Kitabı oku: «Unverglüht», sayfa 2
»Nein«, tönt die tiefe Stimme hinter dem Vorhang, »habe ich nicht. Viel zu wenige, wenn man es genau nimmt. Die Geschäfte laufen nicht gut. Heutzutage brauchen die Menschen keine Manufakturen mehr. Sie kaufen lieber billig.« Der Mann kehrt zum Tisch zurück. »Da muss man schon etwas Besonderes herstellen, um noch ausreichend Zulauf zu haben.« Während er sich setzt, sieht er auf die Tasse in Sarahs Hand. »Oh, du hast schon begonnen, Kindchen? Wartet man da nicht?« Er zieht die Augenbrauen nach oben.
Pah, denkt Sarah entrüstet, und beinahe hätte sie es laut gesagt. Wenn hier jemand auf höfliche Umgangsformen hinweisen müsste, dann wäre das ganz klar ihr Part. Wer hatte sie denn in Strümpfen durch die Werkstatt geschickt? »Mir war kalt«, rechtfertigt sie sich, und schon mit dem letzten Wort ärgert sie sich, auf ein deutliches Kontra verzichtet zu haben.
»Weißt du, dass du in dieser Woche bislang die Einzige bist, die sich in meine Werkstatt verirrt hat?«
Sarah lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Sieht das an den Wänden gestapelte Material. Überwiegend schwarz, was einen Teil der dunklen Atmosphäre der Werkstatt verantwortet. Aber in wenigen Fächern der Regale lagern auch weiße, rote und sogar blaue Rollen. »Etwas Besonderes?« Ihr fällt nichts ein, was in dem langen Flur zwischen Tür und Werkstatt ihre Aufmerksamkeit erreicht hätte. Riemen und Gürtel. Kurze, lange. Mit vielen Löchern, mit wenigen. Mal genietet, mal gestanzt. Nichts Außergewöhnliches für eine Ledermanufaktur, findet sie. Abgesehen von dem wundervollen Duft und dem Gefühl der Berührung. Das einzig Besondere an dieser Manufaktur scheint ihr Besitzer zu sein.
»Wie viel Zeit hast du mitgebracht, Sarah?« Der Mann greift zu seiner Teetasse, lehnt sich wieder zurück in seinen Thron.
Sarah überlegt. Es ist noch Vormittag. Sie hat sich nichts mehr vorgenommen heute, müsste sich aber noch etwas zu essen besorgen und sollte nicht zu spät ins Bett gehen. Sie wird den Tag allerdings auf keinen Fall vollständig in einer düsteren Lederwerkstatt verbringen. »Bis die Schuhe trocken sind«, sagt sie diplomatisch.
»Gut«, sagt Herr Conrad. »Dann will ich dir etwas erzählen, Kindchen.« Er umgreift die Tasse mit beiden Händen und lehnt sich zurück. Es scheint, als wolle er es sich für längere Zeit gemütlich machen. »Dafür hast du doch Zeit, oder?«
Sarah nickt. Sie zieht die Füße noch ein wenig zu sich und lehnt sich in die Sofaecke. Hier drinnen ist es allemal bequemer als draußen. Nässe, Kälte, Mäntel und Regenschirme gegen Rooibostee, Cognacduft und Ledergeruch. Ein guter Tausch, findet sie. Jedenfalls für den Moment. Warum also keine Geschichte, bis die Schuhe trocken sind.
Kapitel Drei
»Stell dir einen Tag wie diesen vor«, sagt Herr Conrad zu Sarah, und Sarah nickt.
Kalt war es und so unfreundlich, wie es im Dezember nur sein kann. Es war bereits Abend und draußen fiel Schnee in Strichen durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Auf dem Fußweg eilten die Menschen von der Arbeit nach Hause oder standen frierend an Haltestellen, um auf den nächsten Bus zu warten.
Herr Conrad beugt sich leicht nach vorn und greift zu dem Teelöffel, der vor ihm auf dem Tisch liegt. »Lia«, sagt er und schaut zu Sarah, »ich nenne das Mädchen in meiner Geschichte Lia, ist das in Ordnung?«
Sarah nickt wieder. Sie umgreift mit beiden Händen ihre Tasse und spürt deren Wärme. Als wolle sie sich vor dem kalten Dezembertag schützen.
