Kitabı oku: «Emmanuel Macron», sayfa 2
DER HEGELIANER
Tatendrang ist eine weitere Eigenschaft des Emmanuel Macron, die ihn zum Romanhelden qualifiziert. Ursprünglich wollte der Junge aus Amiens Schriftsteller werden.15 In Frankreich wird dem erfolgreichen Intellektuellen oder Künstler zuteil, was in den Vereinigten Staaten dem Selfmade-Milliardär vergönnt ist: der sichere Weg zum Einzug in das Pantheon der Geschichte der Nation.
Man stelle sich vor: Bis zu einer Million Menschen kamen im Dezember 2017 in den Straßen von Paris zusammen, als der Gedenkgottesdienst für die Rocklegende Johnny Hallyday in der Pfarrkirche Madeleine abgehalten wurde. Weitere 15 Millionen verfolgten die Live-Übertragung im Fernsehen. Dass Hallyday Jahre zuvor in die Schweiz gezogen war, um Steuern zu sparen, war vergeben und vergessen.
Die 40 Mitglieder der Académie française, jener Institution, die seit 1635 die französische Sprache «pflegen» soll und den Inhalt des französischen Wörterbuchs bestimmt, werden buchstäblich «les immortels» («die Unsterblichen») genannt. Die Aufnahme ist die Krönung einer intellektuellen Karriere und in erster Linie Schriftstellern und Philosophen vorbehalten. Unsterblichkeit und ungeteilte Bewunderung erlangt man in Frankreich durch kulturelles Schaffen, seltener als Politikerin oder Politiker, und schon gar nicht, indem man Geld verdient.
Denn Kultur ist in Frankreich nicht Nebensache, sondern allgegenwärtig und alltäglich. Man kauft seinen trendigen deux-pièces (Zweiteiler) bei Zadig & Voltaire, den man dann beim Hamburgeressen im Take-away Le Flaubert mit Ketchup bekleckert, worauf man ihn im Kleinwagen Citroën Picasso zur Kleidereinigung Molière bringt. Bäckereien nennen sich in Anwandlung an Marcel Proust schon mal «Auf der Suche nach dem verlorenen Brot». Jeder Politiker, selbst ein Sarkozy oder eine Le Pen, will kultiviert erscheinen. Während der Gelbwesten-Krise debattiert Macron mit 64 Intellektuellen, vom Physik-Nobelpreisträger Serge Haroche bis zur Glücksökonomin Claudia Senik, live übertragen vom Radiosender France Culture.
Der Stil, die Sprache, die Umgangsformen zählen. Auf den Profilen der Internet-Dating-Plattform Tinder schreiben nicht wenige, das Gegenüber müsse bitte schön die französische Grammatik und den spielerischen Umgang mit der Sprache beherrschen. Das TV-Duell vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 gewann Macron nicht nur, weil Le Pen vor laufender Kamera inhaltlicher Fehler überführt wurde, sondern auch, weil sie absichtlich etwas vulgär auftrat. Es sind oft die feinen Unterschiede, die entscheidend sind. Schließlich war es der Franzose Pierre Bourdieu, der das Konzept des «kulturellen und sozialen Kapitals» in die Soziologie einführte und damit den Gedanken in die Welt setzte, dass Ungleichheit nicht nur eine Frage der Verteilung materieller Mittel sei.
In der Kulturnation Frankreich versucht sich auch Macron als Autor. Drei Bücher hat er angeblich bislang geschrieben. Als 19-Jähriger verfasste er einen ersten Roman über den spanischen Eroberer des Aztekenreiches, Hernán Cortés. Das zweite Werk handelt laut Aussage Brigitte Macrons von einer «enigmatischen, älteren Dame».16 Ein drittes Buch soll Macron über sein Leben geschrieben haben. Als Präsidentschaftskandidat dachte er darüber nach, Letzteres zu veröffentlichen. Macrons Berater sollen ihm jedoch davon abgeraten haben. Das Buch habe nicht unbedingt «literarische Qualitäten».17
Macrons erste Bücher bleiben also unter Verschluss. Und auch seine ursprünglich angepeilte Karriere als Intellektueller kommt anfangs nicht in die Gänge. Zweimal scheitert er an der Aufnahmeprüfung zur École normale supérieure (ENS), der Kaderschmiede der französischen Akademiker. Er sei abgelenkt gewesen und habe zu viel Zeit mit Brigitte verbracht, entschuldigt sich Macron heute. In Wahrheit versagte er im Fach Mathematik. Faute de mieux studiert Macron an der Pariser Sciences Po Poitik und Philosophie in Nanterre, wo er seinen philosophischen Lehrmeister Paul Ricœur kennenlernt.
