Kitabı oku: «Das Tagebuch der Jenna Blue», sayfa 2
Du hast mich gefragt, ob mir das Schreiben gefällt. Ich konnte nicht zugeben, dass es so ist. Scarlett saß neben dir. Es war die Art, wie sie mein Tagebuch ansah.
Als witterte sie eine Schwäche.
Ich hasse sie dafür.
Ich hasse auch dich, weil du es nicht bemerkst.
Sie fragte, ob sie eines haben könne, und du hast versprochen, ein zweites zu kaufen. ›Fein‹, hat sie gesagt und gelacht und mich mit diesem Blick bedacht, der so vieles verspricht. So viel böses Blut zwischen uns.
Ich traue ihr nicht.
Wieso tust du es?
Papa sitzt in seinem Arbeitszimmer, neben ihm auf dem Tisch stapeln sich die Zeitungen der letzten Wochen, darauf Dutzende schwarze Ringe: Zeugen seiner Kaffeesucht. Er blättert in einem Buch und blickt erst auf, als ich meinen Rucksack in einem Anfall von Trotz in die Ecke zwischen die Zeitschriftenstapel schmetterte. Die Dielen ächzen, als sich Papa aus dem Sessel hievt, in dem er vermutlich den ganzen Morgen saß. Manchmal fürchte ich, er kommt nur uns zuliebe aus ihm heraus. Für einen kurzen Moment, einen Kuss, eine Umarmung. Weil er die Scham nicht erträgt, die in unseren Blicken wächst. Was aus ihm werden soll, wenn wir erst fort sind, wage ich mir kaum auszumalen.
Unbeholfen drückt er Scarlett einen Kuss auf den Scheitel. Sie verzieht den Mund und taucht unter seinem Arm hinweg in die Küche. Anna steht am Herd und lächelt, als Scarlett von hinten die Arme um sie schlingt.
»Was gibt es?« Sie ignoriert unseren Vater.
Er nimmt es kommentarlos hin und zwinkert mir zu, ehe er zurück in sein Zimmer schlurft und im verblichenen Blümchenpolster seines Sessels versinkt. Ich beobachte von der Tür aus, wie er den Umschlag des Buches anstarrt, das er vorgab zu lesen. Früher einmal verbrachte er jeden Nachmittag mit mir in der Werkstatt. Wir flickten Möbel, schliffen und strichen Zäune, planten ein Baumhaus. Heute liegt so dicker Staub auf der Werkbank, als wäre sie seit einem Jahrzehnt ungenutzt – was sie ist.
Zehn Jahre sind vergangen, seit Mutter uns verließ.
Zehn Jahre, die Vater zu einem Wrack haben verkommen lassen. Einem Schatten seiner selbst.
»Jenna?«, fragt er heiser und blickt zu mir auf. Der Wunsch nach Ruhe steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er hofft, dass ich gehe, dass ich nicht erneut versuche, ihn aus dem Zimmer und seiner Lethargie zu befreien. Er will nicht. Er will einfach nicht.
»Ich hab dich lieb«, sage ich deshalb.
Er lächelt und kurz glänzen seine Augen wie früher, dann greift er nach einem Buch – einem anderen als zuvor – und klappt es ziellos auf. Fahrig gleitet sein Blick über die Zeilen, von denen ich bezweifle, dass auch nur eine einzige seinen Verstand erreicht. So sitzt er da, zwischen abgegriffenen Büchern und überfüllten Regalen, die sich unter der Last eines Jahrzehnts gefährlich biegen, ein einsamer alternder Mann, der dem Leben abgeschworen hat.
Sorgsam schließe ich die Tür und lehne die Stirn ans Holz. Aus der Küche dringt Scarletts Lachen und Annas Stimme. Sie sprechen über die Party, das Essen, die Ferien. Unverfängliche Themen. Über Papa reden sie nie. Vielleicht fehlen ihnen die Worte. Vielleicht glauben sie, es sei besser, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Wer lange genug eine Lüge lebt, hält sie irgendwann für die Wahrheit.
