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Viertes Kapitel
Überlieferung und Textgrundlage
I. Überlieferung und Drucktradierung von Taulers Predigten

Bis heute gibt es von Johannes Taulers Predigten nur einfache Textabdrucke224, jedoch keine kommentierte, textkritische Taulerausgabe.225 Dafür fehlten, so Weigand, lange Zeit die Voraussetzungen. Erst seit der Arbeit von Mayer226 „haben wir einigermaßen Kenntnis über grundlegende Zusammenhänge in der Überlieferung der Tauler-Handschriften.“227 Mayer zufolge ist die Zahl der handschriftlichen Überlieferungsträger mit 160 Textzeugen so hoch, dass sie „einem Einzelnen die Bewältigung der Überlieferungsgeschichte fast unmöglich machen.“228

Bereits zu Lebzeiten Taulers entstanden die ersten handschriftlichen Predigtsammlungen229, deren Zahl immer größer wurde230 und die sogar im niederländischen Sprachraum weite Verbreitung fanden, was keinem anderen mittelalterlichen Autor aus dem oberdeutschen Sprachraum je widerfuhr.231 Die Predigten in diesen Sammlungen wurden von Tauler selbst verfasst bzw. diktiert und gehören zum Typus der für Klostergemeinschaften vorgesehenen Lesepredigt.232

Die Drucktradierung von Taulers Predigten beginnt bereits im 15. Jahrhundert. Der erste Taulerdruck wurde 1498 in Leipzig bei Cunrad Kachelouen herausgegeben. Der Tauler-Corpus enthält 84 Predigten sowie drei Traktate und das „Meisterbuch“, die hystorien des erwirdige doctors Johannis Thauleri.233 Bis ins 19. Jahrhundert glaubte man, das „Meisterbuch“, das von der Bekehrung Taulers erzählt, sei von Tauler selbst verfasst worden. Heinrich Seuse Denifle konnte schließlich 1879 nachweisen, dass die Fiktion von Taulers Bekehrung nicht von Tauler, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Kreis der von ihm seelsorglich betreuten „Gottesfreunde vom Oberrhein“ stammt.234 1508 erschien in Augsburg bei Hans Otmar ein inhaltlich unbearbeiteter Nachdruck des Leipziger Taulerdrucks. Dabei handelt es sich um eine Übersetzung vom Sächsischen ins Augsburger Deutsch. 1521 und 1522 brachte der Kartäuser Georg Carpentarii in Basel einen in oberrheinischem Dialekt übersetzten Taulerdruck heraus, dem 42 neue Predigten hinzugefügt wurden. Sowohl die Augsburger als auch die beiden Baseler Taulerausgaben wurden von einem gewissen Johann Rynmann initiiert und finanziert. Martin Luther kannte sowohl die Augsburger als auch die Baseler Edition; die Augsburger Predigtsammlung hat er mit zahlreichen Randbemerkungen versehen.235 1543 brachte Petrus Noviomagus, der sich später Petrus Canisius nannte, in Köln den ersten Taulerdruck heraus. Der in der Wahl zwischen dem Kartäuserorden und der Gesellschaft Jesu schwankende zweiundzwanzigjährige Petrus suchte nach einer Spiritualität, die ihm auf der Suche nach der eigenen Berufung half, und er fand Taulers Predigten. Petrus benutzte den Augsburger und den Baseler Taulerdruck, versuchte aber die Texte durch einen Vergleich mit noch älteren Textzeugen zu verbessern, auf die er im Dominikanerinnenkloster St. Gertrud zu Köln stieß und die zu Lebzeiten Taulers entstanden waren.236 Diese Kölner Predigten ließ er im original Kölner Dialekt abdrucken. Davon abgesehen, gestaltete Canisius „seinen“ Tauler jedoch ganz nach eigenem Ermessen, indem er Predigten kürzte oder veränderte. Darüber hinaus fügte er seiner Taulerausgabe weitere 25 als taulerisch ausgegebene Predigten bei, sowie 27 Briefe und 10 Texte. Die meisten dieser unter Taulers Namen herausgebebenen Texte stammen jedoch von Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Jan Ruusbroec.237 In den Niederlanden brachte 1547 M. Anthonis van Hemert einen eigenen Taulerdruck heraus, der 1563, zweimal 1607, 1623, 1634 und 1707 nachgedruckt wurde.238 Der Kartäuser Laurentius Sirius übersetzte 1548 den „Kölner Tauler“ ins Lateinische. Dieser Taulerdruck enthält 153 angebliche Taulerpredigten, 30 Tauler zugeschriebene Briefe und einige Traktate.239 Durch diese Übersetzung fanden Taulers Predigten auch in England, Frankreich, Italien und Spanien Verbreitung.240 Der lateinische Tauler-Corpus wurde schließlich wieder ins Deutsche rückübertragen: 1621 von Daniel Sudermann und 1660 von dem Karmeliten Carolus a St. Anastasio.241

