Kitabı oku: «Factory Town», sayfa 3

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4. Kapitel

Meine Hoffnung versiegte schnell, und ich stieg von Cola auf Whiskey um. Jetzt griffen die Schwarzen zu Instrumenten, und aus dem Doo Wop wurde Swamp Blues. Es klang schaurig, klang nach Skeletten, die auf einem Schiffsdeck herumklapperten, und das Tanzen wurde hektischer, die Körper zuckten wilder. Die Männer stampften auf dem Boden auf und feuerten mit alten mexikanischen Revolvern in die Luft. Frauen knöpften die oberen Kleiderknöpfe auf und legten schweißnasse Dekolletés frei. Acht oder mehr Leute fielen ohnmächtig zu Boden, und um den Raum zu durchqueren, musste ich über ihre Körper steigen. Ein blonder Mann mit Indianerkopfschmuck packte und umarmte mich, eine Zigeunerin, die eine lebende Kobra trug, steckte mir ihre Zunge in den Mund. Alles begann sich um mich zu drehen.

Vor meinen Augen spielten sich seltsame Szenen ab. Ich sah schöne junge Frauen, die aus einer Getränkedose Kinnikinnick rauchten. Ich sah zwei alte Männer, die sich Scopolamin in den mit einem Gürtel abgebundenen Arm spritzten. Ich sah, wie ein Transvestit einem Zwerg den Schwanz lutschte, ein religiöser Fanatiker Glas zerkaute, ein Schwertschlucker aus dem Mund blutete. Bücher, die auf einem improvisierten Scheiterhaufen in orange Flammen aufgingen, anstößige Bilder, die mit einem rostigen Nagel zerfetzt, Geigen, die mit einem Schlagstock zertrümmert wurden. Ich sah, wie in die Augen aller Anwesenden Wahnsinn trat: bei dem Mann mit hundert Piercings, bei der Frau mit dem Totenschädelgesicht, bei dem Mädchen mit dem gehetzten Lächeln usw. usw. Ich sah Hemmungslosigkeit, Hunger und Verzweiflung. Ich sah menschlichen Verfall.

Ich war verloren, verloren, immer schon verloren.

Charlie Gardner kam hinter einem Vorhang hervor, als hätte er sein ganzes Leben dahinter zugebracht, und sagte: Da gibt’s ein paar Leute, die solltest du kennenlernen. Sie warten schon auf dich.

Auf mich wartete jemand? Das war unmöglich. Hier kannte mich niemand. Ich war fremd.

Ich folgte Charlie eine gewundene Treppe hinauf, die von Zechern und Lüstlingen bevölkert war. Manche deuteten lachend mit dem Finger auf mich. Andere schüttelten nur seufzend den Kopf. Es gab kaum genug Platz auf den Stufen, immer wieder trat ich auf fremde Füße, stieß gegen Knie oder warf Getränke um.

Als wir endlich oben waren, schloss Charlie hinter mir die Tür. Plötzlich war es ganz still, das Geschrei, das Lachen und die Musik waren verstummt. Wir gingen durch einen langen Gang. Von der Decke troff Wasser. Eine Tür wurde aufgerissen, und eine Frau taumelte aus dem Zimmer. Sie hatte kurze, ungekämmte schwarze Haare, ihr vom Wind rissiges Gesicht war voll Häme. Sie trug ein kurzes, völlig zerschlissenes Blumenkleid und hatte nur noch einen ihrer hochhackigen Schuhe an. Neben ihr ging ein junger Mann in einem noch desolateren Zustand. Er war barfuß und mit nacktem Oberkörper, und über sein Gesicht hingen lange, dreckstarrende Haare. Er paffte eine dünne Zigarre. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden.

Was schaust du so, Nigga?, sagte er.

Nichts, sagte ich. Ich schau nirgends hin.

Er und die Frau gingen weiter, aber er blieb alle drei oder vier Schritte stehen und drehte sich um, um mich feindselig anzustarren. Sein Mund formte Worte: Ich kenn dich.

