Kitabı oku: «Omega», sayfa 3

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Am Telefon sah sie, dass der Anrufbeantworter blinkte. Sie würde es Marc gleich morgen früh sagen. Morgen würde er vermutlich Karina Marie sehen wollen. Wie sie wohl ausschauen würde? Würde er das aushalten können?

Und sie selbst? Was alles würde danach noch passieren?

Sie wusste nicht annähernd, wie tief sie noch fallen würde.


KAPITEL 2
TRAUMA


Er stierte an die Decke. Schlafen konnte er ohnehin nicht. Immer wieder drehte sich der Raum.

Bring’ dich ‘runter!

Er stellte sich vor, wie sie angegriffen wurde.

Hatte sie ihn gesehen? … Das Messer … Es muss ein langes gewesen sein … Sie war auf so etwas nie vorbereitet worden … kannte keine Abwehrtechniken …

Bei dem Gedanken schloss er wieder die Augen. Lebensbilder zogen vorbei. Ihr gemeinsamer Flug, ihr ehrliches Entsetzen, als er ihr bei der Landung das Flugzeug überließ. Palma de Mallorca, die Bar Abaco, Blumen, Musik, der Moment, in dem er sicher war, dass er diese Frau, die mit Johannes Ericson in ein neues Leben segelte, liebte.

To be with you – to be free.

Er öffnete die Augen.

Bring’ dich ‘runter, Marc. Kontrolle … nein, ich will mich nicht mehr kontrollieren … alles macht keinen Sinn mehr … Wildgänse über dem Flugplatz Schönhagen … ihre SMS: Ich will dich …

Der Weinkrampf übermannte ihn. Die Musik dröhnte in seinem Kopf:

Can you hear me, can you hear me,

through the dark night, far away …

Er wollte nicht mehr, schrie:

M a r i e, bitte lass’ mich nicht allein! Komm zurück!

Er wälzte sich auf die leere Seite des Bettes. Das Kopfkissen roch nach ihr und Pia. Er umschloss es, sog den Geruch des Babys ein.

Das Weinen ging in ein haltloses Schluchzen über. Er wünschte sich den Tod.

Jelke hatte das Weinen gehört, war aus dem Bett gesprungen, hatte einen Bademantel gegriffen und leise die Tür geöffnet. Marc stand draußen auf dem kleinen Balkon über der Veranda. Sie wusste, dass das ihrer beider Lieblingsplatz gewesen war. Einen Augenblick fürchtete sie, dass Marc in den Abgrund springen würde.

Sie ging zu ihm und sagte: »Marc, du musst dich um Pia kümmern.«

Er drehte sich nicht einmal herum. Sie hatte recht. Er war in der Wirklichkeit angekommen. Fast.

»Möchtest du sprechen?«

Er nickte und folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie holte eine Flasche Wasser und überlegte, ob sie ihm auf dem ärztlichen Weg ein angstlösendes und beruhigendes Mittel organisieren sollte. Aber sie ließ es sein. Beruhigungstabletten verhindern nur die zeitnahe Auseinandersetzung mit dem Leid, aber sie stoppen es nicht. Und Marc war gerade dabei, sich auseinanderzusetzen.

»Du bist Kindergärtnerin, Jelke. Was braucht ein acht Monate altes Kind, um zu überleben?«

»Natürlich eine Person, die sich mit der Zuwendung, Verpflegung und der hygienischen Betreuung auskennt, Kleidung ist weniger das Problem.«

»Wie lange geht das gut, von dem seelischen Leid des Kindes einmal abgesehen?«

»Es ist gar nicht gesagt, Marc, dass ein Kind in der Trennungssituation von den leiblichen Eltern leiden muss. Entscheidend ist, dass es gut behandelt wird. Im ersten Lebensjahr erziehen Eltern übrigens intuitiv richtig in allen Kulturen«, ergänzte sie, »das Kind hört zwar nicht mehr die vertrauten Stimmen und sieht andere Gesichter, aber das muss überhaupt nicht schädlich sein.«

»Was könnte schädlich für Pia sein?«

»Wenn man sich nicht genügend mit ihr beschäftigt und sich nicht um sie kümmert. Ich kenne Pia als ein Baby, das gerade in der Krabbel-, Sitz- und Steherfahrung ist. Ist das so?«

Er bejahte.

»Sie müsste allerdings beaufsichtigt werden, wenn sie einmal nicht im Laufstall ist.«

Könnten wir ja Ali Naz schreiben, dachte er verbittert.