Taulers Nachwirken auch über den deutschen Sprachraum hinaus war groß. Deshalb wurden die Predigten Taulers vom ersten Druck (1498) bis ins 20. Jahrhundert ständig neu aufgelegt. Viele Taulerdrucke nach 1548 enthielten jedoch bloß eine Auswahl von Predigten, die in unterschiedlicher Qualität übersetzt wurden.242

Für Taulers Predigten bestehen zwei Tradierungen: eine alemannischelsässische (Ausgangsort Straßburg) und eine alte niederrheinische (Ausgangsort Köln).243 Da sich in einigen Predigten der alemannischen Fassung niederrheinische Relikte nachweisen lassen244, vermutet man, dass die in Köln verfassten Predigten die ursprünglicheren sein können.245 Diese beiden Tradierungen sind grundlegend für die heute noch in der Forschung benutzten Taulereditionen Vetters (1910) und Corins (1924, 1929).

II. Zur Textgrundlage und Übersetzung

Vor allem dem deutschen Dominikaner Heinrich Seuse Denifle (1844 – 1905) ist es zu verdanken, dass viele der unechten Schriften aus dem Werk Taulers ausgeschieden werden konnten. Auf Denifles Erkenntnisse kann die Forschung über Tauler und die „deutsche Mystik“ bis heute aufbauen.246 Heute wissen wir: Von Tauler sind fast nur Predigten überliefert. Darüber hinaus gibt es nur noch einen originalen Brief Taulers an Margareta Ebner und Elsbeth Scheppach, der Priorin des Klosters Medingen bei Dillingen, den er einem Geschenkpaket beigelegt hat.247

In der Taulerausgabe von Ferdinand Vetter finden wir die meisten der als echt anerkannten Texte: 81 Predigten.248 Dabei weist Predigt V 79 (H 84) eine deutliche Abhängigkeit von Jan Ruusbroecs „Boec van den vier becoringhen“ auf und muss als unecht angesehen werden249, auch wird die Echtheit von Text V 59 (H 82), ein öffentliches Schuldbekenntnis, angezweifelt.250 Schließlich ist immer noch umstritten, ob die Predigt Von den drien geburten V 1 (H1) von Tauler stammt.251 „Eines jedoch ist sicher und durch die Taulerdrucke auch dokumentiert: Die Predigt Von den drien geburten ist seit den Grossen Taulersammlungen und der Inkunabel von 1498 stets als eine Predigt von Tauler rezipiert worden.“252 Diese Sachverhalte werden wir in dieser Arbeit berücksichtigen müssen, wobei diese Texte inhaltlich keinen nennenswerten Einfluss auf unsere Taulerdeutung haben. Einzig Predigt V 1 kann als wirkungsvolle Hilfe zur Deutung von Taulers Theologie herangezogen werden. Sie steht zu Taulers Denken in keinerlei Widerspruch.

Die zweibändige Ausgabe von Adolphe Léon Corin enthält neben den in der Forschung als echt anerkannten Predigten auch Tauler zugeschriebene Texte.253 Der Vorteil der Corin-Edition liegt laut Pleuser darin, „dass sie einen älteren, besseren und sorgfältiger edierten Text bietet.“254 In unserer Arbeit, die sich als theologisch und nicht philologisch versteht, orientieren wir uns dennoch an der Vetter-Ausgabe, da diese mit 81 Predigten (ergänzt durch die zwei Predigten bei Helander) eine breitere Textgrundlage bietet. Allerdings soll Corin zur Übersetzung und Deutung von Textstellen mit herangezogen werden.

Eine Übersetzung der Predigten Taulers als Gesamtausgabe ins Neuhochdeutsche liegt von Walter Lehmann und Georg Hofmann vor.255 Etienne Hugueny, Gabriel Théry und Adolphe L. Corin haben Tauler ins Französische übersetzt.256 Seit 1977 und 1985 gibt es auch eine Gesamtausgabe in italienischer und englischer Sprache.257

In dieser Arbeit werden die mittelhochdeutschen Texte vom Verfasser selbst ins Hochdeutsche übersetzt. Dabei werden die Übersetzungen von Georg Hofmann, dessen Predigtnummerierung neben der von Vetter mit aufgeführt wird, und Louise Gnädingers zu Rate gezogen.258

224 Vetter 1910 (Abkürzung: V), Corin I u. II 1924 und 1929 (Abkürzung: C I und II).

225 Eine kritische Taulerausgabe ist laut Ruh 1996, 486 „das wichtigste Desideratum der Taulerforschung.“ Vgl. Weigand 2004, 114 – 155.