Charlie öffnete eine weitere Tür, und wir traten in einen völlig verqualmten Raum. Der Boden bestand aus blanken Dielen, die Wände aus roten Ziegeln. In der Raummitte lag eine lange rostige Metallplatte auf Böcken aus Whiskeykisten. Um diesen Behelfstisch saßen drei Männer auf Plastikgartenstühlen und spielten Karten. Sie sahen nicht auf, als wir eintraten, und auch nicht, als Charlie mich vorstellte.

Ein Mann war groß und zaundürr, und seine langen schwarzen Haare hingen ihm über die Augenbrauen ins blasse, kränkliche Gesicht. Auf seinen Schläfen standen Schweißperlen. Der zweite Mann war viel kräftiger, mit breiter Brust und kantigem Kinn, und er hatte starken Bartwuchs, der seinen seit vermutlich einer Woche nicht mehr getrimmten Hufeisenbart zu überwuchern begann. Der dritte war ein kleiner Alter mit schütteren weißen Haaren und einer Brille, die am Ende seiner roten Knollennase balancierte.

Der Doktor, der Sheriff und der Pfarrer, flüsterte Charlie mir zu. Klingt wie der Anfang eines blöden Witzes, was?

Schweigend spielten sie Karten. Mir war nicht klar, welches Spiel. Jeder starrte lange auf seine Hand, und ab und zu nahm einer von ihnen eine Karte vom Stapel und legte eine andere weg. Poker war es nicht. Blackjack ebenfalls nicht. Es war kein Spiel, das ich schon gespielt hatte.

Im hinteren Teil des Zimmers fing ein Telefon an zu läuten. Keiner reagierte. Es läutete und läutete, mindestens fünfzehn Mal. Keiner rührte sich.

Schließlich ergriff der mit dem Stetson (der Sheriff?) das Wort: Also das ist der Neue? Dabei blickte er nicht auf, sondern starrte weiter auf seine Karten – Karoass, Herzdrei, Kreuzacht, Herzzehn und Pikbube.

Er heißt Russell Carver, sagte Charlie. Wir kennen uns schon ewig. Stimmt doch, Russell?

Ich nickte. Ja.

Jetzt sprach der Alte. Setz dich, Russell. Mach’s dir bequem. Ich warf einen Blick auf seine verkrümmten Hände. Jeder Finger war tätowiert: JESUS LIVES. Der Kirchenmann.

Weil ein Stuhl frei war, setzte ich mich darauf. Charlie blieb stehen. Das Telefon läutete wieder, diesmal aber nur zwei Mal, ehe es verstummte. Der kränklich aussehende Doktor gab auch mir Karten aus. Spielten sie wirklich, oder tauschten sie die Karten nur aus Langeweile? Drei Könige und zwei Damen. Die Männer starrten mich an. Ich ließ einen König auf den Metalltisch fallen und zog eine Karovier.

So ging es eine ganze Weile. Wir spielten Karten, ohne dass einer sprach. Das Spiel lief weiter. Es würde keinen Gewinner geben. Das Spiel lief weiter. Und das Telefon läutete wieder.

Schließlich ein Gespräch. Der Doktor redete. Er sprach mit hoher näselnder Stimme. Er schwitzte stark und schien auf einem Auge schlecht zu sehen. Diese Stadt, sagte er, ist nichts für schwache Nerven. Hier gibt es viel … Unglück.

Ich konzentrierte mich auf meine Karten und sagte nichts.

In der Tat, sagte der Pfarrer. Manchmal frage ich mich, ob Factory Town nicht eine Art Purgatorium ist. Manchmal frage ich mich, ob es nicht die Hölle ist. Dann lächelte er. Aber nein, das kann nicht sein. Schließlich sind wir ja alle am Leben, nicht? Menschen aus Fleisch und Blut. Sogar die Aasgeier sind lebendig. Stimmt doch, Esteban?

Ich hob den Kopf und sah den Mann, den er ansprach, in einer Zimmerecke kauern. Ihn hatte ich bisher nicht bemerkt. Er war in Lumpen gekleidet wie ein Bettler. Langer schwarzer Bart und lange fettige Haare. Überall auf seiner Haut waren Wunden, und seine Augen traten stark hervor. Obwohl er hochgewachsen war, konnte er kaum mehr als fünfzig Kilo wiegen. Gierig nagte er an einem Stück Fleisch, die wertvolle Nahrung mit seinen Armen schützend. Als der Pfarrer ihn ansprach, grunzte er nur kurz.