»Es muss also für diese notwendige Betreuung und Logistik irgendwen geben«, sprach er leise, »hier oder irgendwo, vielleicht in Hamburg, vielleicht ist sie schon auf einem Schiff in Richtung Naher Osten. Vielleicht wird sie von irgendeiner Person aufgezogen, um später mit einem Islamisten verheiratet zu werden … vielleicht ist sie auch tot …«

»Denk’ erst einmal positiv und an das Naheliegende, Marc. Du bist Krisenmanager wie kein anderer. Was könnte als Nächstes bei einem Kindesraub geschehen?«

»Ich hoffe, dass eine Forderung kommt, egal was für eine. Hauptsache, es gibt ein Zeichen … ein Lebenszeichen«, flüsterte er.

»Es wird geschehen, Marc, glaube fest daran!«

Sein Weinen kam wieder.

»Wie soll ich jetzt noch an etwas glauben?«

Jelke ließ es so stehen. Er war viel weiter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Doch sie wusste, dass der vollkommene Absturz drohte, wenn Pia tot aufgefunden werden würde. Das hielt sie angesichts der Fahndung und dem polizeilichen Druck auf den oder die Täter für durchaus möglich.


»Holms hat sich angemeldet, bist du bereit, mit uns zur Rechtsmedizin zu fahren?«

Jelke hatte bewusst nicht das Wort Leichenhaus gewählt. Marc wusste ohnehin, dass damit das Institut für Rechtsmedizin im Blutenfeld gemeint war. Jeder tote Hamburger kam dorthin, bei dessen Tod Fragen auftraten. Ebenso wer eingeäschert werden sollte.

»Wann soll sie seziert werden?«

»Das weiß ich nicht. Da ist übrigens eine Nachricht auf eurem Anrufbeantworter.«

Marc sah den Anruf von gestern Abend, unbekannte Nummer, drückte auf Abspielen und hörte nach wenigen Sekunden ein hässliches langes, sich wiederholendes Lachen.

HAH, HAH, HAH, HAAAAAAHHHH …

Es war so laut, dass auch Jelke zurückschreckte.

»Was war das, Marc?«

»Ich weiß es nicht. Vermutlich ein Irrer. Und ich verstehe es nicht, denn unsere Nummer ist draußen eigentlich nicht bekannt.«

Es beunruhigte ihn, aber er verdrängte es erst einmal, doch löschte er den Anruf nicht.

In der Nacht hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie Marie wohl aussehen würde. Würden ihre Augen geöffnet sein? Würden sie Sorge tragen, dass der Mund nicht grässlich offenstand, da doch das Kiefergelenk schon nach zwei bis drei Stunden von der Leichenstarre betroffen war. Er wollte sie nicht tot sehen und musste es doch.

Unentwegt hatte er darüber nachgedacht, wie sie beim Abschied vor der Übung auseinandergegangen waren. Es war etwas spät geworden und sein Tschüss war lieb – aber eher oberflächlich geblieben. Anders als sonst hatte er sich von Pia nicht intensiv verabschiedet.

Warum hatte er sich nicht mehr Zeit dafür genommen? Warum? Und immer wieder die Frage, warum er so spät gekommen war. Es wäre so leicht gewesen, mit beiden einkaufen zu gehen.

Im Sektionssaal der Rechtsmedizin hatten sie eine Nachtschicht eingelegt. Der Staatsanwalt hatte derart Druck gemacht, dass normalerweise der Direktor des Institutes für Rechtsmedizin im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE), Professor Dr. Klaus Buschmann, die Obduktion selbst vorgenommen hätte. Aber er befand sich im Urlaub, und so obduzierte der erfahrene und angesehene Gerichtsmediziner Dr. Faysal Mahmoudi, der hier seit zwei Jahren im Austausch mit einem Krankenhaus in Damaskus arbeitete. Keiner kannte sich nach vielen Jahren Krieg in Syrien mit der medizinischen Aufklärung von Tötungsdelikten so gut aus wie er. Während hier in Hamburg jeder Dreißigste eines nicht natürlichen Todes starb, war es in Damaskus im Schnitt jeder Zweite.

Zusammen mit einer jungen Ärztin und einem Sektionsgehilfen sowie in Anwesenheit einer Staatsanwältin und zweier Beamter aus der SoKo KILO MIKE obduzierten sie in dieser Nacht nach der üblichen Ablaufvorgabe, obwohl es schon jetzt offensichtlich war, dass die junge Frau am Vortag gegen 16.00 Uhr auf offener Straße mit einem Schnitt durch die Kehle umgebracht worden war. Gerichtsmediziner interessiert das zunächst nur sekundär. Sie lassen die Toten sprechen.