226 Vgl. Mayer 1999, 197 – 278.

227 Weigand 2004, 115.

228 Mayer 1999, 3.

229 Vgl. Mösch 2006, 202; Ruh 1996, 487; Gnädinger 1993, 109 – 116. Mayer 1989, 365 – 390, bes. 365f., 386f., konnte zudem auf 10 neue Handschriften aufmerksam machen. Dabei handelt es sich um 28 Foliobände, die der Bibliothek der Laienbrüder in Rebdorf gehörten. Zur Predigtanordnung der frühen Taulerhandschriften: Siehe Weigand 2004, 114 – 155.

230 Die vollständige Präsentation der Handschriften: Siehe Mayer 1999, 197 – 278 (Anhang 1); Hofmann 1961, 439 – 460; Helander 1923, 86 – 116.

231 Vgl. Hoenen 1994, 396ff.

232 Vgl. Weigand 2004, 146; Ruh 1996, 487.

233 Vgl. Mösch 2006, 204.

234 Vgl. Denifle 1879. Denifle hat ebenso nachgewiesen, dass „Das Buch von geistlicher Armut, bisher bekannt als Johann Taulers Nachfolgung des armen Lebens Christi“ nicht von Tauler stammt: Vgl. Denifle 1877. Zum Verdienst Denifles in der Taulerforschung: Siehe Walz 1961, 8 – 18. Zu den Pseudo-Tauleriana: Siehe Gnädinger 1993, 421 – 431. Zur Überlieferung der Pseudo-Taulertexte vgl. Mayer 1999, 279 – 287. Zu den „Gottesfreunden“ Siehe den dritten Teil, siebtes Kapitel sowie Rapp 1994, 55 – 62, Haas 1987, 268 – 271, 299 – 303, Chiquot 1937 (DSp I), col. 493 – 500.

235 Vgl. Mösch 2006, 204; Gnädinger 1993, 413f.; Helander 1923, 20ff. Helander bemerkt zu Tauler und Luther: „Man muss klar unterscheiden, dass das, was wir unter Tauler verstehen, durchaus nicht mit Luthers Tauler identisch war. Denn teils gehörte Luthers Auffassung, dass die Theologia Deutsch von Tauler sei, teils aber nahm er als sicher an, dass die ganze Baseler Auflage aus dem Jahr 1521 Taulerschriften enthalte, was ja keineswegs der Fall war.“ Zu den Randbemerkungen: Vgl. u.a. Martin Luther, Werke, Bd. 9, Weimar 1893, 95 – 104; Ficker 1936, 46 – 64.

236 Vgl. Mösch 2006, 205, Mayer 1999, 10, Gnädinger 1993, 418. Zu den Handschriften im Kölner Dominikanerinnenkloster St. Gertrud: Siehe Prieur 1983.

237 Vgl. Gnädinger 1993, 418f.

238 Zur niederländischen Taulerüberlieferung: Siehe Hofmann 1961, 475; Axters 1961, 348 – 370; Lieftinck 1936. Zu Taulers Wirken in den Niederlanden: Siehe Hoenen 1994, 396 – 426. Ruh 1996, 48822 betont „ihre bedeutende Eigenständigkeit, aber das Verhältnis zur Kölner Tradition ist ungeklärt geblieben.“ Die ersten mittelniederländischen Handschriften stammen aus den Jahren 1442, 1446, 1454 und 1458 (Vgl. Hoenen 1994, 402f.).

239 Vgl. Gnädinger 1993, 419.

240 Vgl. Fischer 1931, 10f.: Die Suriusübersetzung erschien 1556 in Venedig, 1557 und 1558 in Lyon, 1623 in Paris, Mecerata, ohne Jahr und 1697. Vgl. auch Colledge 1961, 341 – 347 (England); Walz 1961, 371 – 395 (Italien); Winklhofer 1961, 396 – 407 (Spanien und die spanische Mystik). Zum möglichen Einfluss auf die spanische und portugiesische Mystik und den spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz: Siehe Navarro de Adriaensens 1962, Ricard 1963, 219 – 233; Orcibal 1963, 235 – 279.

