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Jörg Kroschel

Welcome to Hell

Thriller

Impressum

Text Copyright © 2019 Jörg Kroschel

Umschlagfoto Copyright © 2019 Jörg Kroschel

Selbstverlag

Alle Rechte vorbehalten

epubli

Autor

Jörg Kroschel, Jahrgang 1967, ist in Recklinghausen aufgewachsen und lebt in Dresden. Seit 2007 ist er Professor für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der Hochschule Zittau/Görlitz. In seiner Freizeit ist er am liebsten irgendwo in der Welt unterwegs; außerdem ist er begeisterter Hobbypilot.

Freitag, 7. Juli 2017, 12.30 Uhr

Luftraum über der Nordsee

Langsam dämmerte Tom wieder in den Wachzustand hinüber. Die Wirkung des Betäubungsmittels schien nachzulassen. Er wusste noch, dass er sich nach dem Pinkeln erbrochen hatte, danach musste er das Bewusstsein verloren haben. Tom ließ die Augen geschlossen. Erst einmal musste er langsam zu sich finden, die Müdigkeit und den Schwindel überwinden.

Sie hatten ihn offenbar tatsächlich in das kleine Flugzeug geschleppt, das er auf der Rasenfläche des Flugplatzes Uelzen gesehen hatte. Aber jetzt bewegte es sich. Der Sitz, auf dem er mehr lag als saß, schwankte sowohl von rechts nach links, als auch von oben nach unten. Er befand sich definitiv in keinem Straßenfahrzeug, das war auch mit geschlossenen Augen eindeutig festzustellen.

Um ihn herum war es laut. Richtig laut. Er hätte nicht gedacht, dass so ein kleines Flugzeug einen solchen Lärm machen konnte. Er war schon mehrfach in Düsenjets geflogen, ganz leise war es dort auch nicht, aber der Lärm im Inneren eines Verkehrsfliegers war nichts im Vergleich zu dem hier.

Vorsichtig wagte er es, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Er hing in dem Gurt nach links, sein Kopf war halb nach unten gerichtet. Er blickte auf den Steuerknüppel des Flugzeugs sowie die Hüfte und die Beine des neben ihm sitzenden Piloten. Auch einen Teil des Armaturenbrettes konnte er aus den Augenwinkeln erkennen. An dem Gürtel des Piloten hing ein mit einem Druckknopf gesichertes Etui, das aussah, als könnte es ein Messer enthalten. Tom befand sich auf dem rechten Platz im Cockpit des kleinen Zweisitzers. Offenbar war es wie im Straßenverkehr, der Pilot saß links, der Passagier rechts.

Den Steuerknüppel, der sich auf einer Konsole zwischen ihm und dem Piloten befand, umfasste eine Hand, eine Männerhand, soviel konnte Tom erkennen. Er wanderte mit dem Blick den Arm des Mannes hinauf und versuchte dabei, den Kopf nicht ruckartig zu bewegen, damit der Pilot möglichst nicht bemerkte, dass er wieder bei Bewusstsein war. Tom erkannte den Piloten. Neben ihm saß derjenige der beiden Entführer, den Jasminka Igor genannt hatte.

Igor hatte ein Headset auf und sprach jetzt in das kleine Mikrofon, das mit einem Bügel unmittelbar vor seinen Mund gebogen war. Leider konnte Tom nicht verstehen, was Igor sagte, dafür war es viel zu laut in dem Flugzeug. Wahrscheinlich sprach er mit der Stelle, die für die Kontrolle des Luftraums zuständig war, vermutete Tom.

Igor bewegte nun den Steuerknüppel nach links. Das Flugzeug reagierte sofort, es neigte sich zur linken Seite und flog eine weite Kurve. Nach einigen Sekunden richtete Igor das Flugzeug mit einer weiteren Bewegung des Steuerknüppels wieder zurück in den Horizontalflug aus.

Langsam ließ der Schwindel nach und Tom konnte wieder etwas klarer denken. Wie ein Schock drängte sich nun die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass er sich noch immer in Lebensgefahr befand. Was mochte Igor mit ihm vorhaben? Igor, Sergej und Jasminka würden ihn wohl kaum am Leben lassen, da war er sich sicher. Er konnte alle drei beschreiben und kannte ihre Namen. Naja, zumindest ihre Vornamen. Aber das würde doch vermutlich ausreichen, damit die Polizei die drei identifizieren konnte, oder?