»Gut. Lia also.«
Lia sah aus einem großen Fenster auf die Straße herab. Sie sah die Striche unter den Laternen, die eilenden Menschen, eine Bushaltestelle. Sie hatte beide Handinnenflächen gegen das Glas des bis zum Boden reichenden Panoramafensters gelegt und fühlte sich, als würde sie über der Stadt schweben. Ihr war angenehm warm. Die Heizung des Hotelzimmers blies kaum hörbar Luft in den Raum, manchmal spürte man sogar einen sanften Hauch auf der Haut.
Herr Conrad senkt den Löffel in die Tasse und rührt.
»Auf der Haut?« Sarah legt den Kopf schräg und lächelt ein wenig. »Durch die Kleidung hindurch?«
»Kindchen«, sagt Herr Conrad beinahe streng, während er den Löffel durch den Tee schwenkt. »Kindchen, halte dich bitte zurück. Wenn du mich ständig unterbrichst, geht der Zauber der Geschichte verloren. Und wenn ich immer wieder neu ansetzen muss, entgleitet mir irgendwann der rote Faden. Lass mich also erzählen.«
»Verzeihung«, sagt Sarah. Kaum hat sie es ausgesprochen, bemerkt sie wieder dieses Funkeln in den Augen des Mannes. Nur ganz kurz. Sie schlürft schnell einen Schluck Rooibostee und schaut dann auf ihre Tasse. Als fühle sie sich tatsächlich schuldig.
Lia lehnte also gegen das große Fenster. Ihre Stirn berührte das Glas. Sie beobachtete das Treiben auf der Straße, entspannt und ruhig. Atmete tief ein und aus. Seit vielen Wochen hatte sie auf diesen Moment gewartet. Hatte ihren Alltag so organisiert, dass er sich ihr nicht entgegen stellen konnte an diesem Abend. Bevor sie hierher kam, hatte sie ein duftendes Bad in Lavendel genommen, sich eingestimmt und vorbereitet auf das, was sie erwartete. Und als sie sich schließlich auf den Weg gemacht hatte, fühlte sie sich bereits in einer sanften und friedlichen Stimmung. Bemerkte tief in sich ein Glühen und wusste, dass es sie an diesem Abend noch vollständig ergreifen würde.
Lia ließ ihr Gesicht weich am Fensterglas entlang gleiten. Die Stirn, die Nase, die Lippen. Als sie das Kinn erreichte, schlug der kleine Ring ihres schmalen Halsbandes mit einem leisen Klacken gegen das Glas.
Sarah hebt ruckartig den Kopf. Als sie zu dem Mann sieht, der ihr gegenüber im Thronsessel sitzt, begegnet sie seinem lauernden Blick. Sie ist unsicher, ob Herr Conrad auf ihre Reaktion gewartet hat. Oder ob er nur testen will, dass sie tatsächlich schweigt und ihn nicht wieder unterbricht. Ein Ring? An einem Halsband? Um den Hals von Lia? Sarah legt all ihre Ungläubigkeit in ihren Blick, transportiert Fragesätze, aber schweigt. Es dauert einige lange Sekunden, bis das Duell endet. Herr Conrad erzählt weiter, als wäre nichts gewesen. Die Fragen fallen zwischen ihnen zu Boden.
»Bist du bereit?«
Lia schloss die Augen. Natürlich war sie bereit. Zu keinem Zeitpunkt in den letzten Wochen war sie mehr bereit gewesen als jetzt. »Ja«, sagte sie leise gegen das Glas.
Hinter Lia erhob sich ein Mann aus einem Stuhl. Von dort aus hatte er seit Minuten zu ihr herübergesehen. Wie sie gegen das Fenster lehnte. Wie ihr Körper einen wundervollen Kontrast zwischen heller Haut und dunklem Himmel hinter der Glasfront zeichnete. Er hatte genussvoll beobachtet, dass sie still wurde, in sich versank, auf ihn wartete. Minutenlang. Jetzt war sie tatsächlich bereit.
Er griff neben sich und hob ein schwarzes Korsett aus Leder an. Schwer fühlte es sich an, so gerollt und mit Schnüren umwickelt, wie er es in der Hand hielt. Und auch kühl. Der Mann lächelte. Es war nach ihren Maßen angefertigt, nur für sie. Kein Korsett von der Stange, sondern in Handarbeit geschnitten und genäht. Etwas Besonderes. Langsam durchquerte er den Raum, erreichte Lia. Stellte sich vorsichtig hinter sie. Ganz dicht. Hörte ihren gegen das Fenster gehauchten Atem. Sah ihr über die Schulter hinweg in die Tiefe. Dort unten waren eilende Menschen, Schneefall und eine Bushaltestelle. Wie in einem anderen Universum. Niemand sah nach oben. Niemand bemerkte die gegen das Fenster gelehnte Frau, die bis auf ein Halsband gänzlich unbekleidet war. Wenn doch, wäre sie unerreichbar gewesen.