Sie begannen sofort nach Einlieferung von Frau Anderson mit der äußeren Leichenschau, suchten außerhalb des geöffneten Halsbereiches andere Verletzungen und prüften, ob alle Körperöffnungen intakt waren. Dann machte Mahmoudi einen T-Schnitt über den Oberkörper, von Schulter zu Schulter und in gerader Linie nach unten bis zum Schambein. Er untersuchte Kopf, Brust und Bauchhöhle, Gewebeschichten auf Verletzungen, studierte den Aufprall auf den Boden und suchte Leichenflecken, um sie in Zusammenhang mit der Todeszeit zu bringen.

Er diktierte jeden einzelnen Schritt und ließ Fotos anfertigen, insbesondere vom Schnitt durch den gesamten vorderen Halsbereich, der alle Halsweichteile durchtrennt hatte, was zum schnellen Tod durch Verbluten geführt hatte. Eine andere Gewalteinwirkung konnte trotz intensiver Suche nicht festgestellt werden und wurde daher auch ausgeschlossen.

Der Schnitt durch den Hals war durch eine Klinge von etwa zehn Zentimetern Länge erfolgt. Es war Aufgabe der ermittelnden Beamten, möglichst das Tatwerkzeug zu finden, während sich die Forensische Abteilung mit den Fasern an Karina Maries Kleidung sowie am Kinderwagen auseinanderzusetzen hatte. Frische Spuren am Untersuchungsobjekt und am Tatort dürfte es genug geben.

Bis zum Morgen war die Leiche wieder zusammengenäht und so hergerichtet worden, dass ein würdiger Abschied möglich sein sollte.

Dr. Mahmoudi kannte die Abschiedsszenen von so vielen Begegnungen, dass er die Gefühle der Angehörigen gut einschätzen konnte. Das war auch der Augenblick, in dem er selbst im Anblick des Leides Gefühle entwickelte und nicht mehr den gerade sezierten Menschen als Objekt sah, sondern als einen Menschen mit einer Seele.

Er hatte Karina Marie nicht im Sektionsaal belassen, der kalt durchgekachelt war und in dem grüne Plastiktücher und diverse Operationsinstrumente die Umgebung bestimmten, sondern eigens in einen schlichten weißen Abschiedsbereich verlegen lassen, der mit einem Kreuz an der Wand und einer brennenden Kerze ausgestattet war.

Marc wusste, dass man ihren Körper bereits in der Nacht aufgemacht hatte. Er hielt am Eingang inne und versuchte, das unwirkliche Bild zu verstehen. Er verstand es nicht. Sie gehörte dort nicht hin.

Sie war mit einem weißen Tuch zugedeckt. Er sah nur ihren Kopf und die Arme. Der Mund leicht geschlossen. Beide Hände waren friedlich auf dem Bauch übereinandergelegt.

Sie wird sich jetzt zur Seite wenden, lachend aufstehen und sagen, das hier ist alles ein Irrtum …

Behutsam ging er auf sie zu. Ganter und Jelke blieben an der Tür stehen.

Erst jetzt nahm er den großen, kräftigen Arzt wahr. Ein warmes, sympathisches Gesicht, das sein Beileid ausdrückte, aber dessen Name er gar nicht aufnahm.

Mit jedem Zentimeter, den er sich zu ihr wagte, wurde sie schöner. Ja, sie war blass und ihre Augen waren geschlossen, aber um ihren Mund schien sie zu lächeln. Er legte seine Hand über ihren Kopf, schaute zum Arzt, der nickte, und beugte sich über sie, küsste ihre Stirn.

Ihr langes schwarzes Haar war um ihre Schultern gelegt. Ihm war klar, dass er nur ihren Kopf und ihre Hände berühren durfte, alles andere war tabu. Er kannte diesen gewaltvollen, grausamen und todbringenden Schnitt durch die Kehle aus Kriegszeiten. Doch der Krieg war etwas anders, hier stand er am Totenbett seiner Ehefrau.

Er wollte stark bleiben, es ging nicht mehr. »Marie, ich war zu spät, es ist meine Schuld …«

Es folgte ein so starker Zitteranfall, dass er sich an der Bahre festklammern musste.

Dr. Mahmoudi schob ihm einen Stuhl zu.