Die Karten spielenden Herren sahen sich wissend an. Dann schob der Sheriff seinen Hut nach hinten und sagte: Sind Sie Esteban schon begegnet, Mr. Carver? Einer der Besten aus Factory Town.

Nein, Sir, sagte ich.

Komm mal her, Esteban, sagte der Sheriff. Ich will dich Russell Carver vorstellen.

Der Bettler reagierte nicht und riss weiter mit den Zähnen an seinem Fleisch. Der Sheriff schob den Stetson noch weiter nach hinten und zog seinen Smith & Wesson. Er spannte den Hahn und richtete die Waffe auf Esteban. Komm her, Alter, sonst verteil ich dein verdammtes Hirn über diese roten Ziegel.

Der zerlumpte alte Mann überlegte kurz, ehe er sich auf die Beine mühte. Das Stück Fleisch in den Armen wiegend, versuchte er das Gleichgewicht zu halten und ging langsam zum Tisch. Der Sheriff zog einen Stuhl heran, und der Bettler setzte sich.

Esteban schaukelte vor und zurück und brabbelte unsinniges Zeug. Der Doktor klopfte ihm auf die Hand, sah aber mich an. So eine Tragödie, sagte er. Sich in diesen Zeiten Lepra einzufangen. Wir haben ihn mit Quecksilber und Schlangenfleisch behandelt, aber vergebens.

Ist er ansteckend?, fragte ich.

Wir sind alle ansteckend, sagte der Doktor.

Der Sheriff warf seine Karten auf den Tisch und deutete mit dem Kopf auf den Leprakranken. Jetzt schau dir dieses Stück Dreck an, sagte er. Mampft fröhlich vor sich hin, ohne an unseren Gast zu denken. Sie haben doch Hunger, Mr. Carver?

Ja, sagte ich. Seit ich hier bin, habe ich keinen Bissen gegessen.

Es ist schwer, hier an Essen zu kommen, sagte der Pfarrer. Keine Landwirtschaft. Keine Viehhaltung. In Factory Town wird eine Dose Bohnen in Gold aufgewogen.

Hast du das gehört? Der Sheriff packte den Leprösen an der Schulter und grub ihm die Finger so fest ins Fleisch, dass der vor Schmerz aufschrie. Unser Gast hat Hunger. Wie wär’s, wenn du ihm was abgibst?

Esteban wand sich unter dem Griff des Gesetzeshüters. Das ist meins, sagte er. Mein Essen.

Er hat Hunger, sagte der Sheriff. Außerdem isst er dir ja nicht das ganze Essen weg, also entspann dich. Nur ein paar Bissen.

Kopfschüttelnd starrte ich das blutige Stück Fleisch an. Ich halt’s schon noch aus, sagte ich. Ich will keinem was wegnehmen.

Der Sheriff funkelte mich böse an und schnauzte: Sie essen jetzt was. Verdammt noch mal, Sie essen jetzt.

Und dann lag im Handumdrehen ein Stück blutiges Fleisch auf einem Blechteller. Dabei hatte der Pfarrer gesagt, es gäbe in der Stadt keine Viehhaltung.

Sie essen jetzt, sagte der Sheriff wieder. Scheiße, bis zum letzten Bissen werden Sie diese Delikatesse aufessen.

Dann ging alles ganz schnell. Ehe ich reagieren konnte, packten mich der Pfarrer und der Doktor und zerrten mir die Arme auf den Rücken, während der Sheriff einen Fetzen Fleisch abriss und mir in den Mund stopfen wollte. Aber wie ein widerborstiges Kleinkind presste ich die Lippen aufeinander und trat um mich. Obwohl mich zwei Mann festhielten, konnte ich mich losreißen und wollte mich gerade vom Stuhl erheben, als mein alter Freund Charlie eingriff. Mit vereinten Kräften warfen er, der Pfarrer und der Doktor mich auf den Boden und fixierten mich. Der Sheriff trat dazu, spannte den Hahn seines Revolvers und zielte auf meine Stirn. Da gab ich den Widerstand auf.

