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Noch einmal: Die konkreten historischen Verhältnisse als Ausgangspunkt, eine dialektische Stellung der Frage als einzig richtige Fragestellung – das ist der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage.

IV. Die national-kulturelle Autonomie

Wir sprachen oben von der formalen Seite des österreichischen nationalen Programms, von den methodologischen Grundlagen, derentwegen die russischen Marxisten sich nicht einfach an der österreichischen Sozialdemokratie ein Beispiel nehmen und deren Programm zu dem ihrigen machen können.

Sprechen wir nunmehr vom Programm selbst, von seinem Wesen.

Welches ist also das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokratie?

Dies läßt sich in zwei Worten ausdrücken: national-kulturelle Autonomie.

Das bedeutet erstens, daß die Autonomie nicht, sagen wir, Böhmen oder Polen eingeräumt wird, die hauptsächlich von Tschechen und Polen bevölkert sind, sondern den Tschechen und den Polen schlechthin, unabhängig vom Territorium, einerlei welchen Teil Österreichs sie bewohnen mögen.

Eben darum heißt die Autonomie nationale, nicht aber territoriale Autonomie.

Das bedeutet zweitens, daß sich die über alle Ecken und Enden Osterreichs verstreuten Tschechen, Polen, Deutschen usw. individuell, als Einzelpersonen betrachtet, als geschlossene Nationen konstituieren und als solche dem österreichischen Staat angehören. Österreich wird in einem solchen Fall nicht als Verband autonomer Gebiete, sondern als Verband autonomer Nationalitäten erscheinen, die unabhängig vom Territorium konstituiert sind.

Das bedeutet drittens, daß sich die allgemeinen nationalen Institutionen, die zu diesem Zweck für die Polen, die Tschechen usw. geschaffen werden sollen, nicht mit „politischen“, sondern nur mit „kulturellen“ Fragen befassen werden. Die spezifisch politischen Fragen werden sich im Parlament ganz Österreichs (dem Reichsrat) konzentrieren.

Darum heißt diese Autonomie auch noch kulturelle, national-kulturelle Autonomie.

Hier der Wortlaut des Programms, das von der österreichischen Sozialdemokratie auf dem Brünner Parteitag 1899 angenommen wurde.

Nachdem das Programm erwähnt, „daß die nationalen Wirren in Österreich jeden politischen Fortschritt ... lähmen“, daß „die endliche Regelung der Nationalitätenfrage ... vor allem eine kulturelle Notwendigkeit ist“, daß „sie nur möglich ist in einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen, das auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gegründet ist“, fährt es folgendermaßen fort:

Die Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart aller Völker in Österreich ist nur möglich auf Grundlage des gleichen Rechtes und unter Vermeidung jeder Unterdrückung. Daher muß vor allem anderen jeder bürokratisch-staatliche Zentralismus ebenso wie die feudalen Privilegien der Länder perhorresziert [verworfen] werden.

Unter diesen Voraussetzungen, aber auch nur unter diesen, wird es möglich sein, in Österreich an Stelle des nationalen Haders nationale Ordnung zu setzen, und zwar unter Anerkennung folgender leitender Grundsätze:

Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat.

An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch Nationalkammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, besorgt wird.

Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt.

Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein Cigenes, Vorfl Reicbsparlament zu beschließendes Gesetz gewahrt.“

Das Programm schließt mit einem Appell an die Solidarität aller Nationen Österreichs.

Man bemerkt unschwer, daß in diesem Programm. noch einige Spuren des „Territorialismus“ übriggeblieben sind, aber im allgemeinen ist es eine Formulierung der nationalen Autonomie. Nicht umsonst wird es von Springer, dem ersten Agitator der national-kulturellen Autonomie, mit Begeisterung aufgenommen. Bauer ist ebenfalls für dieses Programm, das er als „theoretischen Sieg“ der nationalen Autonomie bezeichnet; nur schlägt er vor, größerer Klarheit halber den Punkt 4 durch eine bestimmtere Formulierung zu ersetzen, die von der Notwendigkeit spräche, die „nationalen Minderheiten innerhalb jedes Selbstverwaltungsgebietes als öffentlich-rechtliche Körperschaften zu konstituieren“, zwecks Verwaltung des Schulwesens und der sonstigen Kulturangelegenheiten.

So sieht das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokratie aus.

Betrachten wir nun seine wissenschaftlichen Grundlagen.