Marc legt seine Hand auf ihre Hände und spürte ihre kalte Haut. Er war versucht, seine Wärme an sie zurückzugeben, doch sie blieb kalt. Sie lag einfach nur da und lächelte. Sie war es. Und sie war es nicht.

Er versuchte, sich die letzten Tage vorzustellen. Es ging nicht. Er fand keinen klaren Gedanken. Die ganze Nacht hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Sie war so nah und unendlich fern. Er fand keinen Zugang.

Nach einigen Minuten erhob er sich.

Dr. Mahmoudi kam zu ihm und überreichte ihm eine Plastiktüte.

»Darin sind die Uhr Ihrer Gattin, die Halskette mit einem Medaillon, zwei Ohrstecker und der Ehering.«

»Danke. Sagen Sie mir, musste sie leiden, Doktor, bitte ehrlich, hat sie gelitten?«

»Nein, Herr Anderson. Das ging so schnell, da war eine Schrecksekunde, und dann war es auch schon vorbei. Ich versichere Ihnen, sie hat nicht gelitten.«

Marc versuchte es zu verstehen und hoffte, dass es so gewesen war.

»Was wird jetzt weiter mit ihr geschehen?«

»Das wird Ihnen nun Herr Holms erläutern, und die Notfallseelsorge wird Ihnen sicherlich durch die nächsten Tage helfen.«

Dabei schaute er Jelke durchdringend an, als wolle er ihr bezüglich Marc etwas signalisieren.

Marc verharrte. Irgendetwas war noch.

»Darf ich noch einen Augenblick mit ihr allein im Raum sein?«

»Natürlich, Herr Anderson, solange sie wollen.«

Die Tür schloss sich hinter ihnen. Er war allein.

Er beugte sich über sie, küsste ihren kalten, bläulichen Mund.

»Ich liebe dich, Marie, ich liebe dich so sehr.«

Er studierte ihre Lippen, die nichts sagten, aber dennoch hörte er ihre Worte:

»Ich liebe dich auch, Marc. Sei nicht traurig. Ich bin bei dir, in deinem Herzen, für ewig. Nichts kann uns trennen.«

Seine Tränen flossen über ihre Lider.

»Bitte, Marie, sag’ mir, was ist mit Pia geschehen? Wo ist unsere Tochter?«

Er streichelte ihre Lippen. Sie blieben stumm. Er nahm ihren Ehering aus der Plastiktüte und zog ihn über seinen kleinen Finger.

Dann beugte er sich zurück, erfasste ihr vertrautes Gesicht, das ihm in seiner Leblosigkeit und Kälte unerbittlich zeigte, dass er nicht Karina Marie küsste, sondern ihre Hülle.


»Danke, dass Sie zu uns gekommen sind, Herr Anderson, ich bin Joe Weber, LKA 4. Mein tief empfundenes Beileid. Wir können nur ahnen, was Sie derzeit durchmachen.«

Er schüttelte ihm die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. »Mögen Sie einen Kaffee trinken?«, fragte Ganter Holms. Marc nickte.

Die Tür zum Nachbarraum, einem Besprechungszimmer, war geöffnet.

Marc sah dort an der Wand eine Tafel mit der Bezeichnung: SoKo KILO MIKE, etliche Namen mit Funktionen, die Besetzung der Sonderkommission und verschiedene Fotos, darunter eines von Karina Marie, Pia und mehrere von Ali Naz in verschiedenen Ausführungen.

»Gibt es Ermittlungserkenntnisse?«, wollte Marc wissen.

Weber schüttelte verneinend den Kopf.

»Es ist wie verhext! Wir haben lediglich eine Silhouette von einer Person auf dem Video, wie sie in den Park hineingeht, und auch nur von hinten, mit Kapuze, also nicht den eigentlichen Tathergang. Wir sind noch nicht einmal sicher, ob diese Person der Mörder ist.«

Weber zeigte ihm das Bild.

»Sagt Ihnen das etwas?«

Marc schaute es sich genau an.

»Nein, mit Kapuze laufen bei Nieselregen wahrscheinlich Tausende durch Hamburg.«

»Es gibt auch keine Zeugen. Der kurze Weg durch den Park und sogar der Eintritt in ihre Wohnstraße war zur Tatzeit offensichtlich menschenleer.«

»Aber es muss doch Spuren geben. Irgendetwas hinterlässt doch jeder Täter!«

»Wir haben eine Vielzahl von Hinweisen, die derzeit forensisch ausgewertet werden«, sagte Holms, »Fußspuren, die Kleidungsstücke Ihrer Frau, der Kinderwagen, die Umgebung, aber bisher keinen Treffer.«

»Ist ja auch schwer vorstellbar, dass Ali Naz in eurer Datei ist«, meinte Marc verbittert.