Unterdessen war der Bettler außer sich darüber, dass sein Essen gestohlen worden war. Er sprang herum und warf die leprösen Arme in die Luft. Dazu schrie und stöhnte er.

Der Sheriff, der verdammte Schweinehund, ging in die Hocke und befahl mir, den Mund aufzumachen. Kurz sah ich ihn an, aber er hielt die Waffe weiter auf mich gerichtet, sodass ich den Mund öffnete, um mir das blutige Fleisch hineinstopfen zu lassen. Sehen Sie’s als Initiation, sagte er.

Ich kaute langsam und verächtlich, während die Männer mit einem grotesken Lächeln auf mich herabsahen. Esteban weinte. Das Fleisch schmeckte grauenhaft – wahrscheinlich war es bereits verdorben –, aber am Ende gelang es mir, es ohne Würgen zu schlucken. Als ich es geschafft hatte, half mir Charlie auf die Beine und rieb mir die Schulter. Sie alle lachten, als wäre das Ganze ein einziger Riesenscherz.

Habt ihr sein Gesicht gesehen?, sagte der Doktor. Unbezahlbar.

Eigentlich hat er’s besser gemacht als die meisten, sagte der Sheriff. Das muss man ihm lassen.

Ich hab doch gesagt, dass er ein guter Typ ist, sagte Charlie. Einer vom alten Schlag.

Gut, der Mann, pflichtete der Pfarrer bei.

Allerdings stand mir der Zorn wohl ins Gesicht geschrieben, denn Charlie sah mich an und sagte: Komm schon, Russell, ist doch nichts dabei. Diesen kleinen Scherz machen wir bei allen Fremden. Das bisschen Fleisch schadet dir nicht, keine Sorge. Ist ja nur Straußenfleisch. Das ist doch keine große Sache, also hab dich nicht so.

Während Charlie dahinfaselte, fiel mir Alana wieder ein. Der Gedanke schnürte mir den Hals zu. Ich spielte Karten und aß Straußenfleisch, während das kleine Mädchen in Lebensgefahr war (wenn nicht schon tot). Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Alles war falsch. Ich griff in meine Hosentasche und zog das Foto heraus, um es wie ein Kruzifix zu reiben.

Was haben Sie denn, Russell?, sagte der Doktor. Sie sehen aus, als ginge es Ihnen nicht gut.

Das Bild eines Mädchens, sagte ich. Alana heißt sie. Sie ist verschwunden. Und in Gefahr.

Na klar, sagte der Sheriff. Wir alle kennen sie, die kleine Alana. Selbstverständlich. Meine Leute untersuchen zur Stunde ihr Verschwinden. Machen Sie sich keine Sorgen. Die finden wir schon, verlassen Sie sich drauf …

In genau diesem Moment hörte ich auf dem Gang Schreie. Die Männer sahen sich an, unternahmen jedoch nichts, als die Augenbrauen hochzuziehen und den Kopf zu schütteln. Das Kreischen ging weiter.

Was zum Teufel ist da los?, fragte ich.

Nichts, sagte der Pfarrer. Bleiben Sie einfach bei uns. Machen Sie sich keine Gedanken über das Geschrei. Da hat nur ein Mädchen ihren Spaß, das ist alles. Die Stadt ist ein großer Sündenpfuhl, das kann ich Ihnen sagen.

Einen Augenblick stand ich da und überlegte. Dann stürzte ich zur Tür.

5. Kapitel

Der Gang war jetzt mit Menschen gefüllt, aber sie alle waren still, standen an die Wand gelehnt da und blickten in dieselbe Richtung. Es waren unverkennbar die Schreie einer Frau, aber sie schrie vor Schmerz, nicht vor Lust. Keiner der im Gang Herumstehenden machte Anstalten, dem Aufruhr nachzugehen. Vielmehr schüttelten sie missbilligend den Kopf, als ich durch den Gang rannte, sahen sich an und begannen zu murren. Bei einem Blick über meine Schulter sah ich, dass der Sheriff und seine Spielkumpane aus dem Kartenzimmer gekommen waren. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte mir nach, ohne die Miene zu verziehen oder etwas zu meiner Unterstützung zu unternehmen.

