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II. Die nationale Bewegung

Die Nation ist nicht einfach eine historische Kategorie, sondern eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus. Der Prozeß der Liquidierung des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus ist gleichzeitig der Prozeß des Zusammenschlusses der Menschen zu Nationen. So geschah es z.B. in Westeuropa. Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener und andere formierten sich zu Nationen bei dem siegreichen Vormarsch des über die feudale Zersplitterung triumphierenden Kapitalismus.

Die Bildung von Nationen bedeutete dort aber gleichzeitig ihre Verwandlung in selbständige Nationalstaaten. Die englische, die französische und andere Nationen stellen gleichzeitig den englischen und andere Staaten dar. Irland, das außerhalb dieses Prozesses geblieben ist, ändert nichts an dem allgemeinen Bild.

Etwas anders verliefen die Dinge in Osteuropa. Während sich im Westen die Nationen zu Staaten entwickelten, bildeten sich im Osten Nationalitätenstaaten, Staaten, die sich aus mehreren Nationalitäten zusammensetzen. Derartige Staaten sind Österreich-Ungarn und Rußland. In Osterreich erwiesen sich die Deutschen als in politischer Hinsicht am meisten entwickelt – sie übernahmen denn auch das Werk der Vereinigung der österreichischen Nationalitäten zu einem Staat. In Ungarn erwiesen sich die Madjaren, der Kern der ungarischen Nationalitäten, als die zur Staatsbildung geeignetsten, und sie waren auch die Vereiniger Ungarns. In Rußland wurde die Rolle des Vereinigers der Nationalitäten von den Großrussen übernommen, an deren Spitze eine historisch entstandene, starke und organisierte adelige Militärbürokratie stand.

So ging die Sache im Osten vor sich.

Diese eigentümliche Art der Staatenbildung konnte nur unter den Verhältnissen des noch nicht beseitigten Feudalismus, unter den Verhältnissen des schwach entwickelten Kapitalismus stattfinden, als die in den Hintergrund gedrängten Nationalitäten noch nicht dazu gekommen waren, sich ökonomisch zu geschlossenen Nationen zu konsolidieren.

Der Kapitalismus beginnt sich aber auch in den östlichen Staaten zu entwickeln. Handel und Verkehrswege entwickeln sich. Es entstehen Großstädte. Die Nationen konsolidieren sich ökonomisch. Der in das geruhsame Dasein der zurückgedrängten Nationalitäten eingebrochene Kapitalismus rüttelt diese auf und setzt sie in Bewegung. Die Entwicklung der Presse und des Theaters, die Tätigkeit des Reichsrats (in Österreich) und der Duma (in Rußland) tragen zur Stärkung der „nationalen Gefühle“ bei. Die aufgekommene Intelligenz wird von der „nationalen Idee“ durchdrungen und wirkt in derselben Richtung ...

Aber die zu selbständigem Dasein erwachten zurückgedrängten Nationen bilden jetzt keine unabhängigen Nationalstaaten mehr: sie begegnen auf ihrem Wege dem stärksten Widerstand der führenden Schichten der herrschenden Nationen, die sich schon längst an die Spitze des Staates gestellt haben. Zu spät! ...

So formieren sich zu Nationen die Tschechen, die Polen usw. in Osterreich; die Kroaten und andere in Ungarn; die Letten, Litauer, Ukrainer, Georgier, Armenier und andere in Rußland. Was in Westeuropa Ausnahme war (Irland), wurde im Osten zur Regel.

Im Westen antwortete Irland auf seine Ausnahmestellung mit einer nationalen Bewegung. Im Osten mußten die erwachten Nationen dasselbe tun.

So gestalteten sich die Umstände, die die jungen Nationen des europäischen Ostens zum Kampf antrieben.