Der in Frankreich hoch verehrte Giacomo Casanova schreibt in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben: «Wenn du nichts getan hast, was wert ist, aufgeschrieben zu werden, so schreibe wenigstens etwas, was wert ist, gelesen zu werden.»18 Bei Macron ist es umgekehrt: Er muss handeln, um Geschichte zu schreiben. Und er glaubt, vom Zeitgeist getragen zu werden.
Für seine erste große öffentliche Rede 2016 wählte der Präsidentschaftskandidat Macron die Stadt Orléans und das Datum des 8. Mai. An dem Tag wird der Sieg von Jeanne d’Arc über die Engländer 1429 gefeiert, die Orléans belagert hatten. Macron erklärte: «Die Franzosen brauchen Jeanne d’Arc, denn sie sagt uns, dass unser Schicksal nicht vorbestimmt ist.» An anderer Stelle präzisiert Macron: «Die große Aufgabe liegt darin, aus der Unbedeutsamkeit auszubrechen. Seit 30 Jahren leben wir in einer Art schlecht verdautem Postmodernismus. Wir müssen wieder dazu übergehen, etwas aufzubauen, und dabei auch dafür geradestehen, dass ein Teil der Entscheidungen eindeutig und unilateral ist.»
Macron ist ein Kind der Aufklärung, zu der er sich immer wieder öffentlich bekennt. Sein Glaube an ihre Ideale hat beinahe religiöse Züge: Ratio, Autonomie und Voluntarismus sind für ihn die Treiber des «Triumphs der Hoffnung».
Einer fortschrittsskeptischen Aufklärungskritik hält Macron unbeirrbaren Optimismus entgegen. Der etwas in Vergessenheit geratene amerikanische Schriftsteller Saul Bellow schrieb 1983 nach einem Paris-Besuch: «Die Nachkriegsphilosophie in Frankreich, übernommen von Deutschland, ist wenig erbaulich. Marxismus, Eurokommunismus, Existentialismus, Strukturalismus und Dekonstruktion. Sie haben nicht das Potenzial, die französische Zivilisation wiederherzustellen.»19
Gut ein halbes Jahrhundert später würde Macron diese Beobachtung unterschreiben. «Frankreich ist kein zynisches Land, doch die Eliten glauben das. Frankreich ist nicht dafür gemacht, ein postmodernes Land zu sein», sagt der Präsident und verneint keineswegs, dass die heutige Welt voller realer Enttäuschungen sei.20 Die kritischen postmodernen «Dekonstruktivisten» hätten sehr wohl Schwachstellen des Aufklärungsversprechens beleuchtet. Aber die Postmoderne habe kein eigenes konstruktives Bild der Rolle des Menschen in der Welt geschaffen. Eine postmoderne «Haltung» helfe nicht weiter. Macron macht sie gar für einen wachsenden Relativismus und Fatalismus in den Eliten und der Gesellschaft verantwortlich, die Frankreich lähmen. Es nähre nur die Resignation, der Politik und dem Individuum die Möglichkeit abzusprechen, die Welt zu verbessern.
Macron könnte im Sinne Odo Marquards als ein «Weigerungsverweigerer» bezeichnet werden. Dem Philosophen zufolge gehört es zur Skepsis, Affirmationsverbote zu übertreten. Das kleine «Ja»-Sagen sei schwieriger als das große «Nein»-Sagen.21 Macron sagt «Ja» und handelt entsprechend. «Wenn wir das Land zum Erfolg führen und in der Kontinuität unserer Geschichte Wohlstand im 21. Jahrhundert schaffen wollen, müssen wir handeln. Wir tragen die Lösung in uns», schreibt er in Révolution.22 Handeln, auch wenn es bedeutet, Risiken einzugehen und sich die Hände schmutzig zu machen. Autorin Virginie Despentes kommentierte bei Amtsantritt Macrons im Mai 2017: «Ich hoffe, er wird kapieren, dass die Leute nahe daran sind, zu explodieren, dass sie verzweifelt sind. An seiner Stelle würde ich so wie Chirac gar nichts machen.»23 Der Präsident sagt dann vier Monate später, im September: «Wenn ich es nicht schaffe, Frankreich radikal umzubauen, wird es schlimmer, als wenn ich überhaupt nichts mache.»