Ich fahre mit der Hand über die Blümchentapete unseres Flurs. An den Ecken blättert sie bereits ab, offenbart den grauen Putz darunter. Mutter hat sie ausgesucht. Alles hier trägt ihre Spuren: das Muster von Papas Sessel, die bunten Gemälde, die gestrichenen Stühle des Esszimmers, der Teich in der Badewanne. Ich erinnere mich nur flüchtig und unfreiwillig an sie; hier ein Bild, dort ein Fetzen. Wie sie den ersten Fisch in die Wanne setzte, wo er noch heute zwischen Sumpfgräsern und Lotusblumen golden hervorschimmert. Scarlett auf der Schaukel im Wohnzimmer, Mutter hinter ihr in einem bunten Kleid. Anna im Garten, auf der Wange einen leuchtenden Handabdruck und zu ihren Füßen ein zertretener Wildkräuterstrauß. Ich erinnere mich an Mutters Schreie, nicht jedoch an den Grund des Streits.
Nie wieder! Tu das nie wieder!
Ich umfasse das gedrechselte Treppengeländer. Meine Finger finden eine jede Kerbe blind. Dieses Haus liegt mir im Blut, mit all seinen schimmeligen Ecken und knarrenden Dielen. Es konserviert unsere Erinnerungen wie in Formaldehyd. Das Leben, das wir einst hatten, spiegelt sich in jedem Zentimeter. Die Striche an der Wand im oberen Stockwerk, mit denen wir unsere Größe festhielten.
Anna. Jenna. Scarlett.
Daneben der Elefant, den ich unbeholfen an die Wand malte, als niemand hinsah. Er erinnert mehr an einen Hasen mit zu langer Nase. Ich zeichne die blassen Linien nach, frage mich, ob sie verschwänden, sollte ich sie oft genug nachfahren, und fürchte zugleich, dass es geschieht.
Der Gedanke ist unerträglich.
Genauso der an die Zukunft. Ich bilde mir ein, die Jahre verfliegen zu sehen; mich selbst mit Koffern nach unserem Abschluss, kurz darauf Papa in einem Sarg; ihm folgt Anna, treu bis zum Schluss. Das Haus steht eine Weile leer, der Winter kommt, der Winter geht, ehe Maler all unsere Spuren von den Wänden tilgen, den Elefanten unter weißer Farbe begraben und mit ihm unsere Kindheit.
»Jenna?« Anna steht am Fuß der Treppe. »Kommst du essen?«
»Gleich.« Verstohlen wische ich die Tränen fort. Sie soll nicht sehen, dass ich weine. Sie würde es falsch verstehen, sich womöglich die Schuld geben. Und das will ich nicht.
Wenn es etwas Beständiges in unserem Leben gibt, dann Anna. Die gute Seele des Hauses, die Mutters Aufgaben übernahm, als sie verschwand, und Papas mit dazu, als er sich und uns aufgab. Sie ist meine Halbschwester, ihre Mutter starb, bevor meine in ihr Leben trat. Wir sprechen selten darüber, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, zu sehr unterscheiden sie sich voneinander. Nicht zu Unrecht handeln Märchen von bösen Stiefmüttern.
»Alles in Ordnung?« Erneut Anna, diesmal näher. Sie ist die Treppe hinaufgekommen. Ihre Hand legt sie auf meine Schulter. »Scarlett sagt, du begleitest sie zur Party?«
»Blödsinn.« Meine Stimme klingt schrecklich erstickt.
Anna bemerkt es nicht. »Du solltest mitgehen. Freunde treffen, ein bisschen feiern, Spaß haben.« Uns trennen nur acht Jahre, doch manchmal kommt es mir wie eine ganze Generation vor. Sie streicht mir die Haare aus der Stirn; hat sie die Tränen doch gesehen? »Sie reicht dir eine Hand, Jenna.«
»Es ist bloß eine Party«, protestiere ich.
»Richtig, bloß ein Abend. Was macht das schon?«
Ja, was macht das eigentlich? Ein Abend. Eine Party.