Der Mann trat leise einen halben Schritt zurück. Mit ruhiger Hand rollte er das Korsett aus. Löste langsam die Schnüre. Weich fühlte sich das Leder an, aber er wusste, dass es bald nicht mehr so sein würde, wenn er die Schnüre erst wieder angezogen haben würde. Wie eine zweite Haut würde es sich um Lias Körper legen, erst sanft, dann einengend, später Besitzergreifend, sie formend, zunehmend fordernd, ihr die Luft nehmend. In dieser Reihenfolge. Er würde sie schließlich so eingeschnürt haben, dass sie alles geben musste, um zu bestehen. Wie lange sie das schaffen würde, für ihn, wussten sie beide nicht. Aber sie würden es sehen. Dazu waren sie hier.
Als er Lia das Korsett um die Taille legte, sog sie laut und schnell den Atem ein. Als wäre sie erschrocken. Als hätte sie nicht damit gerechnet. Tatsächlich war es aber nicht so. Die erste Berührung. Der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte. Ab dem es keine Umkehr mehr gab. Viele Wochen hatte sie sich diesem Augenblick entgegen gesehnt.
»Alles in Ordnung?«
Sarah sieht erschrocken von ihrer Tasse nach oben. »Ja, sicher …« Sie bemerkt, dass sie bereits jetzt völlig von der Erzählung ergriffen ist.
Herr Conrad hebt überrascht die Augenbrauen. Mehr nicht. Dann setzt er fort.
»Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte Lia leise.
Der Mann nickte, als fühle er sich bestätigt. »So schweigst du ab jetzt.« Eindringlich klang es. »Bis zum Schluss.« Er zog das Korsett an ihr zurecht. Ein wenig nach oben, so dass sich die untere Kante auf die Hüften legte. Ein wenig zur Seite, damit die Hakenleiste eine Linie von Lias Bauchnabel bis unter die Mitte ihrer Brüste zog. Langsam, gewissenhaft. Genießend. »Bis ganz zum Schluss.«
»Ja«, wiederholte Lia. Noch leiser.
Der Mann entfernte sich nicht mehr als einen Schritt von Lias Körper. Betrachtete sie, wie sie da stand. Still und unfertig wartend. Ein ungeschliffener Diamant. Eine ungeschnürte Schönheit. Er legte seine Hände sanft auf ihre Schultern, ließ sie einen Moment dort schwer ruhen. Spürte, wie Lia langsam atmete.
Unten auf der Straße fuhr ein Schneepflug. Seine orangefarbenen Rundumleuchten zeichneten kurzlebige Bilder an umliegende Hauswände und das Glas der Bushaltestelle. Langsam bewegte er sich, als wolle er sich am Bürgersteig entlang tasten. Was er beiseite schob, blieb hinter ihm wulstig wie eine kleine Narbe längs der Straße liegen.
Der Mann ließ seine Hände von den Schultern an Lias Seiten herabgleiten. Fühlte dabei über das Leder des Korsetts. Nahm sie einen Moment in den Arm. Es würde nicht leicht werden für sie.
Er griff die beiden Enden der Schnüre und begann sein Werk. Zog aus der Mitte heraus, was sich locker ziehen ließ. Nicht viel, aber so weit, dass die Schnüre nicht mehr lose lagen. Dann begann er, langsam und gleichmäßig Schlaufen zu ziehen. Von oben her. Von unten her. Zentimeter um Zentimeter raubte er Schnur, entführte sie aus der Mitte der Ösen, begann wieder von vorn.
Lia stand still. Atmete noch immer gleichmäßig. Ließ es geschehen. Sie hatte die Augen geschlossen und war längst in sich versunken, nicht mehr in dieser Welt, in der man sie hätte am Fenster stehen sehen können. Sie erwartete das, was sie geben wollte, und sie war vorbereitet darauf, dass es schwer fallen könnte. Denn sie hatte dieses Korsett noch nie so getragen. Nicht für ihn, nicht geschnürt.