Sehen wir zu, wie die österreichische Sozialdemokratie die von ihr propagierte national-kulturelle Autonomie begründet.

Wenden wir uns den Theoretikern dieser letzteren, Springer und Bauer, zu.

Den Ausgangspunkt für die nationale Autonomie bildet die Auffassung der Nation als eines Personenverbandes, unabhängig von einem bestimmten Gebiet.

„Die Nationalität steht“, nach Springer, „in keiner wesentlichen Beziehung zum Gebiet“; sie ist „ein autonomer Personenverband“.

Bauer spricht ebenfalls von der Nation als einer „Personengemeinschaft“, der nicht „die ausschließliche Herrschaft in einem bestimmten Gebiete“ zugesichert ist.

Die Personen, die eine Nation bilden, leben aber nicht immer in kompakter Masse – sie zerfallen häufig in Gruppen und sind auf diese Weise in fremde nationale Organismen eingesprenkelt. Es ist der Kapitalismus, der sie zum Broterwerb in verschiedene Gebiete und Städte treibt. Aber auf fremden nationalen Gebieten befindlich und dort Minderheiten bildend, haben diese Gruppen unter den örtlichen nationalen Mehrheiten zu leiden, nämlich unter der Knebelung ihrer Sprache, Schule und dergleichen mehr. Daher die nationalen Zusammenstöße. Daher die „Untauglichkeit“ der Gebietsautonomie Der einzige Ausweg aus dieser Lage ist nach Springers und Bauers Meinung die Konstituierung der in den verschiedenen Teilen des Staates verstreuten Minderheit der gegebenen Nationalität zu einem allgemeinen, alle Klassen umfassenden nationalen Verband. Nur ein derartiger Verband würde, ihrer Meinung nach, die kulturellen Interessen der nationalen Minderheiten schützen können, nur er wäre imstande, dem nationalen Hader ein Ende zu machen.

„Daraus ergibt sich die Notwendigkeit“, sagt Springer, „die Nationalitäten zu konstituieren, mit Rechten und mit Verantwortlichkeit auszustatten ...“ Ja, „ein Gesetz ist leicht gemacht, aber ob es als Gesetz wirkt ...“ „Will man für die Nationen ein Gesetz schaffen, dann muß man erst die Nationen schaffen ...“ „Ohne die Konstituierung der Nationalitäten ist ein nationales Recht und das Ende der Wirren ... nicht möglich.“

In demselben Sinne äußert sich Bauer, wenn er die „Konstituierung der Minderheiten als öffentlich-rechtliche Körperschaften auf Grund des Personalitätsprinzips“ als „Forderung der Arbeiterklasse“ aufstellt.

Wie sollen aber die Nationen konstituiert werden? Wie soll die Zugehörigkeit des einzelnen zu dieser oder jener Nation bestimmt werden?

„Nationalzugehörigkeit“, sagt Springer, „ist durch die Matrikeln festgesetzt. Jeder im Kreisgebiet Domizilierende unterliegt dem Zwange, sich zu einer Nationalität des Kreises zu erklären.“

„Das Personalitätsprinzip“, sagt Bauer, „setzt voraus, daß die Bevölkerung nach Nationalitäten geschieden werde ... Auf Grund der freien Nationalitätserklärung der mündigen Staatsbürger sollen Nationalkataster angelegt werden.“

Weiter.

„Alle Deutschen in den national einheitlichen Kreisen“, sagt Bauer, „ferner alle im nationalen Kataster eingetragenen Deutschen in den Doppelkreisen bilden die deutsche Nation und wählen den Nationalrat.“

Dasselbe gilt für die Tschechen, Polen usw.

„Der Nationalrat. Dieser ist“, laut Springer, „das Kulturparlament der Nation, ihm obliegt die Feststellung der Grundsätze und die Bewilligung der Mittel, somit die ganze Obsorge für das nationale Unterrichtswesen, für die nationale Literatur, für Kunst und Wissenschaft, die Errichtung von Akademien, Museen, Galerien, Theatern“ usw.

Dieser Art sind die Organisation der Nation und deren zentrale Institution.

Mit der Schaffung solcher alle Klassen umfassenden Institutionen ist die österreichische Sozialdemokratie nach Bauers Meinung bestrebt, „die nationale Kultur ... zum Besitztum des ganzen Volkes zu machen und dadurch alle Volks genossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen.