»Vielleicht«, gebe ich nach. Ich tue es allein für Anna.
Veilchenblau
Ich weiß nicht, wann ich Scarlett das erste Mal des Nachts die Stufen hinunter folgte; die Wände sind hellhörig, mein Schlaf ist leicht und im Gegensatz zu mir hat sie nie gelernt, sich lautlos zu bewegen, eins zu werden mit dem Haus und seinen Schatten. Ich hörte sie in der Küche hantieren und später im Wohnzimmer. Die Dielen verrieten ihren Weg; und wie ich so dastand und mit der Dunkelheit verschmolz – beim ersten und bei allen folgenden Malen –, vernahm ich nichts als das Wispern des Windes, der zärtlich ums Gemäuer strich und sich mit Scarletts Atem vereinte. Ihr Seufzen lockte mich wie das Licht die Motte. Das Wohnzimmer, bestehend aus zwei Teilen, betrat ich durch den hinteren Zugang im Flur. Scarlett befand sich im angrenzenden Teil nahe der Küche; ich konnte sie hören – und schließlich auch sehen. Sie saß auf dem Sofa, die Beine angewinkelt, das Nachthemd gelöst. Erst starrte ich nur auf die Rundung ihrer milchweißen Brüste, die im Gegensatz zu meinen so prall waren, dass ich mich unwillkürlich fragte, weshalb wir uns ausgerechnet in diesem Detail unterschieden. Dass sie sich vor das Fenster mitten in das Viereck aus Mondlicht setzte, vermag ich mir nur so zu erklären, als dass auch sie sich gern zusieht und um ihre Schönheit weiß.
Sie zu beobachten, wie sie sich selbst berührt, sie für ihre Unbeschwertheit zu hassen und zugleich um ihre scheinbar grenzenlose Freiheit zu beneiden, lässt mich ihr so nah sein wie nur irgend möglich. Wir teilen ein Geheimnis. Das verleiht mir gewisse Macht über sie. Es macht den Alltag in ihrem Schatten erträglicher. Ich weiß, was sie zur dunkelsten Stunde tut. Ich weiß, wer sie dann ist.
»Ich wusste, dass es dir steht!«
Scarletts Mund lächelt, doch ihre Augen sind so ausdruckslos wie mein Gesicht. Nebeneinander stehen wir vor dem Spiegel, der jede Ballerina vor Neid erblassen ließe. Wie Scarlett es aushält, sich durchgehend selbst zu betrachten – am Schreibtisch, beim Umziehen, im Bett –, ist mir schleierhaft. Ich würde mich beobachtet fühlen.
Vielleicht ist es gerade das, was ihr gefällt.
Vielleicht kann sie nicht mehr ohne.
»Was sagst du dazu?« Sie zupft den Träger auf meiner Schulter mit spitzen Fingern zurecht. Ich weiß nicht, wann wir uns das letzte Mal so nah waren. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie sie sich anfühlt. Der Gedanke, ihre Hand zu halten, sie gar in den Arm zu nehmen, ist so surreal, dass ich unweigerlich einen Schritt zur Seite trete. Scarlett quittiert es mit einer gehobenen Braue.
»Gefällt es dir nicht?«
Nein. »Doch.« Ich betrachte mich im Spiegel.
Ich trage niemals Rot. Es ist Scarletts Farbe. Ihre Schuhe, ihr Haarreifen, ihr Mantel. Ihre Farbe. Selbst in der Schule wagt niemand darauf zurückzugreifen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Rot liegt ihr im Blut. Oder besser noch: im Namen. Mich in diesem Kleid zu sehen, fühlt sich an, als würde ich ihre Haut tragen.
»Vertrau mir«, sagt sie und streift sich das Top über den Kopf. »Es ist perfekt.«
»Was ziehst du an?«
»Ich gehe nackt«, scherzt sie und stellt sich neben mich, als sei es ihr tatsächlich ernst. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, wird durch den Kontrast der Farben verstärkt: sie lilienbleich, ich blutrot. Als wären wir durch den Spiegel in ein verdrehtes Wunderland gefallen, fragt sich nur, wer den Kopf verliert.