Während Tom noch angestrengt darüber nachdachte, was er tun sollte, und dabei immer mehr in Panik verfiel, beugte sich Igor plötzlich über ihn hinweg und öffnete mit einem Handgriff die Tür auf Toms Seite des Flugzeugs. Die Tür klappte nach oben, der Fahrtwind kam mit voller Wucht ins Innere des kleinen Fliegers und der ohnehin schon ohrenbetäubende Lärm multiplizierte sich nochmals.

Bevor Tom wusste, wie ihm geschah, hatte Igor bereits mit einem weiteren Handgriff Toms Sicherheitsgurt geöffnet und versuchte jetzt, ihn nach rechts zur Türöffnung zu schieben. Offenbar wollte er den lästigen Zeugen aus dem Flugzeug werfen. Nun begann Tom sich zu wehren. Er schlug verzweifelt auf Igor ein, als dieser ihn weiter zur Türöffnung drücken wollte. Igor hatte von Tom keine Gegenwehr erwartet, das Betäubungsmittel war stark genug gewesen, um ihn für mehrere Stunden außer Gefecht zu setzen. Nach einem kurzen Moment der Überraschung reagierte Igor aber mit der gewohnten Brutalität. Er schlug mit der Rechten gegen Toms Schläfe und befreite so seinen linken Arm, den Tom sich gegriffen hatte. Für diese Aktion musste Igor allerdings den Steuerknüppel loslassen. Das Flugzeug begann leicht zu schlingern und neigte sich nach rechts. Igor versetzte Tom mit beiden Händen einen heftigen Stoß, so dass dieser von seinem Sitz zur Türöffnung rutschte. Im letzten Moment, er war schon fast draußen, gelang es Tom, mit der linken Hand den Gurt zu fassen, mit dem Igor sich angeschnallt hatte.

Das Flugzeug war jetzt deutlich nach rechts geneigt, Tom lag quer über dem rechten Sitz, auf dem er zuvor gesessen hatte, mit einer Hand den Sicherheitsgurt des links sitzenden Piloten festhaltend. Toms Beine hingen aus der Türöffnung hinaus ins Freie, der Fahrtwind zerrte an seinen Beinen. Igor drückte gegen seinen Kopf und versuchte, Tom aus der offenen Tür hinauszuschieben. Der Fahrtwind unterstützte Igor dabei, indem er Tom aus dem Flugzeug zog. Dazu der ohrenbetäubende Lärm von Motor und Fahrtwind.

Mittlerweile hatte Tom auch den zweiten Arm hinter Igors Sicherheitsgurt geschoben und seine Arme dort verschränkt. Igor ließ einen Moment von Tom ab und verstärkte den Querruderausschlag mit dem Steuerknüppel, so dass sich die Rechtsneigung des Flugzeugs noch weiter erhöhte. Es flog nun eine extreme Rechtskurve, der Winkel zwischen Tragfläche und Horizont betrug beinahe 60 Grad. Tom hatte aufgrund der starken Querneigung keine Berührung mehr mit dem Copilotensitz, er hing frei schwebend mit den Beinen voran aus dem schräg fliegenden Flugzeug hinaus. Der Fahrtwind, der an seinen Beinen zerrte, schlug seine Hüfte gegen den Türrahmen. Zudem flog das Flugzeug aufgrund der rechtslastigen Gewichtsverteilung nun keinen sauberen Kurvenflug mehr, sondern sackte in der Kurve deutlich spürbar nach unten ab. Die heftige Abwärtsbeschleunigung erzeugte bei Tom ein ähnliches Gefühl im Magen wie auf einer Achterbahn. Krampfhaft hielt er seine Arme hinter Igors Gurt verschränkt. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihm, dass sie sich in vielleicht zwei oder drei Kilometern Höhe über dem offenen Meer befanden. Wenn er hier hinunterstürzte, würde er für immer vom Wasser verschlungen werden. Besser konnte man sich eines lästigen Zeugen nicht entledigen.

Igor begann jetzt wieder damit, Toms Kopf mit Schlägen zu bearbeiten, um ihn zu zwingen, den Gurt loszulassen. Tom versuchte, den Schlägen auszuweichen, was aber in seiner Position nur schwer möglich war. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, das Adrenalin tat seine Wirkung. Trotz der heftigen Schläge gegen seinen Kopf verspürte er kaum Schmerzen. Er musste jetzt irgendwie handeln, und zwar sehr schnell. Lange würde er sich in dieser Stellung nicht mehr halten können.