Der Mann hielt inne, behielt aber die Enden der Schnüre in der Hand. Hielt sie auf Zug. Es gab keinen Weg zurück. Er trat näher an Lia, schmiegte sich von hinten an sie. Wartete einen Moment. Lauschte. Verinnerlichte, dass Lia noch ebenso sanft vor ihm stand, wie sie es bislang getan hatte.
Der Schneepflug war verschwunden. An der Haltestelle sammelten sich mehr und mehr Menschen. Hände in den Taschen vergraben, dann und wann einen Schritt vor und wieder zurück tretend. Wartend.
Der Mann hauchte liebevoll einen Kuss auf die Schließe des Halsbandes in Lias Nacken. Er liebte diese Stelle auf ihrer Haut, denn er empfand sie als ihre verwundbarste. Dort, wo er sie immer wieder gefangen nahm. Gefangenen nehmen durfte.
Lia atmete aus. Langsam und gleichmäßig. Ihr Atem war jetzt die einzige hörbare Verbindung zwischen ihr und ihm.
Dann entließ der Mann sie aus seinem Körperkontakt. Er begann von Neuem. Zog kleine Schlaufen, immer wieder, zwängte sie zur Mitte hin, raubte sie dort heraus. Das Leder schloss sich immer enger um Lias Körper, umgriff ihre Taille, forderte Form. Er bemerkte, dass Lia zunehmend ihr Körpergewicht gegen das Fenster lehnen musste, um dem Zug an den Schnüren in ihrem Rücken zu begegnen. Sie stand nicht mehr unbeweglich, denn er bewegte sie mit jedem Zentimeter Schnur, den er den Ösen abzwängte. Jede gezogene Schlaufe zog auch ihren Körper, und immer wieder sank Lia nach einem solchen Ruck wieder nach vorne. Erneut beraubt um einen Teil Umfang. Dafür bereichert um ein Stück Stolz, noch immer hier zu stehen.
Als Lia wieder die Stirn gegen das Fensterglas drückte, hielt er erneut inne. Griff mit einer Faust die Schnüre direkt an den Ösen, damit sie sich nicht zurückziehen konnten. Seitwärts trat er neben Lia, sah in ihr Gesicht.
Lia hatte die Augen geschlossen. Ihre Zähne bissen auf die Unterlippe. Leicht war es längst nicht mehr. Aber sie atmete noch immer gleichmäßig. Leise sog sie durch die Nase Luft ein, soweit es die Enge um sie erlaubte, langsam strömte die Atemluft wieder aus. Der Mann beobachtete es eine Weile, ließ sie nicht aus den Augen. Mit dem Zeigefinger strich er ihr über die Wange, um die Haut warm und trocken zu fühlen.
Lia nickte. So leicht, dass dabei die Haut ihrer Stirn am Glas haften blieb. Dass sich ihr Kopf nur Millimeter bewegte. Er aber sah es.
Er trat wieder hinter sie. Langsam. Wartete noch einen Moment. Und dann zog er richtig. Hakte die Finger in die wenigen Zentimeter Schnur zwischen den Kanten des Korsetts. Drehte die Hand, zog dabei die Schnur über den Zeigefinger, so stark, dass sie sich in seine Haut biss. Ließ keinem Zentimeter eine Chance, durch die Ösen wieder zurückzugleiten. Legte seinen Unterarm auf Lias Rücken, um sie von sich wegzudrücken, während er das Korsett Millimeter für Millimeter schloss.
Lia rutschte mit den Handinnenflächen auf dem Fensterglas ein wenig nach unten, um stabiler stehen zu können. Denn sie wurde Spielball des kräftigen Ziehens und Drückens in ihrem Rücken. Hatte ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle. Gleichzeitig mühte sie sich, zu atmen. Immer dann, wenn der Zug kurz nachließ, wenn der Mann in ihrem Rücken die Finger zwischen die Schnüre legte, um dort nachzuziehen. Ihr Atemrhythmus lief im Gleichklang mit Ziehen und Nachfassen. Und doch wurde es mit jedem Zug schwerer.
Der Mann hinter ihr wartete. Lauschte. Nach ihr. »Atme kräftig aus«, sagte er schließlich, und Lia bemerkte, dass seine Stimme belegt war. Lust. Sie ahnte, welchen Anblick ihr geschnürter Körper für ihn bieten musste. Sie wusste aber auch, dass schon der Weg dorthin für ihn erregend war. Beides wollte sie ihm schenken. Sie öffnete daher den Mund und atmete aus, bis sie meinte, keine Luft mehr in den Lungen zu haben. Und sie ballte die Hände zu Fäusten, denn sie wusste, was nun kam.