Der Kampf begann und entbrannte eigentlich nicht zwischen den Nationen im ganzen genommen, sondern zwischen den herrschenden Klassen der madithabenden und denen der zurückgedrängten Nationen. Den Kampf führt gewöhnlich entweder das städtische Kleinbürgertum der unterdrückten Nation gegen die Großbourgeoisie der herrschenden Nation (Tschechen und Deutsche), oder die ländliche Bourgeoisie der unterdrückten Nation gegen die Gutsherren der herrschenden Nation (Ukrainer in Polen), oder aber die ganze „nationale“ Bourgeoisie der unterdrückten Nationen gegen den regierenden Adel der machthabenden Nation (Polen, Litauen, die Ukraine in Rußland).

Die Bourgeoisie ist die handelnde Hauptperson.

Die grundlegende Frage für die junge Bourgeoisie ist der Markt. Ihr Ziel ist, ihre Waren abzusetzen und aus dem Konkurrenzkampf gegen die Bourgeoisie anderer Nationalität als Sieger hervorzugehen. Daher ihr Wunsch, sich ihren „eigenen“, „heimatlichen“ Markt zu sichern. Der Markt ist die erste Schule, in der die Bourgeoisie den Nationalismus erlernt.

Doch bleibt es gemeinhin nicht bei dem Markt allein. In den Kampf greift die halbfeudale, halbbürgerliche Bürokratie der herrschenden Nation mit ihren Methoden „des Einsperrens und Verbietens“ ein. Die Bourgeoisie der machthabenden Nation – einerlei ob sie klein oder groß ist – erhält die Möglichkeit, „rascher“ und „entschiedener“ mit ihrem Konkurrenten fertig zu werden. Die „Kräfte“ vereinigen sich, und es setzt gegenüber der „fremdstämmigen“ Bourgeoisie eine ganze Anzahl von Beschränkungsmaßnahmen ein, die in Repressalien münden. Aus der wirtschaftlichen Sphäre greift der Kampf auf die politische über. Beschränkung der Freizügigkeit, Knebelung der Sprache, Schmälerung der Wahlrechte, Verminderung der Zahl der Schulen, religiöse Bedrückungen und dergleichen mehr prasseln nur so auf den Kopf des „Konkurrenten“ nieder. Diese Maßnahmen bezwecken natürlich nicht nur die Wahrnehmung der Interessen der bürgerlichen Klassen der machthabenden Nation, sondern sie verfolgen auch sozusagen spezifisch kastenmäßige Ziele der regierenden Bürokratie. Im Hinblick auf die Resultate ist dies jedoch ganz gleichgültig: die bürgerlichen Klassen und die Bürokratie sehen in diesem Fall Hand in Hand – ganz gleich, ob es sich um Österreich-Ungarn oder um Rußland handelt.

Die von allen Seiten bedrängte Bourgeoisie der unterdrückten Nation gerät naturgemäß in Bewegung. Sie appelliert an die „heimischen unteren Volksschichten“, erhebt ein Geschrei vom „Vaterland“ und gibt ihre eigene Sache für die Sache des ganzen Volkes aus. Sie wirbt für sich eine Armee aus „Landsleuten“ im Interesse – der „Heimat“. Und die „unteren Volksschichten“ verschließen sich nicht immer ihrem Werben, sondern scharen sich um ihr Banner: die Repressalien von oben treffen auch die unteren Schichten und lösen bei ihnen Unzufriedenheit aus.

So setzt die nationale Bewegung ein.

Die Stärke der nationalen Bewegung wird durch den Grad bedingt, in dem die breiten Schichten der Nation – das Proletariat und die Bauernschaft – an ihr beteiligt sind.

Ob das Proletariat unter das Banner des bürgerlichen Nationalismus tritt oder nicht – das hängt von dem Grad der Entwicklung der Klassengegensätze, vom Klassenbewußtsein und von der Organisiertheit des Proletariats ab. Das klassenbewußte Proletariat hat sein eigenes erprobtes Banner, und es hat keine Ursache, unter das Banner der Bourgeoisie zu treten.