Erneut fiel Toms Blick auf das Etui an Igors Gürtel. Er zog einen Arm hinter Igors Sicherheitsgurt hervor. Igor erkannte, dass Toms Position damit geschwächt war und versuchte, Toms anderen Arm aus dem Gurt zu ziehen. Tom öffnete nun mit der freien Hand den Druckknopf des Etuis. Blitzschnell hob er die Lasche an und atmete auf. Es war tatsächlich ein Messeretui. Tom zog das Messer heraus. Er drückte den seitlichen Knopf am Messergriff, worauf eine zehn Zentimeter lange Klinge hervorsprang.

Nun hatte auch Igor die Bedrohung erkannt. Er ließ Toms andere Hand, die hinter den Sicherheitsgurt geschoben war, los und versuchte, den Messergriff zu fassen. Da er sich dabei zu dem aus dem Flugzeug hängenden Tom nach rechts beugen musste, verstärkte sich die Querneigung des Flugzeugs weiter, mittlerweile waren die 60 Grad Neigungswinkel deutlich überschritten. Das Flugzeug sackte im Kurvenflug immer stärker nach unten ab, es hatte schon erheblich an Höhe verloren, die Wasseroberfläche kam rasend schnell näher.

Igor und Tom kämpften verzweifelt um das Messer. Zugleich musste Igor sich um das Flugzeug kümmern, das kurz davor war, unkontrolliert abzusacken. Igor griff mit der linken Hand nach dem Steuerknüppel, um die Querneigung wieder auf etwas weniger als 60 Grad zu verringern. Mit der Rechten hielt er weiterhin Toms Hand gepackt, in der sich das Messer befand. Da Igor zugleich mit der Linken den Steuerknüppel bedienen musste, ließ seine Konzentration auf das Messer für einen Moment nach. Tom nutzte diesen kurzen Augenblick, um seine Hand, die das Messer hielt, mit einer ruckartigen Bewegung zu befreien und dem Russen das Messer in die Seite zu rammen.

Für einen winzigen Moment schien die Zeit still zu stehen. Igor blickte ungläubig auf Tom herab, der immer noch unter ihm hing, mit einem Arm in Igors Sicherheitsgurt verschränkt. Dann löste sich Igors Hand wie in Zeitlupe vom Steuerknüppel. Das Leben erlosch aus seinen Augen, sein Kopf fiel zur Seite herab. Sein ganzer Körper rutschte nach rechts unten, wodurch sich die Querneigung des Flugzeugs erneut gefährlich erhöhte.

Tom hing immer noch mit den Füßen voran aus dem quergeneigten Flugzeug heraus. Das Flugzeug sackte weiter nach unten ab, die Meeresoberfläche war nur noch wenige hundert Meter unter ihm und kam näher.

 

Während er sich weiterhin mit der Linken an Igors Gurt festhielt, drückte Tom mit der rechten Hand den Steuerknüppel, der sich auf der Mittelkonsole zwischen ihm und Igor befand, nach links. Zunächst spürte er kaum eine Wirkung. Er drückte den Knüppel weiter nach links und ganz langsam hob sich die rechte Tragfläche wieder, die Querneigung reduzierte sich. Mit dem Beenden der Rechtskurve hörte das Flugzeug auch auf, in der Kurve nach innen wegzusacken. Der Flug stabilisierte sich, das Flugzeug verlor nicht weiter an Höhe. Es befand sich jetzt vielleicht noch zweihundert Meter über dem Meer.

Tom zog sich langsam wieder in das Flugzeug hinein und verschnaufte einen Augenblick. Vermutlich hatte er sich nur retten können, da er sich kurz nach dem Schlucken des Betäubungsmittels auf dem Flugplatz übergeben hatte. Den größten Teil des Giftes musste er so wieder ausgespuckt haben. Die Wirkung hatte daher wohl nicht so lange angehalten, wie dies von den Entführern geplant worden war.

Andererseits konnte von einer Rettung keine Rede sein. Nüchtern betrachtet hatte sich seine Situation kaum verbessert. Er saß jetzt auf dem Copilotensitz eines kleinen Zweisitzers, neben ihm der tote Pilot, und er hatte keine Ahnung, wie das Flugzeug zu steuern war. Geschweige denn, wie er es landen sollte.