241 Nach Oehl 1972, XXVII ist Sudermanns Übersetzung für Protestanten und die des Karmeliten für Katholiken gedacht. Vgl. Gnädinger 1993, 420.

242 Vgl. Mösch 2006, 206; Mayer 1995, Sp. 640; Helander 1923, 81.

243 Vgl. Mösch 2006, 209.

244 Vgl. Fourquet 1963, 35 – 38; Corin 1924, 223 – 231

245 Vgl. Ruh 1996, 488f.

246 Vgl. Mayer 1999, 4. Zu Denifles Verdiensten um die Taulerforschung: Vgl. Walz 1961, 8 – 18. Die Professoren Georg Steer und Rudolf Weigand von der Forschungsstelle für Geistliche Literatur des Mittelalters an der Katholischen Universität in Eichstätt, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, erforschen die Taulertexte und bereiten seit langer Zeit eine kritische Taulerausgabe vor. Ihr Erscheinen ist (immer noch) unbestimmt.

247 Tauler an Elsbeth Scheppach und Margarethe Ebner, vor Fastnacht (28.Februar) 1346, in: Strauch 1966, 270f.

248 Vetter 1910. Zur Vetterausgabe: Vgl. Mösch 2006, 206f., 209f.; Weigand 2004, 120 – 145.

249 Vgl. Mösch 2006, 206; Weigand 2004, 150; Pleuser 1967, 24; Denifle 1877, VII.

250 Vgl. Zekorn 1993, 20; Wrede 1974, 24; Kunisch 1958, 762; Wenztlaff-Eggebert 1940, 4; Helander 1923, 126.

251 Vgl. Pleuser 1967, 13 - 24; Zekorn 1993, 2076; Mösch 2006, 13f. Pleuser 1967, 24 hält die Predigt für echt. Ruh 1996, 487 hält sie für ein „Meister Eckhart-Kompilat“. Der Klärung widmen sich vor allem G. Steer und R.K. Wiegand.

252 Mösch 2006, 14.

253 Corin I 1924; Corin II 1929. In Corin I befinden sich 16 Texte, davon 14 Predigten. Außer Nr. 14 sind alle übrigen Predigten (Nr. 1 – 13) auch in der Vetter-Ausgabe vorhanden (V 36, 37, 38, 40, 45, 57, 60a, 60b, 60e, 60f, 60g, 63, 71). Corin II enthält 69 Texte von verschiedenen Autoren. Die meisten Texte (44) werden Tauler zugeschrieben, von denen 27 Predigten sind (V 2 – 6, 10 – 15, 19, 23, 24, 64 – 73, 77, 78, 80 und Helander 1). Zu den Corinausgaben: Vgl. MÖSCH 2006, 207ff.

254 Pleuser 1967, 26. Vgl. Mayer 1999, 3; Ruh 1996, 486.

255 Lehmann 1923; Hofmann 1987.

256 Hugueny, Théry, Corin, 1927, 1930, 1935, 1991.

257 de Blasio 1977; Vannini, Belski 1997; Shrady, Schmidt 1985.

258 Hofmann 1987 (Abkürzung: H mit Predigtnummer und Seitenzahl); Gnädinger 1989, 237 – 271 (3 Predigten); Dies. 1993. Wo wir eine Übersetzung von einem dieser Autoren wörtlich übernehmen, werden wir dies zu vermerken versuchen.

ERSTER TEIL
Historische Grundlagen – neue religiöse Bewegungen


Erstes Kapitel
Auslöser – Die Reformen Clunys und Papst Gregors VII.

Die Ursprünge für die im 12. Jahrhundert sich entfaltenden religiösen Bewegungen1 sind sehr viel früher anzusetzen, nämlich in der monastischen Reform von Cluny (ab 908/910) und in der gregorianischen Reform unter Papst Gregor VII. (1073 – 1085).2

„Die kirchliche Reformbewegung unter Gregor VII. hat das Gefüge, den Ordo der hierarchischen Kirche vollendet, die sich auf die Idee der apostolischen Sukzession gründet und den Vollzug des christlichen Heilswerkes denen vorbehält, die mittelbar oder unmittelbar vom Nachfolger Petri und der Apostel dazu ordiniert sind. Gleichzeitig hat die monastische Reformbewegung, die von Cluny ausging, das Mönchtum aus einer Vielzahl vereinzelter, auf sich selbst gestellter Klöster in einen einheitlichen, zentralisierten Verband zu verwandeln begonnen und ihn der kirchlichen Hierarchie eingegliedert, indem sich die führenden Klöster unmittelbar der Kurie unterstellen.“3