Was die Bauern anbelangt, so hängt ihre Beteiligung an der nationalen Bewegung vor allem vom Charakter der Repressalien ab. Wenn die Repressalien die Interessen der „Scholle“ berühren, wie dies in Irland der Fall war, so treten die breiten Bauernmassen unverzüglich unter das Banner der nationalen Bewegung.

Wenn es anderseits beispielsweise in Georgien keinen einigermaßen ernst zu nehmenden antirussischen Nationalismus gibt, so vor allem deswegen, weil es dort keine russischen Gutsbesitzer und keine russische Großbourgeoisie gibt, die einen derartigen Nationalismus unter den Massen nähren könnten. In Georgien gibt es einen antiarmenischen Nationalismus, dies kommt aber daher, weil es dort noch eine armenische Großbourgeoisie gibt, die die noch nicht erstarkte georgisdie Kleinbourgeoisie niederringt und sie zu einem antiarmenischen Nationalismus drängt.

Je nach diesen Faktoren nimmt die nationale Bewegung entweder Massencharakter an und breitet sich immer mehr aus (Irland, Galizien), oder aber sie wird zu einer Kette kleiner Geplänkel und artet in Skandale und einen „Kampf“ um Firmenschilder aus (einige Kleinstädte in Böhmen).

Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: Er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bedingt, die von der Bewegung aufgestellt werden. In Irland trägt die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung, in Böhmen einen „Sprachen“charakter; hier verlangt man staatsbürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit des Glaubensbekenntnisses, dort „eigene“ Beamte oder einen eigenen Landtag. In den verschiedenartigen Forderungen schimmern mitunter die verschiedenartigen Merkmale durch, die für die Nation im allgemeinen kennzeichnend sind (Sprache, Territorium usw.). Beachtung verdient der Umstand, daß man nirgends Forderungen nach dem Bauerschen allumfassenden „Nationalcharakter“ antrifft. Das ist auch begreiflich: der „Nationalcharakter“ an und für sich ist etwas Ungreifbares, und J. Strasser bemerkt ganz richtig: „... was sollen wir in der Politik ... mit ihm anfangen?“

Das sind im allgemeinen die Formen und der Charakter der nationalen Bewegung.

Aus dem Gesagten wir klar, daß der nationale Kampf unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie, das Proletariat in die nationale Bewegung hineinzuziehen, und dann scheint der nationale Kampf äußerlich ein Kampf „des ganzen Volkes“ zu sein, aber nur äußerlich. Seinem Wesen nach bleibt er stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm ist.

Daraus folgt aber keineswegs, daß das Proletariat nicht gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll.

Beschränkung der Freizügigkeit, Entziehung des Wahlrechts, Knebelung der Sprache, Verringerung der Zahl der Schulen und sonstige Repressalien treffen die Arbeiter in nicht geringerem, wenn nicht in höherem Maße als die Bourgeoisie. Eine solche Lage kann die trete Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats der unterworfenen Nationen nur hemmen. Man kann nicht ernstlich von einer vollen Entfaltung der geistigen Anlagen des tatarischen oder des jüdischen Arbeiters sprechen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wird, seine Muttersprache in Versammlungen und Vorträgen zu gebrauchen, wenn ihm seine Schulen geschlossen werden.

Die Politik nationalistischer Repressalien ist aber für die Sache des Proletariats auch noch in anderer Hinsicht gefährlich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit breiter Schichten von den sozialen Fragen, von den Fragen des Klassenkampf es ab und lenkt sie auf nationale Fragen, auf „gemeinsame“ Fragen des Proletariats und der Bourgeoisie hin. Dies aber schafft einen günstigen Boden für die verlogene Predigt einer „Interessenharmonie“, für die Vertuschung der Klasseninteressen des Proletariats, für die geistige Knechtung der Arbeiterschaft. Dadurch wird der Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten ein ernstliches Hindernis bereitet. Wenn ein beträchtlicher Teil der polnischen Arbeiter bis jetzt in der geistigen Knechtschaft der bürgerlichen Nationalisten verharrt, wenn er bis jetzt abseits von der internationalen Arbeiterbewegung steht, so hauptsächlich deswegen, weil die althergebrachte antipolnische Politik der „Machthabenden“ den Boden für eine solche Knechtschaft schafft und die Befreiung der Arbeiter aus dieser Knechtschaft erschwert.