Ich? Oder sie?
Zu meinem Entsetzen greift sie auch noch zu dem alten Stoffhasen, den sie von Geburt an besitzt. Das Fell, ehemals flauschig weiß, ähnelt mehr dem eines Kadavers, dem Gesicht fehlt ein Auge und Wolle quillt wie Gedärm aus einem Riss, den sie stets verbot zu flicken.
»Wie spät ist es?«, frage ich.
»Zu früh«, sagt sie und winkt ihrem Spiegelbild mit der Hasenpfote zu. Wahrscheinlich existiert in jedem Haushalt ein solches Kuscheltier, dessen Ablaufdatum längst überschritten ist, das dennoch nicht entsorgt werden kann; zu viele Erinnerungen sind daran geknüpft, zu viele Tränen hat es aufgesogen, zu viele Nachtmahre in die Flucht geschlagen – falls Scarlett je Albträume hatte.
Was ich bezweifle. Nicht Scarlett.
Ich selbst besitze kein solches Tier. Kein Kissen. Keine Decke. Nichts. Anna sagt, ich hätte nie etwas gebraucht, ich hätte gar alles, was sie mir als Kind ins Bett legten, wieder hinausgeworfen. Vielleicht hat sich bereits darin mein Hang zur Einsamkeit angedeutet, so wie in Scarletts Hasen die Eigenheit, ihren Freunden alles abzuverlangen. Zerliebt nennt sie den Zustand, in dem er ist.
Zerstörerische, vernichtende Liebe.
Entspannt greift sie nach einem ultrakurzen Paillettenkleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe – und auch nicht in ihrem Schrank, dabei kenne ich jedes Kleidungsstück. Beinahe zwanghaft suche ich ihr Zimmer auf, sobald sie das Haus verlässt. Ich weiß, in welcher Schublade sie ihre Unterwäsche aufbewahrt und was sie zwischen den Seidenstoffen versteckt. Ich kenne den Inhalt ihres Schreibtisches so gut wie den ihres Mülleimers oder den der Briefe, die sie regelmäßig an Mutter schreibt. Sie sind kurz und knapp, mehr eine distanzierte Zusammenfassung der Erlebnisse, denn der Versuch echter Teilhabe. Ich weiß nicht, wozu sie die Briefe schreibt; genauso wenig wie ich weiß, woher das Kleid stammt.
Scarletts Mund verzieht sich spöttisch. »Ein Geschenk.«
Als wüsste sie, dass ich stöbere. Dass ich sie dafür verachte, wie leichtfertig sie Geld ausgibt. Papas Staatshilfe reicht kaum für die Nebenkosten. Anna führt Buch über alle Ausgaben und einigen Dorfbewohnern den Haushalt, um das Nötigste dazuzuverdienen. Ich trage meinen Teil bei, indem ich den örtlichen Friedhof pflege, das Gras stutze und die Grabsteine säubere.
Nur Scarlett … ist eben Scarlett.
»Schau nicht so.« Sie wedelt meinen Vorwurf davon, ehe ich ihn in Worte fassen kann. »Heute Abend haben wir Spaß, du wirst schon sehen.«
In mir wächst ein kleiner drückender Knoten, den ich verzweifelt zu ignorieren versuche. Sie ist all das, was ich nicht bin. Unbekümmert. Frei. Sorglos. Beliebt. Sie fühlt sich wohl in ihrer Haut, besitzt Freunde, die ihr etwas schenken, und einen Freund, der ihr verfallen ist. Alle sind das, einfach weil sie sie ist. Und ich bin ich.
Und manchmal ist das einfach scheiße.
Sie reicht mir einen Lippenstift. »Sie werden dir zu Füßen liegen.«
Ich widerstehe dem Drang, ihn aus dem geöffneten Fenster zu schmeißen und den Abend zu streichen. Anna zuliebe.