Gilt die Weisheit des berühmten Leoparden von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dass sich alles ändern müsse, damit alles so bleibe, wie es ist? Oder aber jene Sentenz aus Despentes’ Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex, dass am besten alles gleichbleiben solle, damit es nicht noch schlimmer werde?
Wenn Macron an seine Erfolgschance glaubt, dann weil er sein Schicksal als Teil einer größeren Geschichte, ja einer Vorsehung betrachtet. Dem Schriftsteller Emmanuel Carrère sagt er Sätze wie: «Ich glaube, unser Land steht am Rande des Abgrunds und könnte sogar stürzen. Wenn wir nicht an einem tragischen Moment unserer Geschichte wären, wäre ich nie gewählt worden.» In einem Interview mit der Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française beteuert er: «Mich stimmt paradoxerweise optimistisch, dass die Geschichte wieder tragisch wird. Europa wird nicht mehr geschützt sein, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Dieser alte Kontinent von Kleinbürgern, die sich im materiellen Komfort geborgen fühlen, ist daran, ein neues Abenteuer zu beginnen, in dem die Tragik zurückkommt. … Und in diesem Abenteuer können wir wieder zu einem neuen Elan finden, dem sich auch die Literatur nicht entziehen wird.»24
Abgesehen davon, dass Macron von «Kleinbürger-Mentalität» wenig hält, zeigt das Zitat vor allem eins: Er glaubt im Sinne des Historikers Fritz Stern an die Offenheit der Geschichte. Für die Handelnden gibt es Raum, folgenreiche (Fehl-)Entscheidungen zu treffen. Wenn Bundeskanzler Helmut Kohl einst vom Zipfel des Mantels der Geschichte sprach, den er ergriffen habe, so geht es bei Macron mindestens um den halben Mantel. Die Grenze zwischen Vertrauen in die eigene Handlungsmöglichkeit und Größenwahn ist fließend.
So viel Verantwortung könnte Macron einschüchtern. Doch der Präsident sieht sich nicht nur als Held des eigenen National- und Europa-Epos, sondern auch als Teil einer Vorsehung. «Man ist immer nur das Instrument von etwas, das uns überragt», sagt der frühere Student der Philosophie,25 der seine Diplomarbeit mit dem Titel «Die Vernunft in der Geschichte» über Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb.
In Interviews beruft er sich immer wieder auf den Denker des deutschen Idealismus und dessen Vorstellung von der «List der Vernunft». Hegel meint damit, dass «Fortschritt» in der Menschheitsgeschichte getrieben werde von einer Vielzahl größerer und kleinerer Handlungen, wobei die Akteure sich der Tragweite ihrer Entscheidung gar nicht bewusst seien. Verkürzt gesagt ist die «List der Vernunft» das Pendant zur Theorie der «unsichtbaren Hand» auf dem freien Markt: eine Art metaphysische Kraft, die zur richtigen Verteilung wirtschaftlicher Güter in dem einen Fall und zum Fortschritt der Menschheit im anderen Fall beiträgt.
Während seiner Präsidentschaftskampagne setzte Macron genau auf diesen Fortschrittsglauben, was ihm den Spott seiner Konkurrenten eintrug. Die Franzosen sollten nicht auf Macrons «halluzinogene Pilze» hereinfallen, warnte Jean-Luc Mélenchon, und der Mitterechts-Kandidat François Fillon schimpfte Macron einen «Guru». Am Ende aber gelang Macron ein erstaunlicher Kniff: Die Franzosen mögen nur zu gern jammern, aber Opfer wollen sie auf keinen Fall sein. Wenn Macron Frankreichs Pessimismus und Opferhaltung anprangerte, traf er bei seinen Landsleuten einen wunden Punkt.