Die Politik der Repressalien bleibt aber nicht hierbei stehen. Vom „System“ der Unterdrückung geht sie nicht selten zum „System“ der Verhetzung der Nationen über, zum „System“ des Gemetzels und der Pogrome. Natürlich ist dieses „System“ nicht überall und nicht immer möglich, aber wo es möglich ist – wo nämlich die elementaren Freiheiten fehlen – nimmt es nicht selten erschreckende Ausmaße an und droht, die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter in Blut und Tränen zu ertränken. Der Kaukasus und Südrußland bieten nicht wenige Beispiele dafür. „Teile und herrsche“ – das ist das Ziel der Verhetzungspolitik. Und soweit eine derartige Politik Erfolg hat, ist sie das größte Übel für das Proletariat, ist sie ein höchst ernstliches Hindernis für die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten eines Staates.

Die Arbeiter sind jedoch interessiert an der völligen Vereinigung aller ihrer Klassengenossen zu einer einheitlichen internationalen Armee, an ihrer raschen und endgültigen Befreiung aus der geistigen Knechtschaft der Bourgeoisie, an der vollen und freien Entfaltung der geistigen Kräfte ihrer Mitbrüder, welcher Nation sie auch angehören mögen.

Darum kämpfen die Arbeiter und werden auch weiter kämpfen gegen die Politik der Unterdrückung der Nationen in allen ihren Formen, von den raffiniertesten bis zu den brutalsten, ebenso wie gegen die Politik der Verhetzung in allen ihren Formen.

Darum proklamiert die Sozialdemokratie aller Länder das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.

Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Nur die Nation selbst hat das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen und, sonstigen Einrichtungen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche umzustoßen, ihre Sprache zu knebeln, ihre Rechte zu schmälern.

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie alle und jegliche Gebräuche und Einrichtungen einer Nation unterstützen wird. Im Kampf gegen die Vergewaltigung einer Nation wird sie nur für das Recht der Nation eintreten, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, gleichzeitig aber eine Agitation gegen die schädlichen Gebräuche und Einrichtungen dieser Nation betreiben, um den werktätigen Schichten der gegebenen Nation die Möglichkeit zu geben, sich ihrer zu entledigen.

Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten.. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt.

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie für jede beliebige Forderung einer Nation eintreten wird. Eine Nation hat das Recht, sogar zu alten Zuständen zurückzukehren, aber das heißt noch nicht, daß die Sozialdemokratie einen derartigen Beschluß dieser oder jener Institution der gegebenen Nation unterschreiben wird. Die Pflichten der Sozialdemokratie, die die Interessen des Proletariats verficht, und die Rechte der Nation, die aus verschiedenen Klassen zusammengesetzt ist, sind zwei verschiedene Dinge.

In ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen steckt sich die Sozialdemokratie das Ziel, der Politik der nationalen Unterdrückung ein Ende zu setzen, sie unmöglich zu machen und damit den Kampf unter den Nationen zu untergraben, ihn abzustumpfen und auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

Dadurch unterscheidet sich die Politik des klassenbewußten Proletariats wesentlich von der Politik der Bourgeoisie, die bemüht ist, den nationalen Kampf zu vertiefen und anzufachen, die nationale Bewegung weiterzutreiben und zuzuspitzen.

Eben darum kann das klassenbewußte Proletariat nicht unter das „nationale“ Banner der Bourgeoisie treten.

Eben darum kann die von Bauer empfohlene sogenannte „evolutionistisch-nationale“ Politik nicht zur Politik des Proletariats werden. Bauers Versuch, seine „evolutionistisch-nationale“ Politik mit der Politik der „modernen Arbeiterklasse“ zu identifizieren, ist ein Versuch, den Klassenkampf der Arbeiter dem Kampf der Nationen anzupassen.