Während des Abendbrots verlor sie kein Wort darüber, doch ihr Blick sprach Bände. Geh mit. Ob sie wirklich glaubt, dass ein Abend etwas ändert, wage ich zu bezweifeln. Anna ist pragmatischer Natur, nicht umsonst hat sie uns die letzten Jahre getrennt.
Scarlett, in dein Zimmer, Jenna, ab in den Garten.
Scarlett, komm mit mir, Jenna, bleib bei Papa.
Scarlett hier, Jenna da.
Wir teilen nichts. Kein Hobby, keine Freunde, ja, nicht einmal das Badezimmer. Scarlett nutzt das, welches Papa kurz vor Mamas Verschwinden renovierte, ich das mit der Wanne und dem Fisch. Einzig die gemeinsamen Abendessen fallen aus dem Muster, auf die besteht Anna aus unerfindlichen Gründen und wir nehmen klaglos teil: Anna zuliebe. Auch das hat System. Der Grund, warum wir uns bisher am Leben ließen und die Existenz der anderen stillschweigend dulden: Anna zuliebe.
Sie hält uns zusammen.
Deshalb stehe ich hier und trage das Kleid, nach dem es Maria verlangt. Die Vorstellung ihrer Enttäuschung, sollte sie mich darin sehen, verschafft mir auf unerklärliche Weise Genugtuung. Der Schlafmangel ist schuld. Er bringt die schlechtesten Seiten in mir zum Vorschein, die ich am liebsten Scarlett zuschreiben würde.
»Der Stift trägt sich nicht von allein auf«, neckt sie und der Knoten in meinem Magen wiegt schwerer, weil ich ihr selbst jetzt, da wir uns gemeinsam vorbereiten, nur die niedersten Motive unterstelle. Ich suche geradezu nach dem Haken, der Falle, dem Grund, warum sie nett zu mir ist.
Rasch trage ich den Lippenstift auf. Was ich im Spiegel erblicke, gefällt mir. Meine Züge sind zwar nicht so fein wie Scarletts, doch meine Augenfarbe ist schöner und mein Mund überraschend sinnlich. Wahrhaftig. Das Rot ist magisch.
»Du siehst aus wie Mama.« Die Gesichtszüge entgleisen mir. Scarlett lacht. »Kein Grund zur Panik. Das ist gut. Mama ist wunderschön.«
»War«, korrigiere ich automatisch.
»Ist«, hält Scarlett dagegen. Sie hasst, dass ich unsere Mutter als verstorben betrachte. Mir hingegen ist die Vorstellung unerträglich, dass sie irgendwo in der Welt herumspaziert, wohl wissend, dass es uns gibt, es ihr aber schnurzpiepegal ist. »Ich habe noch eine passende Tasche«, wechselt Scarlett in unverfängliche Gefilde.
»Kein Bedarf.«
Skeptisch hebt sie die Brauen. »Und deine Sachen?«
»Welche Sachen?«
»Lippenstift, Deo, Tampons, Taschentücher, Kondome.«
»Kein Bedarf.«
»Zumindest dein Smartphone solltest du mitnehmen!«
»Ich besitze keins.«
Ihr fallen fast die Augen aus dem Kopf. »Ernsthaft?«
Ich schweige dazu. Was könnte ich auch sagen? Dass es an nur drei Orten unseres Dorfes Empfang gibt? Das würde sie nicht überzeugen, immerhin gelten dieselben Bedingungen für sie. Es ist viel erbärmlicher. Abgesehen davon, dass ich es mir nicht leisten könnte (und keine Ahnung habe, wie ihr die Finanzierung gelang), wüsste ich nicht, mit wem ich Kontakt halten sollte. Mit Maria? Nein danke.
Scarlett starrt mich ein paar Herzschläge lang an, dann gibt sie nach. Punkt für mich. Welch denkwürdiger Tag.
»Können wir los?«, frage ich, was ihr ein selbstzufriedenes Lachen entlockt.
»Wir werden abgeholt. Von Derek.«
Derek, der Junge mit dem Ball, hat mir gerade noch gefehlt. »Weiß er, wo wir wohnen?«
»Natürlich nicht. Er holt uns beim Spukhaus ab.«
Diesmal schießen meine Brauen in die Höhe.