Macrons philosophisch-ideologischer Diskurs verdrängte die handfestere politische Debatte über Verteilungskämpfe und Identitätspolitik, die seine Konkurrenten entfachen wollten. Die Optimismus-Predigten verfingen im ersten Wahlgang bei gut einem Viertel der Wählerinnen und Wähler, die nach Hoffnung und erstarktem Selbstvertrauen dursteten. Genug, um den Emporkömmling in den Élysée-Palast zu bringen und damit in das politische Amt, das in Europa mit der größten Machtfülle ausgestattet ist. Nun kann er sein Epos schreiben.
DER UNFEHLBARE
Emmanuel Macron ist der Typ Klassenbester. Im Klassenzimmer saß er in der vordersten Reihe. Auf den Fotos seines Jahrgangs sitzt er ebenfalls vorne in der Mitte und hält die Schiefertafel mit dem Klassennamen hoch.26 Doch er bekundet Mühe, Fehler einzugestehen. Als Macron während des Wahlkampfs fälschlicherweise in einem hektischen Straßeninterview Französisch-Guayana als eine Insel bezeichnet, räumt er den Fehler nicht einfach ein. Stattdessen sagt er, er habe immer gewusst, dass das Übersee-Département keine Insel sei, aber eingeklemmt zwischen dem Amazonas und dem Ozean fühle sich das Leben dort so an.
Emmanuel Carrère wartet mit einer weiteren vielsagenden Anekdote auf. Nach seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse 2017 wirft ein französisch-kongolesischer Autor Macron im Gespräch vor, keinen frankophonen Autor genannt zu haben, der nicht Franzose sei. Macron erwidert, er habe sehr wohl den senegalesischen Poeten Léopold Sédar Senghor erwähnt. Als die Situation peinlich wird, da niemand Senghors Namen in Macrons Rede gehört hat, wechselt der Präsident behände die Strategie. Er habe ja vom französischen Sprachraum gesprochen, und wenn man von Frankophonie rede, sei es ja klar, dass man auch Senghor im Kopf habe.
Unterlaufen ihm Fehler, die er nicht einfach so abschütteln kann, sind andere schuld. Wenn Frankreich in der Coronavirus-Pandemie zu Beginn mit dem Impfen langsamer vorankommt als etwa Deutschland, dann lässt er die Sonntagspresse wissen, er sei «stinksauer» auf die Verantwortlichen.27 Dabei laufen bei der Covid-19-Politik alle Fäden im Élysée-Palast zusammen. Der schleppende Start war nicht nur dem Mangel an Impfstoff geschuldet: Macron setzte aufgrund der in Umfragen gespiegelten hohen Impfskepsis im Land auf einen behutsamen Start und begrenzte den Kreis der Impfempfänger auf Altenheime.
Nach den Europawahlen 2019 lehnte das Europäische Parlament Sylvie Goulard ab, Macrons Kandidatin für das Amt der französischen EU-Kommissarin. Gegen die unermüdlich für das deutsch-französische Verständnis kämpfende Goulard, eine Verbündete Macrons der ersten Stunde, liefen Ermittlungsverfahren wegen illegaler Parteienfinanzierung. Macron machte die frisch gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für die Blamage verantwortlich. Sie habe Goulard als Kommissarin in Brüssel gewollt und zugesichert, dass das Europäische Parlament sie bestätigen würde.28 Selbst wenn dies stimmen sollte, wird doch deutlich: Macron desavouiert lieber von der Leyen, als Verantwortung zu übernehmen. Zumal manche Volksvertreter die Abfuhr Goulards auch nutzten, um sich an dem französischen Präsidenten zu rächen. Macron hatte sie zuvor gedemütigt, als er die Ernennung ihres Favoriten für das Amt des Kommissionspräsidenten blockierte, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber. Der Franzose hielt den Bayern für nicht fähig genug.
Und selbst wenn Macron Fehler eingesteht, klingt es nicht wirklich so. Als die Gelbwesten-Proteste im Winter 2018-19 das Land an den Rand des Chaos bringen, erklärt Macron erst nach Wochen gewalttätiger Proteste: «Ich höre die Wut.» Und erläutert: Er habe es nicht geschafft, die Franzosen mit den Eliten zu versöhnen. Im ersten Pandemie-Jahr erklärt Macron im Juni 2020, die globale Gesundheitskrise zwinge die Welt und die Politik grundsätzlich dazu, sich neu zu erfinden. «Mich zuallererst», fügt er hinzu.