ZWEI TAGE ZUVOR

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.15 Uhr

Kneipe im Hamburger Schanzenviertel

„Scheiß Bullen – All Cops are Bastards!”

Fidel Raul Tietze brachte sich langsam in die erforderliche Stimmung für die bevorstehenden Tage mit den unausweichlichen Konfrontationen mit der Polizei. Und irgendwie freute er sich darauf. Mal so richtig die Sau rauslassen, im Schwarzen Block unerkannt mitlaufen und ungehemmt drauf los prügeln auf diese Polizistenschweine, und das für eine zweifellos richtige Sache. Mit gutem Gewissen. Das war das Schöne am Fanatismus. Wenn man sich einmal festgelegt hatte, was gut und was böse war in dieser Welt, dann konnte man seinen ureigenen Instinkten und Gewaltfantasien völlig freien Lauf lassen. Alles war gerechtfertigt. Vielleicht war es ja genau das, was den fundamentalen Islamismus so attraktiv für deutsche Konvertiten machte. Wenn man sich einmal dafür entschieden hatte, dass Gott den heiligen Krieg guthieß, dann konnte man töten und vergewaltigen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Schlimmstenfalls kam man selbst zu Tode, aber die 72 Jungfrauen im Paradies entschädigten doch für einiges. Und bei ihm war es eben nicht die Religion, sondern der Hass auf diese Kapitalistenärsche und alle, die das System aufrechterhielten. Ein paar Bier noch, ein Joint natürlich, und ein Abend voller anregender Diskussionen über den internationalen Kapitalismus, diese hinterfotzigen Spekulanten, die mit ihrer Geldgier die Armen dieser Welt versklavten und ausbeuteten und das Übel waren, das es auszutilgen galt. Dann hätte er sich in die richtige Stimmung hineingesteigert.

„Das wird eine Demo, wie es sie in Hamburg noch nie gegeben hat. Ach was, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Das wird die Anti-AKW-Bewegung, und selbst die 68er-Demos weit in den Schatten stellen. Die Welt wird sehen, dass es so nicht weitergehen kann.“ Tom Herrmanns vertrat in der Sache weitgehend dieselben Ansichten wie sein Freund, allerdings würde er wohl nicht in der ersten Reihe der Autonomen mitlaufen, sondern sich eher im Hintergrund halten. Gewalt war nicht seine Sache, er setzte auf gewaltfreien Widerstand gegen die Staatsmacht.

Fidel Raul Tietze und Tom Herrmanns saßen an einem kleinen Tisch im hinteren Bereich einer Szenekneipe im Hamburger Schanzenviertel. Sie waren achtzehn bzw. neunzehn, beide aus Hamburg, kannten sich aus der Schule und hatten vor wenigen Monaten gemeinsam das Abitur bestanden. Tom würde im Herbst ein freiwilliges soziales Jahr in der Entwicklungshilfe in Afrika beginnen, Raul war sich noch nicht sicher, er wollte studieren, irgendwas im sozialen Bereich, Psychologie, Soziologie oder Sozialarbeit zum Beispiel. Vielleicht auch Betriebswirtschaft, oder besser noch Volkswirtschaft, um den Feind genauer kennen zu lernen und ihn dann von innen heraus besser zersetzen und bekämpfen zu können. Mit den eigenen Waffen schlagen sozusagen. Naja, zu Ende überlegt hatte er das noch nicht.

Tom trug ein einfarbiges schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans, Raul eine Bluejeans und ein langärmeliges schwarzes Sweatshirt, auf das vorne eine große, krumme, gelb-schwarze Banane aufgedruckt war. Nur echte Fans erkannten darin heute noch die Andy-Warhol-Banane, die dieser als Cover für das Debütalbum der Band The Velvet Underground 1966 entworfen hatte.

Beide trugen einen blonden Vollbart, so dass man sie trotz der unterschiedlichen Figur durchaus miteinander verwechseln konnte, wenn man sie von weitem sah.