Mit einem kräftigen Ruck zerrte er an den Schnüren in der Mitte, zog sie so fest an, dass sich das Korsett um ihren Körper legte wie ein fester Panzer. Hörte nicht auf, zog weiter, drückte sein Knie gegen ihren Hintern. Fasste kurz nach und forderte noch mehr. Lia hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten, aber er hatte sie zwischen sich und dem großen Fenster eingeklemmt.
Ihr verlangte nach Luft und sie öffnete weit den Mund, drehte den Kopf zur Seite, versuchte zu atmen. Aber ihr Körper war fest umschlossen und eingeengt von Leder. Nur einen Hauch sog sie ein, mehr war nicht möglich. Sie riss die Augen auf. Mühte sich, keine Panik zu bekommen, schließlich hatte sie doch gewusst, dass es nicht leicht werden würde. Ihr musste genügen, was sie bekommen konnte, und so versuchte sie es Hauch um Hauch. Beschränkte sich. Für ihn.
Der Mann hielt die Schnüre in ihrem Rücken unnachgiebig. Aber er war wieder an ihrer Seite, beobachtete sie. Verfolgte den schnellen Rhythmus ihres flachen Atems. Entdeckte Schweiß auf ihrer Stirn. Fühlte, dass ihre Wangen nicht mehr ganz so warm waren wie vorhin. Sah ihr in die Augen. Bemerkte, dass sie ihn ebenso ansah. Nicht durch ihn hindurch, sondern mit festem Blick. Das war wichtig.
Lia wusste, dass er nicht aufhören würde, solange er die Schnüre in seiner Hand hielt. Es war noch nicht vorbei. Als sie glaubte, ihre flache Atmung im Griff zu haben, wollte sie ihm auch noch den Rest von ihr schenken. Sie nickte.
Der Mann nickte zurück. Er trat hinter sie, schob sein Knie an ihren Hintern, nahm die Schnüre wieder in beide Hände.
Lia sah, dass unten auf der Straße ein Bus hielt und die an der Haltestelle wartenden Menschen einsammelte. Eine Frau in einem grauen Mantel sah vor dem Einsteigen zu ihr nach oben. Da schloss Lia die Augen und lehnte die Stirn wieder gegen das Glas.
»Atme aus.«
Lia atmete aus.
Es war ein Ruck, der ihrem Körper die letzten Millimeter abzwängte. Die Schnüre im Rücken knarrten, das Knie des Mannes zwängte sie gegen die Glasscheibe und sie hatte das Gefühl, auf jeder Stelle ihrer Haut eine tonnenschwere Last zu ertragen. Sie stöhnte laut auf, nicht vor Schmerz, sondern weil das Korsett ihr die letzte verbleibende Luft aus den Lungen gedrückt hatte.
Lia spürte, wie der Mann hinter ihr die Schnüre verknotete. Endstation. Mehr ging nicht. Mehr wollte er nicht. Kräftige Hände griffen an ihre ledergepanzerte Hüfte, drehten sie herum. Lia lehnte sich kraftlos mit dem Rücken gegen das Fenster. Versuchte, zu atmen. Es gelang ihr kaum. Sie sah ihn an, lächelte. Wusste, wie er sie gerade wahrnahm. Genoss es, so vor ihm zu stehen. Für ihn. Sie spürte das geschlossene Leder um sich, wusste um den festen Knoten in ihrem Rücken und auch, dass sie dieser Enge nicht ohne ihn entkommen konnte. Solange er wollte.
»Du siehst fantastisch aus«, flüsterte er. Wie ein Hauch kam es bei ihr an. »Es passt wie angegossen.«
Sie wollte erst etwas sagen, sich mit ihm freuen, aber es war ihr nicht möglich, genug Luft einzuatmen. Und trotzdem genoss sie dieses Gefühl. Das war es, was auch sie erregte. Sie wusste, dass sie es nicht lang genießen würde können. Zu wenig ließ ihr der Griff um ihren Körper. Aber dieses Mal wollte sie es bis zum letzten Moment durchhalten. Es auskosten. Für ihn. Und auch für sich.