Dann hörten die Schreie auf. Plötzlich war es vollkommen still. Ich verlangsamte meine Schritte, ging aber weiter, um die bedrohte Frau zu finden. War sie so übel zugerichtet worden, dass sie nicht mehr schreien konnte? Ich drehte mich wieder um. Die vielen Leute, die eben noch an der Wand gelehnt hatten, waren auf einmal verschwunden, entweder ein Stockwerk tiefer oder in eines der angrenzenden Zimmer gegangen. Ich war allein. Als ich weiterging, bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein Foto an der Wand. Ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, der ein verächtliches Gesicht schnitt. Hinter dem Jungen waren eine Schaukel aus Metall und ein Meer aus Gras zu sehen, ein unendliches Meer aus Gras. Und der Junge auf dem Bild war ich.

Ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann dieses Foto aufgenommen worden war, aber das Foto selbst kannte ich. Mein Blick glitt über die restliche Wand. Weitere Bilder von mir und meiner Familie. Als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich an der Decke die wohlvertrauten Fliesen mit Blumenmuster. Jetzt wurde mir klar, dass ich im Haus meiner Kindheit war. Ich hatte es nicht erkannt, weil es in einem so desolaten Zustand war, aber inzwischen sah ich immer klarer, und weitere Erinnerungen stellten sich ein. Wie ich stundenlang mit meinen heiß geliebten Superheldenfiguren spielte, die ich die Wände hochklettern ließ, um alles Böse um uns zu vernichten. Wie ich in der Kinderzimmerecke saß und Abenteuergeschichten schrieb und mit meinen Buntstiftstummeln illustrierte. Wie ich meine geliebten Comics las: Spiderman, Batman, Superman, die Fantastischen Vier und … So viele Stunden allein. Weil meine Mutter krank war. Weil mein Vater … Neuerliche Schreie rissen mich aus meinen Gedanken.

Sie kamen aus dem Zimmer direkt vor mir. Lauter als zuvor. Und zwischen den Schreien und dem Japsen nach Luft Rufe um Hilfe, Hilfe. Ich wollte den Türknauf drehen, aber die Tür war abgesperrt. Ich klopfte dagegen, immer fester und lauter, bis meine Hände schmerzten. Keine Antwort, nur weitere Schreie. Eines war klar: Außer mir würde niemand dieser Frau helfen. Sie würden sie sogar sterben lassen. Ich begann, gegen die Tür zu treten, doch sie war massiv und gab nicht nach. Ich fühlte mich hilflos. Wieder trat ich gegen die Tür, schlug mit den Fäusten dagegen und schrie: Ist da drin alles okay? Halten Sie durch, verstehen Sie?

Die Zeit verstrich, ich wurde heiser und meine Hände bluteten, aber das Schreien hörte nicht auf. Sie würden sie sterben lassen. So war das in Factory Town.

Nach einem weiteren Tritt flog die Tür auf und knallte gegen die Zimmerwand. Ich trat in einen Raum, dessen Boden mit Kleidungsstücken, Flaschen und Ampullen übersät war. Auf zerschlagenen Möbelstücken lagen Spieldosen, Zeitschriften und alte Puppen, die mich mit toten Augen ansahen. An der Wand Gemälde mit einer Wüstenszenerie und ein alter Kalender mit Kitschlandschaften. Das Fenster stand offen, und der weiße Vorhang flatterte panisch im Wind.

Auf dem Bett war ein Mann von gewaltiger Leibesfülle, mit einer riesigen Wampe und langen, schütteren schwarzen Haaren, die er zu einer seltsamen Resttolle aufgetürmt hatte. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Unter ihm lag eine Frau, die nichts anderes anhatte als Wintersocken. Ihr Gesicht blutete stark, ihre Nase war eingeschlagen, und ihre Augen waren so tot wie die ihrer Puppen.