Man könnte meinen, alles das bezöge sich nur auf Österreich. Bauer aber ist damit nicht einverstanden. Er behauptet entschieden, daß die nationale Autonomie auch für andere Staaten obligatorisch sei, die wie Österreich aus mehreren Nationalitäten bestehen.

„In Nationalitätenstaat“, meint Bauer, „setzt die Arbeiterklasse aller Nationen der nationalen Machtpolitik der besitzenden Klassen die Forderung der nationalen Autonomie entgegen.“

Indem er also unmerklich für die Selbstbestimmung der Nationen die nationale Autonomie unterschiebt, fährt er dann fort:

„So wird die nationale Autonomie die Selbstbestimmung der Nationen, notwendig das Verfassungsprogramm der Arbeiterklasse aller Nationen im Nationalitätenstaat.“

Er geht aber noch weiter. Er glaubt fest daran, daß die von ihm und Springer „konstituierten“, alle Klassen umfassenden „nationalen Verbände“ eine Art Prototyp der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft sein werden. Denn er glaubt zu wissen: „Sie (die sozialistische Gesellschaftsordnung) wird die Menschheit in national abgegrenzte Gemeinwesen gliedern“, im Sozialismus werde eine „Gliederung der Menschheit in autonome nationale Gemeinwesen“ erfolgen, so werde „die sozialistische Gesellschaft zweifellos ein buntes Bild von nationalen Personenverbanden und Gebietskörperschaften bieten“, und schlußfolgert: „Das sozialistische Nationalitätsprinzip ist die höhere Einheit des Nationalitätsprinzips und der nationalen Autonomie.“

Das dürfte genügen ...

So begründen Bauer und Springer in ihren Werken die national-kulturelle Autonomie.

Auffallend ist vor allem die gänzlich unbegreifliche und durch nichts zu rechtfertigende Unterschiebung der nationalen Autonomie für die Selbstbestimmung der Nationen. Von zwei Dingen eins: Entweder hat Bauer die Selbstbestimmung nicht begriffen, oder er hat sie begriffen, engt sie aber aus irgendeinem Grunde bewußt ein. Denn es ist unzweifelhaft, daß: a) die national-kulturelle Autonomie die Integrität des Nationalitätenstaates voraussetzt, während die Selbstbestimmung über den Rahmen dieser Integrität hinausgeht; b) die Selbstbestimmung der Nation die ganze Fülle der Rechte einräumt, die nationale Autonomie dagegen nur „kulturelle“ Rechte. Dies zum ersten.

Zweitens ist in der Zukunft sehr wohl ein Zusammentreffen innerer und äußerer Konjunkturen möglich, bei dem sich diese oder jene Nationalität entschließt, aus dem Nationalitätenstaat, sagen wir aus Österreich, auszutreten – haben doch die ruthenischen Sozialdemokraten auf dem Brünner Parteitag erklärt, sie seien bereit, „die beiden Teile“ ihres Volkes zu einem Ganzen zu vereinigen. Wie soll man es dann mit der „für die Arbeiterklasse aller Nationen notwendigen“ nationalen Autonomie halten? Was ist das für eine „Lösung“ der Frage, die die Nationen mechanisch in das Prokrustesbett der Staatsintegrität hineinzwängt?

Weiter. Die nationale Autonomie widerspricht dem ganzen Entwicklungsgang der Nationen. Sie gibt die Losung der Konstituierung von Nationen aus, aber lassen sie sich denn künstlich zusammenschweißen, wenn das Leben, wenn die wirtschaftliche Entwicklung ganze Gruppen von ihnen losreißt und über verschiedene Gebiete verstreut? Kein Zweifel, daß sich in den ersten Entwicklungsstadien des Kapitalismus Nationen zusammenschließen. Außer Zweifel steht aber auch, daß in den höheren Stadien des Kapitalismus ein Prozeß der Zerstreuung der Nationen einsetzt, ein Prozeß, der von den Nationen eine ganze Anzahl von Gruppen loslöst, die auf Erwerb ausziehen und dann auch für immer in andere Gebiete des Staates übersiedeln; die Auswanderer verlieren dabei die alten Bindungen, gehen an den neuen Wohnorten neue ein, eignen sich von Generation zu Generation neue Sitten und Gepflogenheiten, vielleicht auch eine neue Sprache an. Es fragt sich: Lassen sich denn solche voneinander abgesonderte Gruppen zu einem einheitlichen nationalen Verband zusammenfassen? Wo sind die wunderwirkenden Reifen, mit denen man Nichtzusammenzuhaltendes zusammenhalten könnte? Wäre es denkbar, beispielsweise die baltischen und die transkaukasischen Deutschen „zu einer Nation zusammenzuschließen“? Ist dies alles aber undenkbar und unmöglich, wodurch unterscheidet sich dann die nationale Autonomie von der Utopie der alten Nationalisten, die bemüht waren, das Rad der Geschichte zurückzudrehen?