Er trat zu ihr, umarmte sie. Fühlte mit den Händen über ihren Rücken, ihre Taille. Über die Seiten. »Du hast die perfekte Figur dafür, weißt du das?«
Natürlich wusste sie es. Wie oft hatte sie sich früher selbst zu schnüren versucht. Nie war es annähernd so, wie er es jetzt getan hatte. Sie atmete flach. Es wurde immer schwieriger.
»Kannst du noch?«
Lia nickte leicht. Aber es war gelogen. Das wusste sie. Nur noch einen Moment. Dieses Gefühl. Atemberaubend.
Dann wurde es schwarz um sie und sie rutschte in seine Arme und auf den Boden. Fiel wie ein welkes Blatt, aber beschützt. Sie wusste, dass er sie befreien konnte. Und dass er es tun würde. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Sonst wäre sie niemals hergekommen.
»Atme wieder«, sagt Herr Conrad leise.
Es ist still in der Werkstatt. Die Kerze auf dem Tisch knistert kurz, als wolle sie darauf aufmerksam machen, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sarah hält noch immer ihre Tasse mit beiden Händen. Kalt ist ihr aber nicht mehr. Sie sieht vor sich Lia stehen, ihre Silhouette wie eine Sanduhr, in der Mitte bezwungen. Immer wieder sieht sie Lia sanft zu Boden gleiten, als die Erregung alle Luft aufgebraucht hat.
»Atme wieder.«
Sarah schrickt auf. Schaut zu dem Mann auf der anderen Seite des Tisches, der zurückgelehnt in seinem Thron sitzt und sie mit zusammengekniffenen Augen mustert.
»Ist alles in Ordnung, Kindchen?«
Sarah räuspert sich. Nimmt einen Schluck Rooibostee, um Zeit zu gewinnen, und schiebt dann ihre Tasse langsam auf die Tischkante. Ist es in Ordnung, dass sie es sich in Strümpfen auf einem alten Sofa in einer Werkstatt bequem gemacht hat, die sie erst gestern entdeckte? Ist es in Ordnung, dass sie sich von einem alten, fremden Mann mit Nickelbrille einen Tee und eine Geschichte servieren lässt? Dass sie derart beeindruckt beinahe die Welt um sich vergisst? Sarah weiß nicht, ob man das als in Ordnung bezeichnen kann. Plötzlich ist ihr die Geschichte unangenehm, zu intensiv, zu nah. Aufdringlich. Es fühlt sich an, als hätte Herr Conrad sie bewusst gewählt. Erzählt man sich solche Handlungen, wenn man sich nicht näher kennt?
Sarah schwingt ihre Füße auf den Boden und stützt sich mit den Händen am alten Polster des Sofas ab. Das Sofa knarrt dabei ein wenig.
»Oh nein«, meint Herr Conrad und schüttelt langsam den Kopf. »Deine Schuhe sind ganz sicher noch nicht trocken.«
»Vielleicht doch?«, sagt Sarah und erhebt sich. Sie weiß, dass Herr Conrad keine Bemühungen zeigen wird, für sie nachzusehen. Warum auch immer. Sie holt kurz tief Luft, denn beim Aufstehen ist ihr ein wenig schwindlig geworden. Zu schnell, zu hastig. Lia, denkt sie. So muss es sich angefühlt haben, als ihr die Luft ausging. Als das Korsett ein Einatmen verweigerte und plötzlich nichts mehr nachgab. Sarah legt in Gedanken ihre Hände in die Taille. Lässt ihre Handflächen von dort auf die Bauchdecke gleiten, übt ein wenig Druck aus und atmet dagegen an. Plötzlich wird ihr bewusst, was sie tut. Sie schaut erschrocken zu Herrn Conrad. Der lehnt im Polster des Sessels und beobachtet sie mit einem genussvollen Lächeln auf seinem Gesicht. Unverfänglich lächelt Sarah zurück und tut so, als habe sie sich nur recken wollen.
»Schau schon nach«, sagt der alte Mann zufrieden. Mit dem Kopf nickt er in die Richtung der Werkbank. Dort, wo die Stiefeletten stehen.
Sarah geht vorsichtig über das ergraute Parkett. Tritt nur leicht mit dem vorderen Teil des Fußes auf, bis sie an der Werkbank ist. Sie greift sich einen ihrer Schuhe, zieht das geknüllte Zeitungspapier ein wenig heraus. Es ist feucht. Das Wildleder aber auch. Sarah überlegt. Sie könnte behaupten, die Stiefeletten seien innen bereits trocken. Wenn sie gleich hier die Füße in die Schuhe schieben würde, könnte er es kaum prüfen. Würde er das überhaupt? Sie ist nicht sicher.
