigern, untermalt von Gelächter.

Ich ging schneller. Immer der Musik nach lief ich über einen Rasen, auf dem Bierdosen und Werkzeuge herumlagen. In der Dunkelheit begann ein Pitbull zu bellen und zu knurren. Er stürzte immer wieder auf mich zu und hätte mich am liebsten zerfleischt, aber weil er an einen Pfahl gekettet war, konnte er nichts weiter tun, als sich fast zu erdrosseln. Ich sprang über den Zaun und lief über ein gefrorenes Feld und einen kleinen Graben entlang, bis ich ein großes Farmhaus mit hell erleuchteten Fenstern sah. Von dort stieg die Musik in den Nachthimmel auf.

Mit großen Augen und offenem Mund tat ich einen weiteren Schritt nach vorne, stolperte jedoch und wäre beinahe mit dem Gesicht voran auf das gefrorene Feld gefallen. Als ich mich auf die Knie hochrappelte und umdrehte, sah ich, dass ich über die Beine eines Mannes gestolpert war. Gegen einen Baumstamm gelehnt dasitzend, der Kopf auf die Brust gesunken, sah er aus wie tot.

Er trug einen Overall, aber trotz der Eiseskälte keine Jacke. Es hatte bestimmt einige Minusgrade. Sein Gesicht war bleich und wächsern. Ich robbte neben ihn und sagte: Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Keine Antwort. Ich rutschte näher und tippte an sein Knie. Mister? Nichts. Ich starrte auf seine Brust, seine Schultern, seinen Mund, prüfte, ob er atmete. Nichts.

Ich setzte mich auf, holte mehrmals tief Luft und überlegte. An dieser Stadt war alles merkwürdig, nichts ergab Sinn. Was würde geschehen, wenn ich zu diesem Haus ginge und sagte, dass auf dem Feld ein Toter lag? Würde man womöglich mich für den Mörder halten? In so einer Stadt waren Fremde sicher nicht willkommen, davon konnte man ausgehen. Würde man die Polizei rufen? Einen Krankenwagen? Gab es in dieser Stadt überhaupt eine Polizei?

Mit zitternden Knien stand ich auf. Und genau in diesem Moment fuhr der Kopf des Toten hoch, seine Augenlider klappten auf, und die Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

Meine Güte, Russell, sagte er. Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.

Zu Tode erschrocken sprang ich zurück. Ein paar Sekunden geschah gar nichts. Der Mann grinste bloß. Endlich erkannte ich ihn. Charlie Gardner, ein Freund aus Kindertagen, den ich jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Ich seufzte erleichtert.

Charlie, sagte ich. Was machst du denn hier?

Er grinste weiter, dann schüttelte er den Kopf. Ach, ich hab nur einen Jux gemacht. Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen, und als ich gesehen hab, dass du hier rumläufst, dachte ich, ha, ich erschreck dich mal. Hat ja auch geklappt, was?

Das kann man wohl sagen. Aber ich meinte eigentlich, was machst du hier in Factory Town?

Charlies Augen verengten sich zu Schlitzen, und er schüttelte den Kopf. Wovon redest du da, Russell? Ich bin nie weg aus Factory Town. Na ja, abgesehen von den paar Jahren in der Army. Das war vielleicht ein Höllenritt. Ich sag’s dir, ein echter Höllenritt. Ich hab einen Menschen getötet. Kannst du dir das vorstellen? Mitten in die Brust hab ich ihn geschossen. Ich hätt nie gedacht, dass ich mal einen umbring …

Ich deutete auf das hell erleuchtete Haus. Die Musik und das Lachen waren lauter als zuvor. Was ist da drin los?, fragte ich. Eine Feier?

Eine Feier? Nein, nicht ganz. Unser Kartenabend. Den veranstalten wir jeden Dienstag. Da kommt die halbe Stadt. Sogar die Aasgeier.

Die Aasgeier?