Die Geschicke der ihrem Wesen nach bürgerlichen nationalen Bewegung sind naturgemäß an das Schicksal der Bourgeoisie gebunden. Ein endgültiges Verebben der nationalen Bewegung ist erst mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich. Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Friede hergestellt werden. Aber den nationalen Kampf auf ein Mindestmaß zu reduzieren, ihn an der Wurzel zu untergraben, ihn für das Proletariat in höchstmöglichem Grade unschädlich zu machen, das ist auch im Rahmen des Kapitalismus möglich. Davon zeugen, sagen wir, die Beispiele der Schweiz und Amerikas. Dazu muß das Land demokratisiert, muß den Nationen die Möglichkeit freier Entwicklung gewährt werden.

III. Die Fragestellung

Die Nation hat das Recht, über ihr Schicksal frei zu bestimmen. Sie hat das Recht, sich einzurichten, wie es ihr beliebt, wobei sie natürlich nicht den Rechten anderer Nationen Abbruch tun darf. Das ist unbestreitbar.

Aber wie soll sie sich nun einrichten, welche Formen soll ihre künftige Verfassung annehmen, wenn die Interessen der Mehrheit der Nation und vor allem die des Proletariats maßgebend sein sollen?

Die Nation hat das Recht, sich autonom einzurichten. Sie hat sogar das Recht, sich loszutrennen. Aber das heißt noch nicht, daß sie das unter allen Umständen tun muß, daß Autonomie oder Separation immer und überall für die Nation, das heißt für ihre Mehrheit, das heißt für die werktätigen Schichten, von Vorteil sein wird. Die transkaukasischen Tataren als Nation könnten sich, sagen wir, auf ihrem Landtag versammeln und unter dem Einfluß ihrer Begs und Mullahs die alten Zustände wiederherstellen, den Beschluß fassen, sich vom Reich loszutrennen. Nach dem Sinn des Punktes über die Selbstbestimmung haben sie das volle Recht dazu. Läge das aber im Interesse der werktätigen Schichten der tatarischen Nation? Kann denn die Sozialdemokratie gleichgültig zuschauen, wie bei der Lösung der nationalen Frage die Begs und Mullahs die Massen hinter sich her führen? Soll die Sozialdemokratie hier nicht eingreifen und in bestimmter Weise den Willen der Nation beeinflussen? Soll sie nicht mit einem konkreten Plan für die Lösung der Frage hervortreten, der für die tatarischen Massen am vorteilhaftesten ist?

Welche Lösung aber ist mit den Interessen der werktätigen Massen am besten zu vereinbaren? Autonomie, Föderation oder Separation?

Alles das sind Fragen, deren Beantwortung von den konkreten historischen Verhältnissen abhängt, in denen die gegebene Nation lebt.

Mehr noch. Wie überhaupt alles, ändern sich auch die Verhältnisse, und eine Entscheidung, die im gegebenen Augenblick richtig ist, kann sich zu einer anderen Zeit als gänzlich unannehmbar erweisen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Marx Verfechter der Lostrennung Russisch-Polens, und er hatte recht, denn damals handelte es sich um die Befreiung einer höheren Kultur von einer sie zerstörenden niedrigeren. Auch stand die Frage damals nicht nur in der Theorie, nicht akademisch, sondern in der Praxis, im Leben selbst ...

Ende des 19. Jahrhunderts sprechen sich die polnischen Marxisten schon gegen eine Lostrennung Polens aus, und auch sie haben recht, denn in den letzten fünfzig Jahren sind tiefgreifende Veränderungen im Sinne einer ökonomischen und kulturellen Annäherung Rußlands und Polens eingetreten. Außerdem ist in dieser Zeit die Frage der Lostrennung aus einem Gegenstand des praktischen Lebens zu einem Gegenstand akademischer Diskussionen geworden, die höchstens die im Ausland lebenden Intellektuellen aufregen.