Tom und Raul wohnten im Schanzenviertel, nur ein paar Blocks von der Kneipe entfernt. Es war kurz nach 22 Uhr, die Kneipe füllte sich langsam, überwiegend mit jungen Burschen unter 25. Der bevorstehende G20-Gipfel hatte aber auch ältere Globalisierungsgegner nach Hamburg gespült, nach dem Äußeren zu urteilen offenbar Grüne und Alternative aus der Anti-AKW-Bewegung, viele davon waren über fünfzig. Beide Gruppen ließen sich optisch nicht nur auf Grund des deutlich unterschiedlichen Alters auseinanderhalten. Die Jüngeren waren fast ausschließlich dunkel gekleidet, das gehörte sich für den Schwarzen Block schließlich so, viele mit Tattoos oder Piercings; die Älteren in lässiger Kleidung, oder was sie dafür hielten. Abgenutzte Jeans, nicht allzu eng, und karierte Leinenhemden, ordentlich gebügelt, das war der typische Look. Gar nicht ganz billig, sich alternativ zu kleiden und sich so von dem Banker, Wirtschaftsprüfer oder anderem Schlipsträger abzugrenzen. Was der eine oder andere nun zufällig auch war, im wirklichen Leben.

Dazu zwei Männer vielleicht Ende vierzig oder Anfang fünfzig, die so gar nicht hierher passen wollten. Beide hatten die Örtlichkeit unmittelbar nach Tom und Raul betreten und sich einen Platz an der Theke gesichert, von dem aus sie den Tisch der beiden Jungen unauffällig im Blick behalten konnten. Kantiges Gesicht, kahler Schädel, schwarzes Jackett über weißem T-Shirt, beinahe wie Zwillinge, nur dass der eine etwas größer war als der andere. Sie sahen aus wie der Prototyp osteuropäischer Geldeintreiber. Eine Einschätzung, mit der man gar nicht so ganz weit danebenliegen würde.

„Morgen werden wir die Bullen mal ordentlich durch die Mangel drehen!“, wiederholte Raul sich. Zwar hatten ihm seine ebenfalls sozialistisch eingestellten Eltern den schönen Doppelnamen Fidel Raul gegeben, zu Ehren des kubanischen Präsidenten sowie seines Bruders, der ihm später auf den Präsidentenstuhl folgen sollte. Bereits in der Grundschule hatte man sich dann aber auf Raul als Rufnamen geeinigt, da Fidel doch als etwas zu provokant wahrgenommen und von einem Heranwachsenden eher als Belastung empfunden werden könnte. Nur wenige gute Freunde wussten von dem ersten Vornamen.

„Die werden noch lange an diesen Tag denken“, pflichtete Tom ihm etwas unspezifischer bei. Ihm schwante nichts Gutes, wenn er beobachtete, wie sein Freund, aber auch viele andere Linke und Autonome im Schanzenviertel, ihrem Hass gegen die Polizei und das Establishment in den Tagen vor dem Gipfel freien Lauf ließen und sich so in eine unglaubliche Gewaltbereitschaft hineinsteigerten. Und wie viele Autonome in den letzten zwei bis drei Tagen in Hamburg angekommen waren! Er selbst hatte in den vergangenen beiden Tagen mit G20-Touristen aus Leipzig und Berlin, aber auch aus Italien, Tschechien, Österreich und Griechenland gesprochen. Ein bunt gemischter Haufen – sozusagen – auch wenn sie morgen überwiegend in schwarz antreten würden. Da gab es zum einen die Überzeugungstäter, echte Globalisierungsgegner, die nicht bloß wegen der zu erwartenden Gewaltexzesse gekommen waren, aber Gewalt als legitimes Mittel zum Widerstand gegen die Staatsmacht ansahen. Und dann diejenigen, die zwar auch betonen würden, gegen Kapitalismus und Globalisierung zu sein, aber die bei näherer Betrachtung wohl weniger an Ideologien interessiert waren als an Krawall, Straßenschlachten und Bullenjagen. Kriegstouristen könnte man sagen. Und vor diesen grauste es Tom dann doch. Welche Gruppe die Mehrheit stellte, konnte Tom nicht genau einschätzen, wahrscheinlich schon erstere. Aber die zweite Gruppe war sicher gefährlicher, und die Grenzen waren ja auch fließend.