Wir spielen nur um kleine Einsätze, Russell. Schon mit zwanzig Dollar ist man dabei. Sag mal, warum kommst du nicht mit? Ist echt lustig. Gibt hier ja nicht viele Gelegenheiten zum Feiern. Und ich kann dich mit ein paar wichtigen Leuten bekannt machen.

Ich weiß nicht, sagte ich. Vielleicht sollte ich lieber wieder in die Stadt und mir was suchen, wo ich mich aufs Ohr hauen kann. Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen. Ich muss mich ein bisschen ausruhen und dann mit meinen Ermittlungen weitermachen.

Charlie strich seine fettigen blonden Haare zurück und sinnierte eine Weile. Du brauchst einen Schlafplatz? Zum Teufel, Russell, bei mir ist Platz genug, und ich wohn sogar hier in der Gegend. Du kennst doch mein Haus, oder?

Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen. Klar, sagte ich, das kenn ich gut.

Na, dann abgemacht. Wir zocken ein paar Runden und trinken ein paar Gläser White Whiskey, und dann hauen wir uns bei mir aufs Ohr. Jetzt fällt mir ein, du könntest ja bei meiner Mom im Zimmer schlafen. Du erinnerst dich doch an sie, Kumpel?

Na klar.

Sie hat sich ziemlich verändert. Sie ist nicht mehr die Frau, die du kanntest. Sie ist krank, sehr krank.

Das tut mir leid.

Es ist eine Geisteskrankheit. Da kann man nichts machen. Das macht einen völlig hilflos. Ein gebrochenes Bein kriegt man wieder hin, aber wenn was im Kopf nicht mehr stimmt …

Wir gingen langsam auf das Haus zu. Alle paar Minuten blieb Charlie stehen und nahm einen winzigen Schluck aus einem Flachmann aus Metall. Ich sah den Mond hinter Dunst und Nebel verschwinden. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen. Als Charlie erneut das Wort ergriff, sprach er verschwörerisch leise. Sag mal, Russell, bist du je solide geworden? So mit Frau und so?

Ja, Charlie, eine Zeit lang war ich sogar verheiratet.

Aber?

Es hat nicht gehalten. Aber was ist schon für ewig?

Nur die Verdammnis.

Wir erreichten das Haus. Ein halb zusammengebrochener Lattenzaun, von dem die weiße Farbe blätterte, umgab das Grundstück. Die umlaufende Veranda hing durch und war stellenweise verrottet. Die alte Farm war seit Langem sich selbst überlassen und hatte den Widerstand aufgegeben. Aber heute war Hochbetrieb, alles war hell erleuchtet und von Musik und Lachen erfüllt.

Ich folgte Charlie über den Rasen zur Veranda. Dort saßen fünf Männer und eine Frau – sie war zahnlos, und die Haare gingen ihr aus –, tranken Whiskey und sprachen über Autos. Als sie mich sahen, erstarb das Gespräch. Argwöhnisch beäugten sie mich, den Außenseiter.

Charlie sagte: Leute, das ist Russell Carver, ein alter Kumpel von mir. Wir hatten schon viel Spaß miteinander, richtig viel Spaß, das kann ich euch sagen. Er ist eine Weile in Factory Town zu Besuch, und es wäre echt nett von euch, wenn ihr ihn bei uns freundlich aufnehmt. Wie gesagt, er ist ein alter Kumpel von mir.

Freut mich, sagte ich, während sie mir alle gleichzeitig zunickten. Kurz standen wir verlegen da, und keiner sagte etwas, bis einer der Männer, ein klapperdürres Gestell mit nur einem Auge und einem Bein, aber Gott sei Dank zwei Armen, sagte: Und was führt Sie zu uns nach Factory Town, Mister?

Ich untersuche einen Vermisstenfall, sagte ich. Ein Mädchen namens Alana. Sie ist schon eine ganze Weile verschwunden. Ich hab zuverlässige Informationen, dass sie hier ist, in Factory Town. Aber bisher habe ich sie noch nicht gefunden.