»Nimm das Papier ganz heraus und knülle neues. Es ist genug da.«
Sarah dreht sich um. Lehnt sich gegen die Werkbank. Ihr ist noch immer ein wenig schwindlig vom schnellen Aufstehen. Sie fühlt sich einen Moment wie Lia, die gegen dieses Gefühl ankämpft. Spinnt den Gedanken weiter, wie sich das Wissen anfühlen muss, dass es noch nicht das Ende ist. Bis zum Schluss, hatte ihr der Mann ins Ohr geflüstert, bis zum Schluss hatte Lia dagegen gekämpft. Und dann?
»Was geschah dann?«, fragt Sarah.
Mit einer langsamen Bewegung dreht sich Herr Conrad in seinem Sessel zu ihr. Sein Hemd und seine Weste verrutschen dabei und werfen eine große Falte, aber das stört ihn nicht. »Dann? Was meinst du, Kindchen?«
»Was geschah, als Lia fiel?« Sarah verschränkt die Arme vor ihrem Körper wie ein trotziges Kind, das nach einem erzählten Märchen auf den Sieg des Guten pocht. »Hat er ihr geholfen?«
Herr Conrad sieht Sarah an, als sei er überrascht. Oder enttäuscht. »Diese Frage habe ich nicht erwartet«, sagt er mit seufzender Stimme. »Überhaupt nicht.« Mit einer Hand greift er in seine linke Seitentasche, wühlt darin gemächlich wie in einer Schatztruhe und zieht aus ihr schließlich einen kleinen Beutel aus braunem Leder sowie eine handgroße, geschwungene Tabakpfeife. Sorgsam legt er die Pfeife auf den Tisch vor sich und öffnet vorsichtig den Beutel.
»Keine Antwort?«, hakt Sarah nach. Sie bemerkt, dass es fordernd klingt, überlegt kurz, ob es vielleicht unangemessen ist, findet es aber nicht beunruhigend.
Herr Conrad entnimmt dem Beutel eine Kugel aus geschnittenem Tabak und prüft sie zwischen Daumen und Zeigefinger auf Feuchtigkeit. Dann schließt er den kleinen Beutel wieder schiebt ihn behutsam in seine Westentasche zurück. »Natürlich, Kindchen. Selbstverständlich hat er ihr geholfen.«
Sarah glaubt, dass es nur eine Redewendung ist. Diese Antwort hört sie von Herrn Conrad nicht zum ersten Mal. »Selbstverständlich?« Sie legt den Kopf schräg. »Wie konnte Lia wissen, dass er das tut?«
Herr Conrad ergreift die auf dem Tisch liegende Pfeife und beginnt, sie zu stopfen. Vorsichtig schiebt er die unterschiedlich lang geschnittenen Tabakfasern in den Pfeifenkopf und drückt sie leicht an. »Vertrauen«, sagt er, während er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nachstopft. Dabei nickt er bedächtig mit dem Kopf. »Blindes Vertrauen, Kindchen.«
Sarah bläst hörbar Luft aus, als sei ihr die Erklärung zu banal. Sie weiß nicht, wem sie selbst ein so großes Vertrauen entgegen bringen würde. Jedenfalls nicht ohne Unwohlsein.
»Wenn deine Schuhe noch nicht trocken sind«, sagt Herr Conrad, »wüsste ich eine Geschichte dazu.« Er betrachtet ausgiebig den Pfeifenkopf, als wäre es ihm völlig gleich, ob Sarah sofort, im Laufe des Tages oder überhaupt in diesem Jahrhundert antwortet. Dann nimmt er das Mundstück zwischen die Lippen und prüft, ob er richtig gestopft hat.
Sarah überlegt, ob es eine Niederlage ist, wenn sie eingesteht, dass ihre Schuhe nicht trocken sind. Dass sich das Wildleder noch nass und seifig anfühlt. Und dass sie tatsächlich Interesse an einer weiteren Geschichte hat. »Gut«, sagt sie nach einer Weile, stützt sich mit den Händen auf der Werkbank ab und schiebt ihren Hintern auf den Rand der Arbeitsplatte. Ihre Füße schweben wenige Zentimeter über dem Parkett. »Dann noch eine Geschichte.«