Aber die Einheit der Nation zerfällt nicht nur infolge der Abwanderung. Sie zerfällt auch von innen heraus, infolge der Verschärfung des Klassenkampf es. In den ersten Stadien des Kapitalismus kann man noch von einer „Kulturgemeinschaft“ des Proletariats und der Bourgeoisie sprechen. Mit der Entwicklung der Großindustrie und der Verschärfung des Klassenkampfes jedoch beginnt die „Gemeinschaft“ dahinzuschmelzen. Man kann nicht im Ernst von einer „Kulturgemeinschaft“ der Nation reden, wenn Unternehmer und Arbeiter ein und derselben Nation aufhören, einander zu verstehen. Von was für einer „Schicksalsgemeinschaft“ kann die Rede sein, wenn die Bourgeoisie nach Krieg lechzt, das Proletariat aber erklärt: „Krieg dem Kriege“? Läßt sich denn aus solchen entgegengesetzten Elementen ein einheitlicher, alle Klassen umfassender nationaler Verband zustande bringen? Kann denn nach alledem noch von einem „Zusammenschluß aller Volksgenossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft“ gesprochen werden? Folgt denn daraus nicht klar, daß die nationale Autonomie dem ganzen Gang des Klassenkampfes widerspricht?

Doch setzen wir für einen Augenblick voraus, daß die Losung „Organisiere die Nation“ realisierbar sei. Man kann noch die bürgerlich-nationalistischen Parlamentarier verstehen, die bemüht sind, eine Nation „zu organisieren“, um mehr Stimmen zu ergattern. Seit wann aber geben sich Sozialdemokraten damit ab, Nationen „zu organisieren“, Nationen „zu konstituieren“, Nationen „zu schaffen“?

Was sind das für Sozialdernokratien, die in der Epoche der größten Verschärfung des Klassenkampfes alle Klassen umfassende nationale Verbände organisieren? Bis jetzt hatte die österreichische wie jede andere Sozialdemokratie die eine Aufgabe: das Proletariat zu organisieren. Aber diese Aufgabe ist offenbar „veraltet“. Springer und Bauer stellen jetzt eine „neue“, interessantere Aufgabe: eine Nation „zu schaffen“, „zu organisieren“.

Übrigens, Logik verpflichtet: Wer die nationale Autonomie akzeptiert hat, der muß auch diese „neue“ Aufgabe akzeptieren – diese akzeptieren heißt aber die Klassenposition verlassen, den Weg des Nationalismus betreten.

Die national-kulturelle Autonomie Springers und Bauers ist eine verfeinerte Spielart des Nationalismus.

Auch ist es durchaus kein Zufall, daß das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokraten von der Pflicht spricht, für „die Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart aller Völker“ Sorge zu tragen. Man denke nur: „Pflege“ einer solchen „nationalen Eigenart“ der transkaukasischen Tataren wie der Selbstgeißelung während des „Schachsai-Wachsai“-Festes „Entwicklung“ einer solchen „nationalen Eigenart“ der Georgier wie des „Rechtes auf Rache“! ...

Ein solcher Punkt gehört in ein ausgemacht bürgerlich-nationalistisches Programm, und wenn wir ihn im Programm der österreichischen Sozialdemokraten vorfinden, so nur deswegen, weil die nationale Autonomie sich mit derartigen Punkten verträgt, ihnen nicht widerspricht.

Jedoch, untauglich für die Gegenwart, ist die nationale Autonomie noch untauglicher für die zukünftige, die sozialistische Gesellschaft.

Bauers Prophezeiung über die Gliederung der Menschheit in „national abgegrenzte Gemeinwesen“ wird durch den ganzen Entwicklungsgang der modernen Menschheit widerlegt. Die nationalen Schranken festigen sich nicht, sie werden vielmehr zerstort und stürzen ein. Marx schrieb schon in den vierziger Jahren: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr“, die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.“ Die Fortentwicklung der Menschheit mit ihrem riesigen Anwachsen der kapitalistischen Produktion, mit ihrer Durcheinanderwürfelung der Nationalitäten und Zusammenfassung der Menschen auf immer umfangreicheren Territorien bestätigt diesen Gedanken von Marx entschieden.