Sie war in einem erbärmlichen Zustand und stöhnte und weinte, während der Mann sie gleichzeitig fickte, schlug und würgte. Wenn ich nicht dazwischenging und ihr half, würde sie zweifellos sterben. Ich musste den Mann von ihr ziehen, aber urplötzlich war ich wie gelähmt. Ich konnte mich überhaupt nicht rühren. Seltsamerweise nahm mich keiner der beiden wahr. Ich wollte rufen, brachte aber nichts als ein Gurgeln heraus, das in dem Stöhnen, Weinen und Schreien unterging. Ich hatte keine Gewalt über meinen Körper, und zuletzt fiel ich sogar zu Boden. Der Mann drehte die Frau um und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Auf ihrem Rücken war eine riesige Tätowierung: ein wunderbarer Phönix, der sich vor einer strahlenden Sonne aus der Asche erhob. Die Frau rang nach Luft, und als sie mit den Armen wild um sich schlug, griff er auf den Nachttisch, nahm eine brennende Zigarette und drückte sie auf ihren unteren Rücken. Sie bäumte sich vor Schmerz auf, aber er presste sie wieder nach unten und brannte sie noch drei- oder viermal, ehe er die Zigarette an der Wand auslöschte und auf den Boden warf.

Ich lag auf dem Bauch, und weil ich in den Beinen kein Gefühl mehr hatte, begann ich, wie ein verwundeter Soldat auf die Arme gestützt zu robben, kam aber nur langsam vorwärts. Der Mann setzte sich im Bett auf, strich sich mit einer Handvoll Dixie-Peach-Pomade die Haare zurück und stülpte einen verknautschten Cowboyhut darüber. Dann packte er eine Wodkaflasche am Hals und nahm mit auf und ab hüpfendem Adamsapfel einen großen Schluck. Die Frau rollte sich klein zusammen. Das Kissen war von Blut und Tränen feucht.

Eine ganze Weile blieben beide so, wie sie waren, er auf dem Bett sitzend, Wodka trinkend und Zigaretten rauchend, sie in Fötusstellung auf den Laken eingerollt. Allmählich schwoll ihr Gesicht zu.

Schließlich begann er, mit tiefer, rauer, heiserer Stimme zu sprechen: Mir macht das ja auch keinen Spaß, sagte er, aber manchmal kann ich einfach nicht anders.

Die Frau gab keine Antwort, schluchzte weiter.

Er rückte seinen Cowboyhut zurecht und nickte. Ed hat mir erzählt, dass du mit dem Jungen von der Tankstelle rummachst. Dass du dich von ihm befummeln und küssen lässt. Aber du bist meine Frau, verdammt noch mal. Du hast was geschworen, ein Versprechen gegeben. Mir macht’s keinen Spaß, dir wehzutun. Aber in diesem Haus ist kein Platz für Huren. Für Huren setzt’s Prügel. Das ist nur gerecht.

Damit erhob er sich vom Bett und ging zum Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf und begann, sich mit einem Stück schwarzer Seife die Hände zu schrubben. Er schrubbte und schrubbte, bis ich sah, wie seine Hände rot und wund wurden. Diese gottverdammte Stadt, sagte er. Diese gottverdammte Fabrik. Man kriegt den Gestank überhaupt nicht mehr von den Händen …

Ich lag noch am Boden und bemühte mich verzweifelt weiterzukriechen, aber jetzt wurden auch meine Arme und mein Rückgrat taub. Es war teuflisch.

Das kommt nur von der Chemie, die diese Fabrik ausspuckt, sagte der Mann. Garantiert. Die macht uns alle verrückt, die lässt uns diese schrecklichen Dinge tun. Eigentlich will ich dir überhaupt nicht wehtun. Das glaubst du mir doch, Nicole, oder? Verzeihst du mir?

Die Frau, Nicole also, streckte sich wieder aus und rollte sich auf den Rücken. Ihr Gesicht war ein grauenhafter Anblick, geschwollen und blutig. Ich verzeih dir, sagte sie. Es war nur ein Flüstern. Natürlich verzeih ich dir. Du bist ausgerastet. Wir rasten alle mal aus. Aber glaub mir, Cory Packer. Ich hab nie mit diesem Jungen rumgemacht. Ich war dir immer treu. Wenn Ed was anderes gesagt hat, dann hat er gelogen.