Das Kraftzentrum, von dem eine geistliche Wende ausging, war in Frankreich die Gründung des Klosters von Cluny4 und dessen Reformbewegung sowie im deutschen Sprachraum das Reformkloster von Gorze5. Zum geschichtsmächtigeren Zentrum aber wurde Cluny6: In Frankreich (Burgund), nicht weit vom heutigen Taizé, wurde 909 durch Herzog Wilhelm (den Frommen) von Aquitanien das Kloster Cluny gegründet. Die neugegründete Abtei war kein Eigenkloster; sie wurde dem Einfluss jeglicher weltlicher aber auch geistlicher Gewalt entzogen. Auf die Abtswahl sollte niemand von außen Einfluss nehmen. Um die Freiheit des neuen Klosters zu gewährleisten, wurde es dem heiligen Stuhl unterstellt Von Cluny aus begann sodann die Reform der umliegenden Klöster. Immer mehr Klöster Frankreichs schlossen sich Cluny an, so dass eine cluniazensische Reformbewegung daraus wurde, die sich schließlich in Italien (seit Mitte des 10. Jahrhunderts) und Ende des 11. Jahrhunderts auch in Deutschland ausbreitete. Die cluniazensischen Klöster bildeten eine lockere Kongregation. Dem Abt von Cluny legten die Äbte der cluniazensischen Klöster den Treueid ab; dieser wurde somit zum „Abbas abbatum“, zum Abtprimas, der cluniazensischen Äbte. In Cluny wurde sozusagen, gleichsam Vorbild für die gregorianische Reform, ein geistliches, von Laienherrschaft freies Lehnsreich gegründet, das zentralistisch geleitet wurde. Auf eine strenge Observanz wurde größter Wert gelegt, auf verschärftes Stillschweigen, auf Verlängerung des Chorgebets.7 Die geistlichen Motive Clunys wirkten auch über die Klöster hinaus: die Idee von der Rückkehr zur Urkirche nach Apg 4, 32-34 durch brüderliches Zusammensein und Gütergemeinschaft. Das Kloster von Cluny wollte durch innere Freiheit und durch Loslösung von allem Weltlichen zu einem vorweggenommen himmlischen Jerusalem werden.