„Unser entscheidender Vorteil gegenüber den Bullen ist, dass die nur reagieren können“, sagte Raul. „Wir bestimmen, wann und wo es losgeht, wir können uns den richtigen Zeitpunkt aussuchen. Wir schlagen zu, wenn wir in Überzahl sind und die Schweine fertigmachen können.“

„Die Polizei ist mit einem riesigen Aufgebot in Hamburg“, warf Tom ein. Die aufgeladene Rhetorik seines Freundes gefiel ihm gar nicht. „Die sind aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen worden. Ich habe heute schon Polizeiwagen aus Berlin und Nordrhein-Westfalen durch Hamburg fahren sehen. Insgesamt sollen 19.000 Polizisten zum G20-Gipfel hier sein, da werden wir wohl kaum jemals in der Überzahl sein.“ Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob er wir oder ihr sagen sollte, wenn er von dem gewaltbereiten Block sprach, hatte sich dann aber doch für das wir entschieden, schließlich wollte er die Freundschaft mit Raul nicht aufs Spiel setzen.

„Aber die können nicht überall gleichzeitig sein. Wenn wir an verschiedenen Stellen Randale machen, zwingen wir die, sich aufzuteilen. Dann können wir kleine Gruppen isolierter Polizisten an den Stellen angreifen, wo sie in der Minderheit sind.“ Die Vorfreude war Raul deutlich anzumerken. „Die mach ich mit bloßen Händen fertig.“

Hände, das war so ein Punkt. Raul war mit fast 1,90 m etwas größer als sein Freund. Allerdings hatte er für seine Körpergröße auffallend kleine Hände, die schon oft Anlass für Spott waren. Schließlich war das Netz da sehr eindeutig: wenn die Hände klein sind, dann ist etwas Anderes auch eher klein. Worauf er sich bei solchen Spötteleien reflexartig genötigt sah zu betonen, dass es an dieser Stelle überhaupt kein Problem gebe. Vermutlich war das der Grund dafür, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Kraft seiner Hände anpries.

„Und ein zweiter wichtiger Vorteil für uns ist, dass die mehr riskieren als wir“, fuhr Raul fort.

„Was riskieren die denn?“, warf Tom ein. „Die Polizei ist top ausgerüstet. Körperpanzer, Schutzwesten, Helme, verstärkte Handschuhe. Flammenabweisende Unterwäsche, Sicherheitsschuhe, Genitalschutz. Da riskierst du im Schwarzen Block deutlich mehr; du hast keine entsprechende Ausrüstung.“

„Naja, ob die Ausrüstung echt ein Vorteil ist, weiß ich nicht. Die schleppen locker zwanzig zusätzliche Kilo mit sich rum, zwei Kästen Bier sozusagen. Wenn der Einsatz über mehrere Stunden geht, kann sich das auch als Nachteil erweisen.“ Raul war da entspannt.

„Aber das meinte ich auch gar nicht, als ich gesagt habe, dass die ein größeres Risiko haben. Wenn ein Bulle Fehler macht, vielleicht zu brutal auf einen Demonstranten einschlägt, und das gefilmt wird, dann riskiert er seinen Job. Selbst wenn er angegriffen wurde und sich nur verteidigt. Er muss immer damit rechnen, dass nur die Filmsequenz mit seiner Prügelei an die Öffentlichkeit kommt. Sicherer Beamtenjob futsch, Pension futsch, und bei dem was er gelernt hat, kann er höchstens noch für einen Hungerlohn bei einem privaten Sicherheitsdienst anheuern. Und das Schöne ist, er kann in unserem Staat nicht einmal damit rechnen, dass sich die Politiker hinter ihn stellen und aus der Schusslinie nehmen.“

„Aber du riskierst Gefängnis, das ist auch kein Zuckerschlecken“, warf Tom ein.

„Quatsch, als Ersttäter unter 21 riskiere ich allenfalls ein paar Sozialstunden. Selbst beim zweiten oder dritten Mal stecken die mich noch nicht in den Bau, allenfalls mal ein paar Monate Bewährungsstrafe, wenn es richtig krass war. Und dafür müssten sie mich auch erst zwei- oder dreimal erwischen.“