Weber trat zum Fenster und schaute auf die Flotte der geparkten Streifenwagen.

»Wir ermitteln in alle Richtungen, Herr Anderson. Ein Zettel mit Allahu Akbar und Ali Naz heißt nicht zwangsläufig, dass er auch der Täter ist, zumal wir noch keine Bestätigung haben, dass er überhaupt lebt.«

»Sie wollen damit sagen, dass es jemand sein könnte, der mit islamistischem Motiv als Trittbrettfahrer aufgesprungen ist?« »Wie gesagt, alles ist vorstellbar. Wir haben in Hamburg eine salafistische Szene. Das ist auch ein Grund, warum wir Sie hergebeten haben.«

Marc schaute ihn eher desinteressiert an. Er wollte Informationen über Pia haben und keine theoretischen Ausführungen über irgendwelche islamistischen Zirkel in Hamburg. Auf dem Täterzettel stand Ali Naz, und es gab für den ein klares Motiv. Was also sollte diese Unterredung?

Holms schien seine Gedanken zu lesen.

»Wir können nicht ausschließen, dass Sie selbst Ziel eines weiteren Anschlages sind, deswegen wurde hier im Haus entschieden, Ihnen Personenschutz rund um die Uhr anzubieten.«

Marc musste nicht lange überlegen. »Sehr freundlich, Herr Weber, danke, aber ich brauche das wirklich nicht, ich bin selbst Personenschützer – auch in eigener Sache.«

»Ja, aber mit einem Gefährdungspotential, das Sie vielleicht trotz aller Professionalität nicht beherrschen könnten, Herr Anderson.«

Marc war jemand, der von Grund auf gelernt hatte, Verfolgungen zu erkennen und zu handeln. Jetzt, nach der Ermordung seiner Frau, war er natürlich sensibilisiert, eigentlich schon hypersensibilisiert. Er scannte alles um sich herum wie ein Radar, das nicht abschalten konnte.

»Ich danke Ihnen wirklich, das ist sehr freundlich, aber den Schutz möchte ich nicht.«

Weber schaute Holms an, als wolle er signalisieren, dass Anderson selbst erkennen müsse, welche Chancen er gerade ausschlug. Der Polizeipräsident höchstpersönlich hatte diesen Personenschutz vorgeschlagen. Eine derart personalintensive Maßnahme gab es nicht jeden Tag als Angebot.

»Ich verstehe«, sagte Weber, »wenn Sie sich anders entscheiden, lassen Sie es uns wissen, einverstanden?«

»Einverstanden, Herr Weber.«

»Gut, dann wollen wir über Pia sprechen. Das Ziel der SoKo geht in zwei Richtungen. Wir wollen den Mord an Ihrer Frau aufklären und die Spuren zu Ihrer Tochter finden. Wir behandeln Pias Verschwinden als Entführung. Also gehen wir auch davon aus, dass die Täterseite mit Ihnen in Kontakt treten will.«

Die Polizei sprach aus, was Marc hoffte. Er hatte sich längst auf einen Kontakt eingestellt, am Telefon, am Auto, eigentlich überall.

»Sie wollen meine Erlaubnis, das Telefon abzuhören und die Post einzusehen, richtig?«

»Richtig«, sagte Holms, »und zwar schon heute. Und gern hätten wir auch einen Beamten in Ihrem Haus, der Ihnen für den Fall der Kontaktaufnahme zur Seite steht.«

Marc wusste, dass seine Chancen, den Weg zu Pia ohne Polizei zu finden, schlecht waren. Er war auch viel zu fertig, um einen eigenen Plan anzugehen. Und selbst wenn er einen Alleingang machen würde: Die Polizei musste in dem Offizialdelikt weiterermitteln. Dazu war sie gesetzlich verpflichtet. Also würde er mit ihr maximal zusammenarbeiten, und zwar solange, wie er davon überzeugt war, dass sie ihre Sache gut machte. Aktuell hatte er von Weber und Holms einen guten Eindruck.

Weber hatte die Formblätter bereits in der Hand. Marc erkannte sie sofort.