Vom zweiten Abt Clunys, Odo (Abt von 927 – 942) ging die Idee von einer Erneuerung der Christenheit durch ein erneuertes Mönchtum aus: „Nachdem 927 Odo Abt in Cluny geworden war, erlebte dieses einen gewaltigen Wachstumsschub. ... Odo trat mit einem Anspruch an, der zuvor allein in der Gründungsurkunde für Cluny ausgesprochen worden war: die Gründung einer mönchisch im Kloster lebenden Gemeinschaft als etwas aufzufassen, das dem Heil aller lebenden und verstorbenen Christen dienen sollte. Genau besehen war dies kein geringerer Anspruch als jener der Gesamtkirche, nur, dass er hier im Unterschied zur Gesamtkirche auf dem Boden der Erneuerung mönchischen Lebens im Kloster erhoben wurde. Weil Odo davon überzeugt war, ‚in der Zeit des gegenwärtigen Lebens ist alles derart in Unordnung, dass Du nirgends auch nur eine Spur der Wahrheit sehen kannst, wohl aber erkennen kannst, dass alles voller Bosheit und Luxus ist‘, dass der Welt ihr Ende droht, ‚die Zeit schon gekommen ist‘, ‚jegliche Ordnung der Religion und der Christenheit sich ins Schlechte verwandelt hat‘, ‚machte er sich keine Gedanken um das morgen‘, wollte er Seelen retten. Bei sich selbst hatte er damit angefangen, insofern er wie ein Mönch gelebt hatte, noch bevor er Mönch geworden war. Seine eigenen Eltern gewann er für das mönchische Leben im Kloster. ... Odo als Mönch und Abt hätte mit seiner Sorge um das Seelenheil nicht nur der Mönche, sondern auch aller Laien kaum ein Echo gefunden, hätte er seinen Zeitgenossen nicht unermüdlich das Bild christlichen Lebens vorgehalten, in dem er den Maßstab aller Erneuerung suchte: das Bild, das die Apostelgeschichte vom Leben der Urkirche in Jerusalem verkündet. ‚Dieses Leben‘, schrieb er, ‚ist die Art und Weise, wie Mönche zu leben haben, die das Gemeinschaftsleben bindet.‘ Wie die Apostelgeschichte beschreibt, allen sei alles in der Urkirche gemeinsam gewesen, wer Besitz gehabt hätte, hätte ihn den Aposteln zu Füßen gelegt, damit auch den Armen ihr Teil in der Gemeinde zugekommen wäre, so sah Odo darin das Vorbild für die Mönche, die auf persönlichen Besitz verzichteten und in ihrer freiwilligen Armut vom gemeinsamen Klosterbesitz zu leben bereit waren. Dieser könnte außer den Mönchen als den freiwillig Armen auch den Armen, die es unfreiwillig waren, dienen. Es mochte den höchsten Anspruch, den Odo erhob, wenn er mönchisches Leben im Kloster als Verwirklichung des apostolischen Vorbildes der Urkirche in Jerusalem verstand, in den Augen der Zeitgenossen glaubwürdig gemacht haben, wenn diese der Armut der Mönche in Cluny glauben konnten. ... Odo machte ... in der Gemeinschaft der Cluniacenser Ernst mit der Aufgabe, die ihnen, der Benediktsregel gemäß, in der Gründungsurkunde anvertraut war: täglich Werke der Barmherzigkeit für die Armen und die Pilger zu tun. Odo verlangte dieses jedoch von jedem Christen, besonders von solchen, die reich waren. ... Und aufs erstaunlichste wertete der begeisterte Mönch die Laien auf, wenn er ihnen ... vor Augen stellte, die Mönche seien engelgleich, wenn sie vollkommen lebten, gefallenen Engeln aber gleich, wenn sie zu weltlichen Wünschen zurückkehrten. ‚Unvergleichlich besser jedoch ist der gute Laie gegenüber dem Mönch, der sein Gelübde bricht.‘ Neu dürfte es in den Ohren der Adeligen geklungen haben, wenn ihnen Odo in einer Predigt, angelehnt an die Worte aus einer Predigt Papst Leos d. Gr., zurief, sie sollten erkennen, dass sie von königlichem Geschlecht und Teilhaber am priesterlichen Amt seien. Auch wenn sie die theologische Begründung dafür aus der Taufe nicht verstanden hätten, wäre ihnen nicht entgangen, wie ernst sie genommen und wie hoch sie gestellt wurden. ... Manche Adlige hat Odo mit seiner Begeisterung angesteckt, ihr Leben am Maßstab der Urkirche mönchisch zu erneuern.“8

Papst Gregor und seine Vorgänger – die Reformbewegung begann unter den deutschen Päpsten Clemens II. (1046 – 1047), Viktor II. (1055 – 1057) und dem Elsässer Leo IX. (1049 – 1054)9 – wollten eine glaubwürdigere Kirche. Dahinter verbarg sich ein Gedanke, der für das weitere religiöse Leben im Mittelalter ausschlaggebend sein sollte:

„Hier auf Erden sollten Lebensentwürfe verwirklicht werden, wie sie in der Schrift vorgegeben sind. Leitbild war die Einheit der Kirche.“10

Papst Gregor verband dieses Ziel an erster Stelle mit einer Reform der kirchlichen Hierarchie:

„Ein aus der Heiligen Schrift abgeleiteter Lebensentwurf, in dem das Priestertum neben und über den Laien stand; ... eine Form der kirchlichen Einheit, verbunden mit der absoluten päpstlichen Führungsrolle. Priestertum und monarchische Stellung des Papstes waren die Leitbilder.“11

Die Reform zielte auf die Unabhängigkeit und Freiheit der Kirche („Libertas ecclesiae“) gegenüber der weltlichen Macht, vor allem gegenüber dem Kaiser. Sie wehrte sich dagegen, dass Bistümer und Abteien durch Laien, d.h. durch Könige, Fürsten und Adlige vergeben wurden (die sog. Laieninvestitur), z.B. durch Zahlungen von hohen Geldsummen (Simonie)12 oder durch Fürsprache einflussreicher Persönlichkeiten, die dem Bewerber, nach erfolgreicher Übernahme eines Bistums, zusätzliche Verpflichtungen aufnötigten.13 Die Investierten standen in dauernder Abhängigkeit ihrer Gönner. Infolge dessen waren sie auch meist nicht am Seelenheil der Menschen interessiert, sondern an der wirtschaftlichen und finanziellen Ausbeutung. Das führte u.a. dazu, dass sie für geistliche Amtshandlungen Geld verlangten. Um dem Priestertum eine neue Würde zu verleihen, forderten die Anhänger der päpstlichen Reformen die Einhaltung des Zölibats.14 Deshalb verkündete Papst Gregor, „dass nur der würdige Priester wirksam die religiösen Funktionen vollziehen könne.“15 Er ließ die „simonistischen, die nicht ausschließlich von der Kirche berufenen Priester ebenso wie die beweibten und unkeuschen Priester als unrechtmäßige wirkungslose Usurpatoren des priesterlichen Amts“16 bezeichnen und als Ketzer verfolgen, sofern sie weiterhin die Messe zelebrierten oder kirchliche Ämter weiter erwarben17:

„Priestern, Diakonen und Subdiakonen, die im Verbrechen der Hurerei (des Ehebruchs mit der Kirche) verharren, verbieten wir im Namen des allmächtigen Gottes und in der Vollmacht des heiligen Petrus den Eintritt in die Kirche, bis sie Buße tun und sich bessern.“18

Den Garanten für glaubwürdige Geistliche und für die Unabhängigkeit der Kirche und Klöster sah Gregor in einem starken Papsttum: Papst Gregor VII. (*1019/30 +1085), der zeitweise Mönch eines cluniazensischen Klosters war, bevor er an die Kurie berufen und 1073 Papst wurde, war davon überzeugt, dass es in der Welt nur um

„das Ringen zwischen dem Gottes- und dem Teufelsreich, um den kämpferischen Einsatz der Gotteskinder [ging], damit der Friede, die Gerechtigkeit und Liebe Gottes möglichst viele Menschen erfülle. Zu diesem Kampf waren alle Christen, vor allem jedoch die geistlichen und weltlichen Amtsträger gerufen.“19

Gottes Reich war für Gregor die ecclesia universalis (die universale Kirche) mit den von Gott eingesetzten Gewalten der weltlichen und der geistlichen Macht (Regnum, Königtum und Sacerdotium, Priestertum). In dieser universalen Kirche sollte Gott ungehindert wirken können. Für die göttlichen Dinge waren aber für Gregor ausschließlich die Priester zuständig. Aus diesem Grund besaß das Sacerdotium den höheren Rang. Die Priester sollten frei sein für das göttliche Handeln in der Welt. Es ging Gregor um die Unabhängigkeit des Klerus und der Klöster von aller weltlichen Einflussnahme. Die dem Sacerdotium gebührende Autorität konnte aber nach Gregor nur einer sichern: der Papst in Rom.20 Daher glaubte Gregor, alle Christen müssten „dem für ihr Seelenheil verantwortlichen Papst gehorchen und unter seiner Führung für das Gottesreich streiten, nicht nur die seiner oberbischöflichen Gewalt untergebenen Priester und Mönche, sondern auch die weltlichen Herrscher.“21

Gregor beabsichtigte nicht, die königliche Herrschaft zu entmachten. Es ging ihm neben der Unabhängigkeit der Priester auch darum, dass die weltlichen Herrscher Christus als ihr Haupt anerkennen. Wenn ein weltlicher Herrscher Christus nicht folge, dann entmachte er sich selbst. Die radikale Konsequenz Gregors:

„Kraft des päpstlichen Rechtes, letztlich zu entscheiden, wer Gottes und wer des Teufels sei, forderte er, einen unwürdigen Herrscher absetzen und die Untertanen vom Treueid lösen zu dürfen.“22

Es waren schließlich die geistlich-spirituellen Impulse der gregorianischen Reform, die einen neuen Aufbruch des religiösen Lebens in der Kirche verursachten: der Gedanke von einem würdigeren und glaubwürdigeren Klerus. Das Wirken eben jener „reformierten“ Kleriker, die wie die Apostel in Armut Christus nachfolgen wollten („vita apostolica“) und deshalb auch als Wanderprediger umherzogen, riefen in den einfachen Gläubigen eine neue Religiosität hervor.23 Sie setzten neue religiöse Bewegungen in Gang. Die vita apostolica und die paupertas vitae, ein Leben auf Wanderschaft wie die Apostel und die radikale Armut Christi, wurden innerhalb dieser Bewegungen zu den wichtigsten geistlichen Werten.24

Die reformatorischen Kräfte, die nach innen die Erneuerung der kirchlichen Hierarchie anstrebten, wirkten auch nach außen auf die Laien:

„Die religiösen Kräfte, die das Reformpapsttum zum Widerstand gegen den simonistischen und beweibten Klerus aufgerufen hatte, waren vielfach zu selbstständiger Aktivität erwacht und begnügten sich nicht mit der erneuerten Geltung der Klosterregel und des Kirchenrechts. Die Evangelien und Apostelschriften selbst wurden ihnen zur Norm des wahrhaft christlichen Lebens, zur Quelle ihrer Frömmigkeit, zum Appell an jeden Christen, sich wie Jesu Jünger und Apostel zu verhalten. Nach deren Weisung begannen Mönche, Eremiten, Kanoniker zu predigen, um die Gläubigen auch außerhalb des Klosters und Klerus aufzurütteln und für ein wahrhaft christliches Leben zu gewinnen.“25