Dies schließt natürlich die Möglichkeit des Eintritts gewisser innerer und äußerer Konjunkturen nicht aus, die die Frage der Lostrennung Polens von neuem aktuell machen können.

Hieraus folgt, daß die nationale Frage nur im Zusammenhang mit den in ihrer Entwicklung betrachteten historischen Bedingungen gelöst werden kann.

Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen eine Nation lebt, sind der einzige Schlüssel zur Entscheidung der Frage, wie sich nämlich diese oder jene Nation einrichten, welche Formen ihre künftige Verfassung annehmen soll. Dabei ist es möglich, daß sich für jede Nation eine besondere Lösung der Frage erforderlich macht. Wenn irgendwo eine dialektische Stellung der Frage notwendig ist, so eben hier, in der nationalen Frage.

Deswegen müssen wir uns entschieden gegen eine sehr verbreitete, aber auch sehr summarische Methode der „Lösung“ der nationalen Frage wenden, die ihren Ursprung vom „Bund“ herleitet. Wir meinen die wohlfeile Methode, sich auf die österreichische und südslawische Sozialdemokratie zu berufen, die angeblich die nationale Frage bereits gelöst hat und von der die russischen Sozialdemokraten die Lösung bloß zu übernehmen brauchten. Dabei wird vorausgesetzt, daß alles, was, sagen wir, für Österreich richtig ist, auch für Rußland richtig sei. Das Wichtigste und im gegebenen Fall Entscheidende wird aus dem Auge gelassen: die konkreten historischen Verhältnisse in Rußland überhaupt und im Leben jeder einzelnen Nation innerhalb Rußlands im besonderen.

Lassen wir beispielshalber den bekannten Bundisten W. Kossowski zu Worte kommen:

„Als auf dem IV. Kongreß des ‚Bund‘ die prinzipielle Seite der Frage (gemeint ist die nationale Frage. J.St.) erörtert wurde, fand die von einem Kongreßteilnehmer im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei vorgeschlagene Lösung der Frage allgemeine Billigung.“

Das Ergebnis war, daß die nationale Autonomie „vom Kongreß einstimmig angenommen“ wurde.

Weiter nichts! Keine Analyse der russischen Wirklichkeit, keine Klärung der Frage nach den Lebensbedingungen der Juden in Rußland: Erst entlehnt man die Lösung bei der südslawischen sozialdemokratischen Partei, dann „billigt“ man sie, dann wird sie „einstimmig angenommen“! So stellen und „lösen“ die Bundisten die nationale Frage in Rußland ...

Nun sind aber die Verhältnisse in Österreich von denen in Rußland grundverschieden. Dadurch ist es denn auch zu erklären, weshalb die Sozialdemokratie in Österreich, die in Brünn (1899) ein nationales Programm im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei (allerdings mit einigen unbedeutenden Abänderungen) angenommen hat, die Frage durchaus, sozusagen, nicht russisch anfaßt und sie natürlich nicht russisch löst.

Vor allem die Stellung der Frage. Wie wird die Frage von Springer und Bauer gestellt, den österreichischen Theoretikern der national-kulturellen Autonomie und den Interpreten des Brünner nationalen Programms und der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei?

„Ob ein Nationalitätenstaat“, sagt Springer, „möglich ist und ob insbesondere die österreichischen Nationalitäten gezwungen sind, ein Staatswesen zu bilden, ist eine Vorfrage, die hier nicht beantwortet, sondern als entschieden vorausgesetzt ist. Wer diese Möglichkeit und Notwendigkeit nicht zugibt, für den ist freilich unsere Erörterung gegenstandslos. Unser Thema lautet: Da diese Nationen einmal beisammen sein müssen, unter welchen Rechtsformen können sie dies relativ am besten?“ (Hervorhebungen von Springer.)

Also die staatliche Integrität Österreichs als Ausgangspunkt.