Bauers Wunsch, die sozialistische Gesellschaft als „ein buntes Bild von nationalen Personenverbänden und Gebietskörperschaften“ hinzustellen, ist ein zaghafter Versuch, die Marxsche Konzeption des Sozialismus durch die reformierte Konzeption Bakunins zu ersetzen. Die Geschichte des Sozialismus zeigt, daß alle derartigen Versuche Elemente des unvermeidlichen Zusammenbruchs in sich bergen.

Wir wollen ganz absehen von dem unbestimmten, von Bauer gepriesenen „sozialistischen Nationalitätsprinzip“, das unserer Meinung nach eine Ersetzung des sozialistischen Prinzips des Klassenkampfes durch das bürgerliche „Nationalitätsprinzip“ bedeutet. Wenn die nationale Autonomie von solch einem zweifelhaften Prinzip ausgeht, so muß zugegeben werden, daß sie der Arbeiterbewegung nur Schaden bringen kann.

Dieser Nationalismus ist freilich nicht so durchsichtig, denn er ist durch sozialistische Phrasen geschickt maskiert, aber um so schädlicher ist er für das Proletariat. Mit einem unverhüllten Nationalismus kann man immer fertig werden: Es ist nicht schwer, ihn zu erkennen. Viel schwieriger ist es, einen maskierten und in seiner Maske unerkennbaren Nationalismus zu bekämpfen. Da er sich des Sozialismus als Schutzschildes bedient, ist er weniger verwundbar und viel zählebiger. Wo er unter Arbeitern anzutreffen ist, vergiftet er die Atmosphäre und verbreitet die schädlichen Ideen des gegenseitigen Mißtrauens und der Absonderung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten.

Aber die Schädlichkeit der nationalen Autonomie ist hiermit nicht erschöpft. Sie bereitet den Boden nicht nur für die Absonderung der Nationen, sondern auch für die Zersplitterung der einheitlichen Arbeiterbewegung. Die Idee der nationalen Autonomie schafft die psychologischen Voraussetzungen für die Trennung der einheitlichen Arbeiterpartei in einzelne, nach Nationalitäten aufgebaute Parteien. Ebenso wie die Partei zersplittern sich die Gewerkschaften, und es tritt eine vollständige Absonderung ein. So wird die einheitliche Klassenbewegung in einzelne nationale Bächlein zerteilt.

Österreich. die Heimat der „nationalen Autonomie“, liefert die traurigsten Beispiele für diese Erscheinung. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs, ehedem einheitlich, hat schon 1897 (auf dem Wimberger Parteitag) begonnen, sich in gesonderte Parteien zu zersplittern. Nach dem Brünner Parteitag (1899), der die nationale Autonomie akzeptierte, wurde die Zersplitterung noch stärker. Schließlich ist es so weit gekommen, daß es statt einer einheitlichen internationalen Partei jetzt sechs nationale Parteien gibt, von denen die tschechische sozialdemokratische Partei mit der deutschen Sozialdemokratie sogar nichts zu tun haben will.

Mit den Parteien sind aber die Gewerkschaften verbunden. In Österreich wird die Hauptarbeit in den Gewerkschaften wie in den Parteien von den gleichen sozialdemokratischen Arbeitern geleistet. Es war daher zu befürchten, daß der Separatismus in der Partei zu einem Separatismus in den Gewerkschaften führen würde, daß sich die Gewerkschaften ebenfalls spalten würden. So ist es auch gekommen: Die Gewerkschaften haben sich ebenfalls nach Nationalitäten geschieden. Jetzt kommt es nicht selten sogar soweit, daß die tschechischen Arbeiter Streiks der deutschen Arbeiter brechen oder bei Gemeindewahlen zusammen mit den tschechischen Bourgeois gegen die deutschen Arbeiter auftreten.

Hieraus läßt sich ersehen, daß die nationale Frage durch national-kulturelle Autonomie nicht zu lösen ist. Damit nicht genug: Diese spitzt die Frage zu und verwirrt sie dadurch, daß sie einen günstigen Boden für die Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung, für die Absonderung der Arbeiter nach Nationalitäten, für verstärkte Reibungen zwischen ihnen schafft.

So geht also die Saat der nationalen Autonomie auf.

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