Dann sind Sie ein Detektiv?

Eigentlich nicht. Ich –

Ich hab noch nie von ’nem Mädchen gehört, das Alana heißt, sagte ein anderer Mann. Er hatte eine Maiskolbenpfeife im Mund und war bleich wie ein Gespenst. Und so ’nen Namen hätt ich mir gemerkt, drauf können Sie einen lassen.

Ich hab ein Foto, sagte ich. Vielmehr ein Computerbild. So wie sie heute aussehen würde. Wollen Sie’s mal ansehen?

Ich zog das knittrige Foto heraus und reichte es dem dürren Mann, der es an die anderen weiterreichte. Jeder von ihnen nahm es in die Hand, aber niemand sah es an.

Nee, sagte das Gespenst. Keiner von uns hat die gesehen, das ist mal sicher. Besser, Sie suchen woanders weiter. Wie gesagt, ich würd mich erinnern, wenn ich sie gesehen hätt. Hab ich aber nicht. Hat keiner von uns.

Sie haben doch nicht mal einen Blick auf das Foto geworfen, sagte ich. Kein Einziger von Ihnen.

Also, das ist nicht richtig, sagte der Dürre. Wir haben’s alle angesehen, selbstverständlich haben wir das.

Sie ist in Gefahr, sagte ich, in großer Gefahr, und ich kann sie nicht retten, wenn hier alle etwas vor mir verbergen oder jemanden schützen.

Es herrschte längeres Schweigen, ehe die Frau das Wort ergriff: Mr. Carver, wir verbergen gar nichts. Hier gibt’s nichts zu verbergen. Im Gegenteil, Sie sind’s doch, der was verbirgt. Halten Sie sich nicht für oberschlau. Wir haben Sie längst durchschaut. Jeder mit ein bisschen Grips kann das.

Ich riss der Frau das Foto aus der Hand und steckte es zurück in meine Jackentasche. Ich war wütend, aber ich beherrschte mich.

Wir haben alle unsere Geheimnisse, sagte ich, und das schien dieses Pack zu besänftigen. Charlie nahm mich an der Schulter, und wir gingen über die Veranda zur Fliegentür, die schlaff in ihren Angeln hing und auf und zu schlug, und dann traten wir ins Haus.

Drinnen waren unzählige Menschen, die herumstanden und Bier und Whiskey tranken, sich gegenseitig auf den Rücken klopften oder ungelenk tanzten. Die Musik, von der ich gedacht hatte, sie käme aus dem Radio, stammte von vier a cappella singenden Schwarzen in identischen lila Anzügen auf einer improvisierten Bühne.

Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass es weder Möbel noch Teppiche oder Fotos gab. Mehrere Fenster waren eingeschlagen. Kühlschrank und Herd in der Küche waren irreparabel kaputt. Beide hatten keine Türen mehr, Drähte und Kabel lagen offen und standen in alle Richtungen ab.

Charlie führte mich herum und stellte mich Leuten vor, deren Namen ich im selben Moment, in dem er sie sagte, wieder vergaß. Ich holte mir eine Coca-Cola aus einem Schrank und mischte mich unter die Menge. Ohne zu wissen, was ich tun sollte, stand ich unschlüssig herum.

Schließlich setzte ich mich erschöpft in eine Ecke, hörte der Musik zu und trank meine Cola. Leute gingen an mir vorbei oder stiegen über mich drüber. Ich zog das Foto heraus und betrachtete es erneut. Auf einmal bemerkte ich, dass sich das Foto verändert hatte. In Alanas Gesicht, auf dem lange Zeit ein Ausdruck unschuldiger Freude gelegen hatte, war blankes Entsetzen getreten, ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr Mund hatte sich zu einem stummen Schrei geöffnet. Und wenn man genau hinsah und das Foto lange anstarrte, erkannte man direkt hinter dem Mädchen die unscharfe Silhouette eines Mannes.

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