Dasselbe sagt Bauer:

„Wir setzen also zunächst voraus, daß die österreichischen Nationen in demselben staatlichen Verbande bleiben, in dem sie jetzt zusammenleben, und fragen, wie die Nationen innerhalb dieses Verbandes ihr Verhältnis zueinander und zum Staate einrichten werden.“

Also wieder die Integrität Österreichs vor allem.

Kann die Sozialdemokratie Rußlands die Frage so stellen? Nein, das kann sie nicht. Sie kann es darum nicht, weil sie von Anfang an den Standpunkt der Selbstbestimmung der Nationen einnimmt, kraft welcher der Nation das Recht auf Lostrennung zusteht.

Sogar der Bundist Goldblatt hat auf dem zweiten Parteitag der Sozialdemokratie Rußlands zugegeben, daß die Sozialdemokratie auf den Standpunkt der Selbstbestimmung nicht verzichten kann. Goldblatt sagte damals:

„Gegen das Selbstbestimmungsrecht kann nichts eingewendet werden. Wenn irgendeine Nation um ihre Selbständigkeit kämpft, so darf dem nicht entgegengetreten werden. Wenn Polen keine ‚gesetzliche Ehe‘ mit Rußland eingehen will, so steht es uns nicht zu, ihm das zu verwehren.“

Das stimmt alles. Daraus folgt aber, daß die Ausgangspunkte der österreichischen und der russischen Sozialdemokraten nicht nur nicht gleich, sondern, im Gegenteil, einander diametral entgegengesetzt sind. Kann man danach noch von der Möglichkeit reden, das nationale Programm bei den Österreichern zu entlehnen?

Weiter. Die Österreicher gedenken, die „Freiheit der Nationalitäten“ durch kleine Reformen, in langsamem Schritt zu verwirklichen. Wenn sie die national-kulturelle Autonomie als praktische Maßnahme vorschlagen, so rechnen sie in keiner Weise mit einer radikalen Veränderung, mit einer demokratischen Freiheitsbewegung, die sie gar nicht vorsehen. Die russischen Marxisten dagegen verbinden die Frage der „Freiheit der Nationalitäten“ mit der voraussichtlichen radikalen Veränderung, mit der demokratischen Freiheitsbewegung; sie haben keinen Grund, auf Reformen zu rechnen: Dies aber ändert die Sache wesentlich im Hinblick auf das voraussichtliche Schicksal der Nationen in Rußland.

„Freilich“, sagt Bauer, „ist es wenig wahrscheinlich, daß die nationale Autonomie das Ergebnis einer großen Entschließung, einer kühnen Tat sein wird. In einem langsamen Entwicklungsprozeß, in schweren Kämpfen, die immer wieder die Gesetzgebung stillegen und die bestehende Verwaltung starr erhalten ... wird sich Österreich Schritt für Schritt der nationalen Autonomie entgegen entwickeln. Nicht eine große gesetzgeberische Tat, sondern eine Unzahl von Einzelgesetzen für einzelne Länder, einzelne Gemeinden werden die neue Verfassung schaffen.“

Dasselbe sagt Springer:

„Ich weiß vor allem“, schreibt er, „daß Institutionen dieser Art (Organe der nationalen Autonomie. J.St.) nicht in Jahren und nicht in einem Jahrzehnt geschaffen werden. Die Reorganisation der preußischen Verwaltung allein hat geraume Zeit erfordert ... Somit bedurfte Preußen zweier Jahrzehnte zur endgültigen Feststellung seiner fundamentalen Verfassungseinrichtungen. Man glaube nicht, daß ich mich über das Maß der Zeiten und Schwierigkeiten in Österreich irgendwelcher Täuschung hingebe.“

Alles das ist sehr bestimmt gesagt. Können aber die russischen Marxisten anders als die nationale Frage mit „kühnen, entschlossenen Taten“ verbinden? Können sie auf Teilreformen, auf eine „Unzahl von Einzelgesetzen“ als Mittel zur Eroberung der „Freiheit der Nationalitäten“ rechnen? Wenn sie das aber nicht können und auch nicht sollen, folgt denn daraus nicht klar, daß die Kampfmethoden und die Perspektiven der Österreicher und der Russen grundverschieden sind? Wie kann man sich angesichts dieser Sachlage auf die einseitige und halbschlächtige nationalkulturelle Autonomie der Österreicher beschränken? Von zwei Dingen eins: Entweder rechnen die Anhänger der Entlehnung nicht auf „entschlossene und kühne Taten“ in Rußland, oder aber sie rechnen darauf, doch „sie wissen nicht, was sie tun“.