Mein Gott, wie oft habe ich das mit meinen Kunden durchgesprochen, und jetzt bin ich selbst betroffen …

Eine Einverständniserklärung für die Nutzung seines Fahrzeuges, einschließlich technischer Veränderungen, die Überwachung, das Mithören, die Aufzeichnung und die inhaltliche Verwertung der Telefonate und eine Postvollmacht für die uneingeschränkte Postkontrolle. Die Behörde hatte ihrerseits auch eine Kostenübernahmeerklärung für die Nutzung seines Fahrzeuges und aller Telefone inklusive einer Kostenerstattung vorbereitet. Marc wusste auch, dass die Polizei bei einer Lösegeldübergabe von jeglicher Haftung freigestellt sein wollte. Doch das war hier kein Thema, konnte aber eines werden, sollte es tatsächlich ein Geldmotiv sein, was er hoffte, aber nicht glaubte.

Allein mit diesen polizeilichen Maßnahmen wäre er bereits rund um die Uhr transparent. Zu zweit, mit ihr, hätte er das abgelehnt. Doch jetzt war es ihm egal. Fast egal.

Als er die unterschriebenen Blätter mit einigen Streichungen zurückgab, sagte er:

»Ihr könnt das Haus verwanzen, alles okay. Aber es kommt niemand ins Haus, mein Handy und mein Auto bleiben auch sauber. Ich pass’ da schon auf.«

Weber sah ihn eindringlich an. »Es ist uns bewusst, dass diese Maßnahmen ein gravierender Eingriff in Ihre Persönlichkeitsrechte sind. Aber wir halten sie für zwingend notwendig. Wollen Sie diese Chance wirklich auslassen, Herr Anderson? Unsere operativen Maßnahmen könnten der Schlüssel zur Freiheit Ihrer Tochter sein.«

Marc dachte an das durchdringend hämische Lachen am Telefon, aber maß dem unverändert keine Bedeutung bei. Die Dinge würden sich entwickeln und sein persönliches Reaktionspotential, so glaubte er, sei am Ende größer als das der Polizei. Sein Gefühl sagte ihm ohnehin, dass er Pia im Ausland suchen müsste. Seine Intuition hatte ihn nur selten getäuscht.

Weber registrierte verärgert das negative Kopfschütteln, zeigte dies aber nicht. Er wusste, dass Anderson immer eigenständig gehandelt hatte, das war praktisch ein Gen von ihm. Hier schuf ihm Anderson allerdings ein Riesenproblem für die Ermittlungsarbeit.

»Okay, Ihre Entscheidung, Herr Anderson. Umso mehr müssen wir jetzt über ihre Waffen reden. Sie haben als Chef der Maritime Security Services ein eingetragenes Bewachungsunternehmen, und Sie sind Jäger. Lassen Sie uns Ihre Waffen im Einzelnen durchgehen. Das ist dann unsere letzte Frage. Danach bringen wir Sie nach Hause.«

Marc nickte.

»Da wäre noch etwas, Herr Anderson«, sagte Weber im Hinausgehen.

»Wir haben, wie Sie wissen, bei Ihrer Frau auch ihr Handy gefunden. Es ist im Sperrzustand. Können Sie uns den Entsperrungscode geben?«

Marc überlegte kurz. Er hatte ihnen die Genehmigung zur Telefonüberwachung gegeben. In Maries Handy würden sie all die liebevollen Dialoge finden, natürlich auch die Kontakte und Fotos.

Weber sah Marcs Zweifel.

»Sie bekommen das Gerät unbeschädigt und mit unverändertem Inhalt zurück. Für die Spurensuche ist das Handy immens wichtig.«

Im Grunde konnte Marc die Polizei verstehen. Sie brauchten jede erdenkliche Quelle für die Spurensuche. Er rief seinen Password-Organizer auf und gab dem Kriminalbeamten den Code zur Entsperrung des Gerätes und die PIN für die SIM-Karte.

Marc hatte Jelke gebeten, die Beerdigung zusammen mit dem Bestatter vorzubereiten. Er wünschte sich die Trauerfeier im kleinsten Familien- und Freundeskreis, zumal der Mord und die Kindesentführung unverändert bundesweit Schlagzeilen machten. Er brauchte Ruhe. Doch Jelke hatte ihn überzeugt, dass der Tod von Karina Marie viele Menschen zutiefst betroffen gemacht hatte, die auch ein letztes Mal bei ihr sein wollten. Marc fragte sich, was Marie, die evangelisch und gläubig gewesen war, sich wünschen würde. Sie hatten sich auf eine kirchliche Trauerfeier für die Öffentlichkeit geeinigt. Die Urnenbeisetzung sollte im kleinsten Kreise stattfinden.