„Aber dann wäre es ja doch eine Freiheitsstrafe, wenn auch nur zur Bewährung.“

„Ganz ehrlich, den Unterschied zwischen Freiheitsstrafe zur Bewährung und Freispruch habe ich nie so ganz begriffen“, höhnte Raul. „Für mich ist das praktisch das Gleiche. Sobald ich zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt werde, muss ich mich für die Zukunft einschränken, klar. Knast würde ich nicht riskieren. Aber solange ich nicht erwischt werde, kann ich rumprügeln wie ich will. Solange ich nicht tatsächlich einen Polizisten totschlage, gibt es schlimmstenfalls eine Bewährungsstrafe, also quasi einen Freispruch. Danach muss ich natürlich vorsichtig sein, aber einmal erwischt zu werden hab ich auf jeden Fall frei.“

 

„Außer du möchtest dich für den öffentlichen Dienst bewerben, da versaust du dir dein Führungszeugnis.“

Tom Herrmanns gab einen prima Sparringspartner ab, das hatte Raul schon immer gefunden. Halbherzige Einwände, die man schnell wegwischen konnte.

„Mein lieber Tom, ich bekämpfe das System, da werde ich mich bestimmt nicht für einen Job im System bewerben wollen. Als was denn wohl, Polizist vielleicht?“ Ja, das hatte wirklich gesessen, fand Raul.

„Erinnerst du dich an den Postmanager, wie hieß der noch gleich?“, setzte Raul fort.

„Klaus Zumwinkel.“

„Genau. Der hat eine runde Million an Steuern hinterzogen und dafür eine Freiheitsstrafe mit Bewährung erhalten. Statt im Gefängnis zu sitzen, lebt er jetzt am Gardasee und genießt seinen Reichtum. Was glaubst du, hat er zu sich selbst nach der Verurteilung gesagt: Juhu, nicht in den Knast oder Mist, jetzt bin ich doch tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden?“

Tom antwortete nicht, es lag ja auf der Hand.

„Und wenn die Kapitalisten von unserer laschen Strafjustiz profitieren, warum dann nicht auch wir?“

Raul war jetzt richtig in Fahrt. „Ich kann tun, was ich will. Ich bin Gott. Ich kann jeder Polizistenfotze zwischen die Beine fassen, ohne dass mir irgendwas passiert. Und ich wette, nicht eine würde sich überhaupt dagegen wehren…“

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.30 Uhr

Luftraum über Warschau

Die Maschine hatte bereits die Reiseflughöhe verlassen und den Anflug auf den Frédéric-Chopin-Flughafen in Warschau begonnen. Es war nach 22 Uhr Ortszeit am Mittwochabend, sie waren am Vormittag in Washington gestartet. Donald Trump konnte in Flugzeugen generell nicht gut schlafen und war auch diesmal nur ein- oder zweimal kurz eingenickt. Nun saß er an seinem Schreibtisch in der Air Force One, blickte bisweilen gelangweilt auf die wenigen Lichter der Warschauer Peripherie unter ihm und versuchte, sich auf seine bevorstehende Rede zu fokussieren, die er in der polnischen Hauptstadt halten wollte. Seine Konzentrationsfähigkeit hatte in den letzten Tagen wieder etwas nachgelassen, es musste wohl mit der Erkrankung zusammenhängen, die seine Ärzte vor einigen Monaten diagnostiziert hatten und an die er nun immer häufiger erinnert wurde, besonders beim Wasserlassen{1}.

Er hatte bewusst Warschau als erste Station seiner Europareise auf dem Weg zum G20-Gipfel in Hamburg ausgewählt, zum einen um die polnische Regierung für ihre Trump-freundliche Politik zu hofieren, und zum anderen, und das war eigentlich der wichtigere Punkt, um die Regierungen des Alten Europa, Deutschland und Frankreich insbesondere, mal auf den Teppich zurückzuholen und daran zu erinnern, dass sie nicht der Mittelpunkt der westlichen Welt waren.