Schließlich stehen Rußland und Österreich vor grundverschiedenen aktuellen Aufgaben, was auch verschiedene Methoden bei der Lösung der nationalen Frage erheischt. Österreich lebt in parlamentarischen Verhältnissen, ohne Parlament wäre dort unter den gegenwärtigen Umständen keine Entwicklung möglich. Das parlamentarische Leben und die Gesetzgebung Österreichs werden aber häufig durch die schroffen Zusammenstöße der nationalen Parteien völlig stillgelegt. Daraus eben ist die chronische politische Krise zu erklären, an der Osterreich seit langem krankt. Deswegen ist dort die nationale Frage die Achse des politischen Lebens, eine Existenzfrage. Kein Wunder daher, daß die österreichischen sozialdemokratischen Politiker vor allem die Frage der nationalen Zusammenstöße irgendwie zu lösen suchen, natürlich auf dem Boden des bereits bestehenden Parlamentarismus, mit parlamentarischen Mitteln ...

Anders in Rußland. In Rußland haben wir erstens „Gott sei Dank kein Parlament“. Zweitens – und das ist die Hauptsache – bildet in Rußland nicht die nationale Frage, sondern die Agrarfrage die Achse des politischen Lebens. Darum ist das Schicksal der russischen Frage und somit auch der „Befreiung“ der Nationen in Rußland mit der Lösung der Agrarfrage, das heißt mit der Vernichtung der Überreste der Leibeigensdiaft, das heißt mit der Demokratisierung des Landes verbunden. Daraus läßt sich denn auch erklären, warum in Rußland die nationale Frage nicht als eine selbständige und entscheidende Frage, sondern als ein Teil der allgemeinen und wichtigeren Frage der Befreiung des Landes von seinen Fesseln hervortritt.

„Die Unfruchtbarkeit des österreichischen Parlaments“, schreibt Springer, „ist gerade dadurch hervorgerufen, daß jede Reform innerhalb der nationalen Parteien Gegensätze schafft, die ihr Gefüge lockern könnten. Darum vermeiden die führenden Persönlichkeiten geradezu jede Anregung. Ein Fortschritt Osterreichs ist überhaupt nur denkbar, wenn den Nationen unentziehbare Rechtspositionen eingeräumt werden, die ihnen die ständige Erhaltung einer nationalen Kampftruppe im Parlament ersparen und es ihnen möglich machen, sich wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zuzuwenden.“

Dasselbe sagt Bauer:

„Der nationale Frieden ist zunächst eine Notwendigkeit für den Staat. Der Staat kann es nicht vertragen, daß die albernste Sprachenfrage, daß jeder Sireit erregter Menschen an der Sprachgrenze, daß jede neue Schule die Gesetzgebung stillegt.“

Das alles ist verständlich. Nicht weniger verständlich ist es aber, daß in Rußland die nationale Frage auf einer ganz anderen Ebene liegt. Nicht die nationale, sondern die Agrarfrage entscheidet das Schicksal des Fortschritts in Rußland. Die nationale Frage ist eine untergeordnete Frage.

Also eine verschiedene Fragestellung, verschiedene Perspektiven und Kampfmethoden, verschiedene unmittelbare Aufgaben. Ist es etwa nicht einleuchtend, daß bei einer derartigen Lage der Dinge nur Papiermenschen, die die nationale Frage jenseits von Raum und Zeit „lösen“, in Osterreich Beispiele suchen und sich mit einer Entlehnung des Programms abgeben können?

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