Er hatte Marie einmal gesagt, dass er im Todesfall zu Asche werden wolle und sie die Asche zu sich nehmen möge, wenn sie das möchte. Sie hatte das für sich ebenso gewünscht. Mit dem Bestatter konnte er sich entgegen dessen Vorschriften darauf einigen, dass ein kleiner Teil ihrer Asche bei ihm bleiben durfte.

Die Tage und Nächte bis zur Beerdigung waren die schlimmsten seines Lebens. Er saß meistens bis tief in die Nacht auf dem Balkon, starrte auf die Elbe und wartete auf einen Telefonanruf oder eine schriftliche Nachricht. Doch es blieb still. Er aß zu wenig, wälzte sich im Bett und starrte an die Decke.

Manches Mal hörte er ihre Stimme so klar, dass er aufschreckte. Oder hörte ihre Schritte. Einmal glaubte er, sie an der Tür vorbeihuschen zu sehen.

Jelke kam jeden Abend. »Ich höre Stimmen, Jelke. Ich werde wahnsinnig.«

»Du wirst wahnsinnig, wenn du weiterhin so viel trinkst«, meinte sie, auf die leeren Bierflaschen zeigend, »aber was du erlebst, ist nicht ungewöhnlich.«

»Warum habe ich das Gefühl, Marie ständig um mich zu haben?«

Jelke wusste inzwischen, was Marc gerne aß und hatte zwei halbe Hähnchen mit Sauerkraut mitgebracht, zum Nachtisch ein Schokoladeneis.

»Möchtest du etwas über diese Wahrnehmungen wissen, Marc?«

»Danke für das Essen, Jelke, ja, bitte.«

»Gut, dann sage ich es einmal allgemein. Wenn ein Mensch, den wir lieben, verstirbt, bricht unsere Welt in sich zusammen. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Wir sehen Finsternis, um uns ist Leere und Schmerz. Noch schlimmer, dieser von uns gegangene Mensch scheint ein Stück von uns mitzunehmen. Der Verlassene lebt in einem Vakuum voller Schmerz und Verzweiflung. Er vegetiert eigentlich mehr und versucht irgendwie, weiter zu existieren.«

»Ziemlich genauso sieht es bei mir auch aus«, meinte Marc.

»Glaubst du eigentlich an die Seele eines Menschen, Marc?«

»Ich weiß nicht, ich glaube eher, was ich sehe, fühle und rieche.«

»Und kannst du Karina Marie fühlen?«

»Ja.«

»Berührt sie dich?«

»Ja, verdammt noch mal, ja«, antwortete er, wieder schluchzend.

Jelke wartete, bis er sich beruhigt hatte.

»Und du hörst sie, riechst sie und träumst von ihr. Wie kann das sein, wenn sie doch tot ist?«

»Weil ich anfange zu spinnen!«

»Nein, Marc, du gehörst zu den wenigen Menschen, die in einer energetischen Verbindung mit dem verstorbenen Menschen stehen können. Du hast Kontakt mit ihrer Seele. Seelen sind Energie.«

Marc stand auf und kreiste durch das Zimmer.

»Ich sehne mich nach diesen Kontakten und möchte aber auch, dass es vorbeigeht. Ich werde sonst noch verrückt.«

»Und wenn du dir vorstellst, dass es ihre Seele ist, die bei dir sein will? Sei mit ihr auf Augenhöhe! Freue dich über den Kontakt! Hab’ keine Angst. Das ist nicht neurotisch, sondern durchaus normal für eine intensive Beziehung.«

Er sah sie ungläubig an.

»Ist das für einen Elitesoldaten so schwer zu akzeptieren?« »Ziemlich«, sagte er. »Wird es vorbeigehen?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Aber die Erfahrung sagt, dass es mit abklingender Trauer weniger wird. Es gibt auch Menschen, die hören eine Stimme ein Leben lang. Die Seele ist unsterblich.«

»Warum höre ich nicht Pia, Jelke?«

»Vielleicht weil sie lebt, Marc. Ihre Seele ist noch nicht unterwegs.«

Marc nahm sie in den Arm. »Danke, Jelke, danke.«

An diesem Abend fuhr Marc zu Karina Maries Eltern, Paula und Erich Hansen. Erich Hansen hatte Marc angerufen, er wolle ihm etwas mitteilen.