«Sich neu zu erfinden» ist nur ein halbes mea culpa. Einen Fehler richtig einzugestehen, wie das Angela Merkel getan hat, so dass die Bürgerinnen und Bürger seine Reue auch fühlen, das schafft Macron so gut wie nie. Solange man handelt und «mobil bleibt», wie Macron es ausdrückt, glaubt er fest daran, jede Situation wieder drehen und doch noch zu seinen Gunsten beeinflussen zu können. Gefragt, warum er nie einen seiner Romane veröffentlicht habe, erklärt Macron: «Im politischen Leben wird Unzufriedenheit mit Aktion behoben oder zumindest bekämpft. Solange Sie nicht vollkommen zufrieden sind, bleiben Sie mobil und machen weiter. Im literarischen Leben muss man irgendwann einen Punkt setzen und das, was man geschrieben hat, andere lesen lassen. Das finde ich schwierig. Wahrscheinlich bin ich zu stolz.»29
Nie aufgeben, den Einsatz verdoppeln, weitermachen: Das ist Macron. Scheitern gibt es nicht in seinem System, stattdessen immerzu die Flucht nach vorn. Als Jugendlicher fällt er bei der Aufnahmeprüfung für das Musikkonservatorium in Amiens im Klavierspiel durch. Ein Jahr später tritt er abermals an und besteht darauf, der gleichen Prüferin vorzuspielen. Macron wird zugelassen und gewinnt den dritten Preis des conservatoire. Auch die Aufnahmeprüfung zur École nationale d’administration (ENA), Brutstätte der französischen Top-Beamten und Alma Mater von vier französischen Präsidenten, meistert er erst im zweiten Anlauf — jene Eliteschule, die er 2021 dann abschafft. Erhält Macron, der Überehrgeizige, einmal nicht die Bestnoten oder macht er Fehler, versucht er sofort, sie auszuwetzen. Hat er sein Ziel erreicht, geht es auf zur nächsten Etappe.
Im Élysée-Palast steht ein Flügel. Ob Macron immer noch spielt?
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ZWEIFEL UND VERZWEIFLUNG IN FRANKREICH
Eine Tür ist entweder offen oder geschlossen. Oder aus den Angeln gehoben, somit das Schloss dringend zu reparieren ist.
— BORIS VIAN
Ein Held braucht immer eine Bühne: Frankreich ist eine. Nach wie vor ist es das mit Abstand meistbesuchte Land der Welt. Die «Stadt der Lichter» glänzt in Netflix-Serien wie Emily in Paris und bleibt ein Magnet für globale Nomaden mit romantischen Selbstverwirklichungsentwürfen. Aber für die Einheimischen stellt Frankreich keine sonderlich gefällige Lebenskulisse dar. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass das Land schon seit Jahrzehnten in einer kollektiven depressiven Grundstimmung verharrt.
Schon vor Kaffee und Croissant geht es los. Der Radiowecker schrillt, und es läuft la matinale. Die Hälfte der Franzosen hört oder schaut täglich eines der unzähligen Morgenprogramme. Je nach politischer Ausrichtung schalten Madame et Monsieur France Culture (links), France Inter (Mitte-links), Europe 1 (Mitte-rechts), RTL (rechts) oder RMC (populistisch) ein. Während in Deutschland die morgendlichen Radio- und Fernsehsendungen kaum politisch gefärbt sind und primär gute Laune zu verbreiten suchen, genießen die Franzosen bei Tagesanbruch Polemik pur. Die Moderatoren berichten nicht über das politische Geschehen, sondern sie besprechen es kritisch-kämpferisch und oft mit zynischem Unterton, sie wollen abgebrüht wirken. Der Höhepunkt ist jeweils das Interview mit Exponenten aus der Politik oder der Literatur, die ein Klagelied gegen die Regierung, die Opposition, Brüssel oder allemal über die Welt anstimmen (und dabei meist ihr jüngstes Buch vorstellen).