In seiner Rede würde er sich zur Beistandsverpflichtung in der NATO bekennen. Von vielen Kritikern wurde ein solches Bekenntnis längst für überfällig gehalten, und auch ihm war klar, dass er ein solch wichtiges Bündnis trotz all seiner berechtigten Kritik an dem Verfehlen des Militärbudgetzieles einiger Verbündeter nicht völlig vor den Kopf stoßen konnte, wenn es weiter von den USA dominiert und kontrolliert werden sollte. Aber er würde der Welt, und das hieß erneut natürlich insbesondere den Old-Europe-Staaten, schon ordentlich ins Gewissen reden, er würde warnen vor den Gefahren des internationalen Terrorismus, aber eben auch vor den Gefahren, die aus dem Inneren kommen, und die darin bestehen, dass der Westen immer mehr seine Werte und Traditionen vergisst. Veranschaulichen würde er dies mit einem Vergleich der Situation des Westens mit jener der Aufständischen des Warschauer Ghettos von 1944. Ihm war schon klar, dass viele dies als unangemessen und geschmacklos ansehen würden, aber wenn er etwas hasste, dann diese alberne politische Korrektheit, die Journalisten generell von Politikern einforderten, wenn sie nicht von diesen Schreibtischtätern verbal in der Luft zerrissen werden wollten. Dem würde er sich nicht beugen. Überhaupt, Journalisten – da bewunderte er seine polnischen Gastgeber schon ein wenig. Mit einem Doppelschlag, der ihn trotz des etwas anderen Inhaltes durchaus an das Ermächtigungsgesetz der Nazis erinnerte – ein Vergleich, den er aber mit Rücksicht auf seine polnischen Freunde natürlich nicht öffentlich aussprechen würde – hatten die Polen zuerst die Journaille und, so alles planmäßig verlaufen würde, bald auch noch die Justiz weitgehend kaltgestellt. Andererseits war er schon Demokrat genug – nein, das nun auch wieder nicht, demokratisch genug, hier sollte man lieber das Adjektiv und nicht das Substantiv verwenden – um journalistische Meinungsfreiheit und eine freie Justiz zu schätzen. Er hatte nichts prinzipiell gegen linke Journalisten – wenn es nur auch andere gäbe. Dann könnte sich eben jeder die Nachrichtenquelle aussuchen, mit der er sich einigermaßen identifizierte, und die Welt wäre in Ordnung. Das Problem mit den Journalisten war aber, dass dies offenbar samt und sonders linke Schreiberlinge waren, die ihm den offenen Kampf angesagt hatten, so dass von einer fairen und ausgewogenen Berichterstattung längst keine Rede mehr sein konnte. Und er konnte nicht, wie die polnische Regierung, mal eben ein Gesetz durchs Parlament bringen, das ihn ermächtigte – wieder dieses Wort –, die Chefs der wichtigsten Fernsehsender des Landes in die Wüste zu schicken und durch eigene Leute zu ersetzen.

Und die Justiz: natürlich war Gewaltenteilung ein hohes Gut, natürlich war jeder Politiker, auch er selbst, an die Verfassung gebunden, und er schätzte die amerikanische Verfassung ganz außerordentlich – insbesondere das liberale Waffenrecht, aber wir wollen jetzt nicht abschweifen – die Richterschaft sollte sich aber auf ihre Aufgaben beschränken und nicht selber Politik machen wollen. Dazu war er, Donald Trump, gewählt worden, dazu hatte er die demokratische Legitimation, nicht irgend so ein dahergelaufener Bundesrichter aus Hawaii, der meinte, seine Einreisebeschränkungen für Muslime kassieren zu können.

Man kam schon in Rage, wenn man daran dachte. Aber nun sollte er sich doch wieder auf den bevorstehenden Besuch in Polen konzentrieren, die Maschine würde in wenigen Minuten landen. Sein Protokollchef hatte ihm ein Foto der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydło gereicht, damit er sie bei der Begrüßung am Flughafen nicht versehentlich mit der Ehefrau des Präsidenten verwechseln würde. Rundes Gesicht – typisch polnisch, vom Aussehen her könnte sie durchaus die jüngere Schwester von Jarosław Kaczyński sein –, etwas zu klein für seinen Geschmack allerdings, und zu dicke Beine. Bloß eine Marionette des Parteichefs Kaczyński, hatte man ihm gesagt. Nicht das gleiche Kaliber wie seine Gastgeberin übermorgen auf dem G20-Gipfel in Hamburg, aber daran wollte er jetzt noch nicht denken. Nun wollte er sich erst einmal bei Freunden feiern lassen. Hatte er als Präsident auch noch nicht so oft.

Mittwoch, 5. Juli 2017, 22.45 Uhr

Kneipe im Hamburger Schanzenviertel

Kaum war es raus, da bereute Raul auch schon, so einen Unsinn gesagt zu haben. Tatsächlich passierte es ihm viel zu oft, dass er sich so richtig schön in etwas hineingesteigert hatte, und dann mit irgendeinem dummen Macho-Spruch deutlich über das Ziel hinausschoss.