Cory schüttelte den Kopf. Das überrascht mich nicht. Der Kerl ist einfach ein Sprücheklopfer. Der denkt sich so Zeug aus. Ich hätte nicht auf ihn hören dürfen.

Ich hab nie mit dem Jungen rumgemacht, sagte sie noch einmal.

Cory lief zurück zum Bett, wobei er über meine ausgestreckten Arme stieg, und setzte sich darauf. Er zog seine Frau hoch und umarmte sie, streichelte ihre blonden Haare und küsste die blutige Stirn. Ich tu’s nie wieder, sagte er. Ich schlag dich nie wieder. Nie, nie mehr. Hörst du? Glaubst du mir das?

Lange Zeit saßen sie einfach da. Alles war still, nur der Vorhang wehte, und wenn man das Blut und die Schwellungen auf dem Gesicht der Frau ignorierte, die ihr Mann zu verantworten hatte, waren sie ein Sinnbild häuslichen Friedens.

Jetzt kehrte auch das Leben in meinen Körper zurück, die Lähmung verschwand. Ich ging auf alle viere und fing an, zur Tür zu krabbeln. Allerdings übersah ich eine zerbrochene Bierflasche auf dem Boden, und eine Scherbe bohrte sich tief in meine Handfläche. Ich stöhnte. Cory fuhr auf. Wer zum Teufel ist da?, rief er. Junge, bist du das? Schnüffelst du schon wieder hier rum, du rotznasiger kleiner Nichtsnutz?

In einem Anfall von Panik drückte ich mich erneut flach auf den Boden, rollte unters Bett und hielt den Atem an.

Cory stand vom Bett auf, und ich sah ihn im Zimmer auf und ab gehen. Wo bist du, Junge? Ich weiß, dass du hier bist. Komm raus, damit ich dir deinen verdammten Hintern versohle. Fluchend zerrte er den Vorhang weg und riss die Schranktür auf. Dann ging er auf die Knie und spähte unter das Bett. Sein Gesicht war rot angelaufen und wutverzerrt, aber ich hatte mich gut unter den mottenzerfressenen Decken versteckt.

Nicoles Stimme: Bitte, Cory. Lass ihn in Ruhe. Er hat doch nichts getan.

Von wegen nichts getan! Wir alle haben was getan! Vor Gott sind wir alle Sünder! Und vor mir sind auch alle Sünder! Komm raus, Junge! Wo versteckst du dich? Ich weiß, dass du hier bist, du Schwachkopf. Den ganzen Tag rennst du mit diesem Cape rum. Und mit dieser dämlichen Maske. Wen, meinst du, kannst du retten, he? Wen willst du retten? Du kleiner Mistkerl. Du jämmerlicher kleiner Mistkerl.

Aber nach einer Weile wurde er müde und verlor die Lust, mich zu suchen. Stattdessen kroch er zurück ins Bett, das unter seinem Gewicht durchhing. Dann lachte er, laut und dreckig.

Was lachst du jetzt?, fragte Nicole. Was ist denn auf einmal so lustig?

Ach, nur wegen einem Witz, den ich gehört habe, sagte er.

Ich blieb lang unter dem Bett, vielleicht sogar stundenlang, bis ich den Alten schnarchen hörte, laut und dröhnend. Erst dann kroch ich darunter hervor und stand auf. Mein Kopf war benebelt, und meine Hände zitterten.

Cory schlief wie tot. Seine Augen waren nach hinten in die Höhlen gerollt, sein schlaffer Mund stand offen. Aber Nicole war wach. Unsere Blicke trafen sich, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schüttelte sie bloß den Kopf und schloss die Augen. Mit einer Hand rieb sie sich dort, wo sich eine kleine Wölbung befand, sanft über den Bauch. Ich fühlte mich zugleich gut und schlecht. Schließlich schlich ich aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir.

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