Dem Land gehe es schlecht, so die veröffentlichte Meinung. Seit den 1970er Jahren hat Frankreich bekanntlich seine liebe Mühe mit dem globalen Kapitalismus. Der internationale Standortwettbewerb hat die steuerfinanzierte Umverteilungspolitik und den starken Schutz der Arbeitnehmer erschwert, auch das gut ausgebaute Gesundheitssystem kam unter Druck, was sich in der Pandemie gerächt hat. Die Abwanderung von Unternehmen, délocalisation genannt, weckt eine allgemeine Malaise.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat seit der Präsidentschaft Giscard d’Estaings (1974–1981) jede Regierung zu ihrer obersten Priorität erklärt. Doch mit wenig Erfolg. Frankreich ist im Grunde eine Gesellschaft von Anarchisten. «Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 258 Käsesorten gibt?», fragte einmal Charles de Gaulle. So fanden die Franzosen keine gemeinsame Antwort auf den globalen Wettbewerb, anders als die weniger individualistischen und stärker am Gemeinwesen orientierten Deutschen. Die Bundesrepublik zelebriert in Sonntagsreden den Wettbewerb, aber werktags verständigen sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften zum Beispiel darauf, Lohnzurückhaltung im Übermaß zu üben.
François Mitterrand versuchte es mit dem Sozialismus à la française, einem Mix aus Nationalisierungen, Senkung des Rentenalters, Arbeitszeitverkürzung und keynesianischer Konjunkturpolitik. Doch die Rechnung des studierten Literaturwissenschaftlers ging nicht auf. Das Land geriet noch stärker in Schieflage. Nach zwölf Jahren an der Macht stellte der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik 1993 resigniert fest: «Wir haben alles gegen die Arbeitslosigkeit versucht.»
Konservativ-liberale Regierungen hofften immer wieder, eine Schwächung des Arbeitnehmerschutzes und niedrigere Löhne würden die Leute wieder in Arbeit bringen, scheiterten jedoch mit ihren Reformplänen am Widerstand der Gewerkschaften, die jedes Mal die öffentliche Meinung für sich einnahmen und bei Bedarf das Land lahmlegten.
Die sozialistische Regierung unter Premierminister Lionel Jospin (1997–2002) setzte ein weiteres Mal auf großzügige Frührenten, und sie verkürzte die Wochenarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden. Schließlich aber strich auch Jospin die Segel, als der Reifen-Hersteller Michelin ein Werk schloss: «Man kann nicht alles vom Staat erwarten. Man kann die Wirtschaft nicht mehr allein mit Gesetzen und Texten regulieren.»
Die hohe Arbeitslosigkeit war und ist ein Drama für die Betroffenen — vor allem für die jüngere Generation, sie trägt die Hauptlast. Die Jugendarbeitslosigkeit (15 bis 24 Jahre) fluktuiert seit den 1990er Jahren bei knapp 20 Prozent und erreichte nach der Finanzkrise 2009 sogar fast 25 Prozent. Im langjährigen Schnitt sind 8 Prozent der Gesamtbevölkerung erwerbslos.
Das Scheitern aller Regierungen legt den beschränkten Handlungsspielraum der Politik offen, ja ihre Machtlosigkeit. Das ist fatal für die Republik, denn das Land ist, im Unterschied zur deutschen Kulturnation, eine Staatsnation: Der Staat hat die Nation überhaupt erst geschaffen. Er ist die primäre Identifikationsgröße und ein idealistisches Projekt. L’État (den man mit großem E schreibt, obwohl die Sprache fast nur Kleinbuchstaben verwendet) soll den Franzosen Rechte und somit die Freiheit geben, nach ihrer Fasson zu leben; er soll umverteilen und dadurch Gerechtigkeit schaffen; und er soll die Bürgerinnen und Bürger «zusammenführen» (das Zauberwort rassembler), das heißt sie miteinander verbrüdern. Dazu gehört das in der französischen Verfassung verankerte Recht auf Arbeit, das auf die sozial-republikanische Revolution von 1848 zurückgeht. Aber wozu ist dieser Staat noch gut, wenn er die Lebensrealität der Franzosen nicht mehr zu gestalten und die Rechte, die er festschreibt, nicht durchzusetzen vermag?