Paula begrüßte ihn mit einem freundlichen Lachen. Ihre fortschreitende Demenz ließ kein ernsthaftes Gespräch zu. Es war nicht klar, ob sie überhaupt noch etwas Zusammenhängendes aufnehmen würde, wahrscheinlich nicht. Trotzdem ging Erich mit seinem Schwiegersohn vorsorglich in den Nachbarraum.

Marc drückte seinen Schwiegervater, der dabei steif blieb wie eine Stange. Er konnte keine Gefühle zeigen, schon gar nicht zulassen. Zum Leid von Karina Marie, die ihn oft hatte kitzeln müssen, damit er aus sich herauskam.

»Wie kommt ihr beiden mit dem Verlust zurecht, Erich?«

Sein Schwiegervater, früher Ingenieur, ließ sich schwer in den Sessel fallen. Seine Herzschwäche erlaubte es ihm kaum, sich zu bewegen.

»Marc, ich stehe unter starken Medikamenten. Ich kann nicht lange sprechen. Aber ich muss dir etwas Wichtiges sagen.« Marc sah ihn fragend an.

»Du musst wissen, dass ich mit Karina Marie mein zweites Kind verloren habe, meine zweite Tochter.«

»Eine zweite Tochter? Marie hat mir nie von einer Schwester erzählt.«

»Sie ist auch nicht ihre Schwester, sondern eine Halbschwester. Ich hatte vor Karina Maries Geburt ein Verhältnis mit einer Frau im Irak, während eines Aufenthaltes dort als Leiter einer Baustelle. Aus dieser Begegnung ist eine Tochter hervorgegangen. Der Irak war im Krieg, meine Firma zog mich ab. Ich habe mich mit der Mutter geeinigt, dass ich das Kind mit nach Deutschland nehme. Sie ist bei uns aufgewachsen und war leider Gottes nur schwierig. Sie hatte große Probleme in der Schule, obwohl sie hochintelligent war. Von Paula wurde sie nie wirklich akzeptiert. Der Liebling in diesem Haus war nun einmal Karina Marie. Das war damals das zentrale Problem.«

»Wie heißt sie, wo ist sie jetzt?«

»Sie heißt Sarah, Sarah Hansen. Sie hat uns mit sechzehn Jahren verlassen. Ich vermute, mit fremder Hilfe. Unhöflicherweise hat sie dabei Geld und Schmuck mitgenommen. Ja, sie ist einfach verschwunden und hat uns vorher noch bestohlen. Das gab meiner Frau den Rest!«

Erich hustete, hatte Mühe, die Sätze auszusprechen.

»Weißt du, wohin sie gegangen ist?«

»Es gab einen Zettel. Offensichtlich zurück zu ihrer leiblichen Mutter. Ich habe nachgeforscht, aber wir fanden keine erkennbaren Spuren. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Du kennst die Situation in diesen Kriegsgebieten.«

Marc wartete Erichs Hustenanfall ab.

»Und warum sagst du mir das erst jetzt, Erich?«

»Manches Mal, Marc, spielt das Leben verrückt. Wenn einer geht, erscheint vielleicht jemand, mit dem man nicht gerechnet hat. Der Tod von Karina Marie ist Thema in der Weltpresse. Vielleicht nimmt meine zweite Tochter Sarah jetzt Kontakt mit uns oder mit dir auf. Deswegen wollte ich dir das sagen.«

Marc ging zum Fenster. Er überlegte, ob er das, was ihm auf den Lippen lag, seinem Schwiegervater zumuten konnte. Er drehte sich zu ihm um.

»Ich habe auch noch einen weiteren Menschen verloren.« Sein Schwiegervater sah ihn fragend an.

»Karina Marie war im zweiten Monat schwanger.«

Der alte Mann sackte in sich zusammen und schwieg. Dann erhob er sich langsam und legte seine Hand schwer auf Marcs Schulter. Mehr war ihm aufgrund seiner psychischen Konstitution nicht möglich.

Zu Hause setzte sich Marc an Maries Schreibtisch. Er zögerte etwas, die kleinen Schubladen aufzumachen. Er überlegte, ob Marie einverstanden wäre und konzentrierte sich darauf, mit ihr in Verbindung zu treten. Doch da kam nichts.

Er fand eine mit Blumen bemalte Kiste in einer Schublade, öffnete sie und sah Fotos und seine Briefe aus den Einsätzen. Dazwischen ein Brief, der nicht von ihm stammte. Es war Maries Schrift.

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