Papst Gregor selbst rief Laienvereinigungen, wie die Pataria in Mailand, auf, gegen den unwürdigen Klerus vorzugehen.26 Er förderte auch den Gedanken, sich wieder mit der Ostkirche zu vereinigen und Jerusalem aus der Hand der Muslime zu befreien. Sein Nachfolger Urban II. (1088-1099) setzte schließlich den ersten Kreuzzug (1096-1099) in Gang. Hinter dem Ruf, das heilige Land zu befreien und die „Ungläubigen“ zu töten – der Papst betonte, so schrecklich sich dies für uns heute anhört, es sei Christenpflicht, fremdes und gottfernes Volk zu töten27 – verbarg sich ein

„mächtiger Ausdruck von Laienfrömmigkeit, der das Ideal der Bußpilgerschaft mit dem Gedanken des Heiligen Krieges verband, was die päpstliche Herrschaft weiter stärken sollte.“28

Trotzdem kann zur Zeit Gregors von einer direkten Förderung der Laienfrömmigkeit nicht die Rede sein. Im Zusammenhang mit einer „vita apostolica“ oder mit einem vertieften geistlichen Leben kam der einfache Gläubige, der Laie, überhaupt nicht vor: Man verstand darunter eine „vita communis“, wie sie in den Klöstern gelebt wurde29, und für Papst Gregor war das Wort „apostolisch“ gleichbedeutend mit „päpstlich“.30 Auch wenn die gregorianische Reform zu den bedeutsamen Umbrüchen beitrug31, so vollzog sich diese Reform „unter dem Banner der Rückkehr zur alten Ordnung, nicht unter dem des Aufbruchs“32.

Doch die von der Reform geweckten Geister meldeten sich zu Wort und ließen sich nicht mehr zum Schweigen bringen. Sie richteten sich schließlich gegen die von Gregor reformierte Hierarchie, die sie kritisch zu hinterfragen begannen, zum Beispiel

„ob die kirchliche Ordinierung des Priesters die einzige und ausreichende Berechtigung zur Vollziehung des christlichen Heilswerkes sei; ob nur die Kirche berufen und dazu eingesetzt sei, allein durch die von ihr bestellten Vertreter den göttlichen Heilsplan, den die Evangelien und die Apostel verkündet hatten, zu verwirklichen; ob nicht jeder einzelne Christ durch die Gebote der Evangelien und das Beispiel der Apostel aufgerufen sei, sein Leben unmittelbar nach den evangelischen und apostolischen Normen auszurichten; und ob andererseits derjenige ein echter Priester sei, der zwar von der Kirche dazu ordiniert ist, aber nicht lebt, wie das Evangelium es verlangt und wie die Apostel lebten. Aus solchen Fragen und Zweifeln erwuchs eine religiöse Gesinnung, die das Wesen des Christentums nicht mehr in der Kirche als Heilsordnung und in der Kirchenlehre als Dogma und Tradition erfüllt und verwirklicht sah, sondern nach einer Verwirklichung des Christentums als einer religiösen Lebensform suchte, die für jeden einzelnen echten Christen unmittelbar verbindlich und für sein Seelenheil wesentlicher sei als seine Stellung im hierarchischen Ordo der Kirche oder sein Glauben an die Lehren der Kirchenväter und Theologen.“33

Die kirchliche Heilsordnung sowie das theologische Lehrgebäude sollten sich von den Anweisungen des Evangeliums und dem Vorbild der Apostel her legitimieren, d.h. irdische Güter zu lassen und wie die Apostel in der Nachfolge Christi das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden. Diese Gedanken waren revolutionär, denn im religiösen und kirchlichen Leben hatten sie im Abendland bisher keine große Rolle gespielt34:

„Diese beiden Gedanken, die Forderung der christlichen, evangelischen Armut und des apostolischen Lebens und Wirkens, sind zu Brennpunkten einer neuen Auffassung vom Wesen des Christentums geworden, von der aus einerseits die bisher bestehende kirchliche Ordnung und Lehre der Kritik unterzogen und andrerseits ein neues Richtmaß für eine wahrhaft christliche Lebensgestaltung gesucht wird.“35

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9783429060831
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