»Nicht so herablassend«, tadelt sie und kommt mir dabei selbst schrecklich überheblich vor. »Er weiß selbstverständlich, dass wir nicht dort wohnen. Es ist lediglich der Treffpunkt. Es ist schwer genug für ihn, überhaupt hierherzufinden.«
Ob das an der Unsichtbarkeit unseres Dorfes oder dem Verstand ihres Freundes liegt, wage ich nicht zu fragen. Scarlett mag Derek. Derek mag Scarlett. Heute fährt er uns zur Party. Uns – wie seltsam das klingt.
»Dann lass uns gehen«, versuche ich es erneut, »zum Spukhaus, meine ich.«
»Er kommt in einer Stunde«, klärt sie mich auf. »Wir haben Zeit.« Sie schnappt sich ihre winzige Handtasche (in die unmöglich passt, was sie vorhin aufgezählt hat) und tritt zum Fenster, unter dem das Stalldach liegt. »Folge mir.«
Wie sie es in dem extrakurzen Paillettenkleid auf den Fenstersims und hinaus schafft, ist mir ein Rätsel. Ich brauche drei Anläufe und fürchte bis zuletzt, dass ich dabei mein Tagebuch verliere. Ich lasse es niemals aus den Augen, selbst dann nicht, wenn Scarlett in meiner Nähe ist und ich es in Sicherheit weiß. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Als ich den Giebel erreiche, sitzt sie bereits da, in der einen Hand ihr Smartphone, in der anderen eine glühende Zigarette.
»Auch eine?«, fragt sie und bläst den Rauch in den dunkelnden Himmel.
»Weiß Anna davon?«
»Himmel, nein! Und du wirst nichts sagen, verstanden?«
»Zu Befehl«, erwidere ich zynisch und sinke neben ihr nieder. Unter uns liegt der Hof, eine verwilderte Betonfläche, die im Schatten des Stalls versinkt. Gras sprießt aus sämtlichen Ritzen, Löwenzahn und Vergissmeinnicht erobern trotzig den unwirtlichen Grund. Dass etwas so Unscheinbares wie ein Samenkorn Betonplatten zu sprengen vermag, gibt mir den Mut, nicht aufzugeben.
Es war ein Freitag, an dem Mutter verschwand. Ich suchte sieben Monde und einen Sommer nach ihr, verteilte Flugblätter und klopfte an jede Tür und wollte nicht wahrhaben, was Anna sagte; dass sie uns verlassen hat, weil sie das Leben auf dem Land nicht länger erträgt.
Als der Frost kam, erklärte ich sie für tot. Seither habe ich unzählige Male darüber nachgedacht, ob ich ihr eines Tages folge. Ob es mir im Blut liegt, das Verschwinden. Ich bin so still, es würde kaum auffallen, wäre ich fort. Ich bezweifle, dass Scarlett oder Papa mich vermissen würden. Anna vielleicht, doch da sie niemals nach Mutter suchte, ließe sie mich aller Wahrscheinlichkeit nach einfach gehen. Dann wären sie nur noch zu zweit, Anna und Scarlett, ohne die verfluchte dritte Schwester.
»Du brauchst wohl eine Tasche!« Scarlett zeigt auf das Buch. »Du gehst nirgends hin ohne das da.«
Reflexartig schließe ich den Einband und stecke den Stift in die dafür vorgesehene Schlaufe. »Ich sagte nie, dass ich keine brauche. Ich will nur keine von dir.«
Sie lässt den Kopf in den Nacken sinken. »Wie überaus gewitzt.«
»Ich besitze eine eigene«, füge ich erklärend hinzu.
»Nur keine Rechtfertigung«, sagt sie leichthin, doch ihre Augen wirken kälter als zuvor. Vielleicht liegt es an den Schatten, die bereits nach uns greifen. Der Abend erblüht wie die Stille zwischen uns. Vor langer Zeit saßen wir schon einmal auf dem Dachfirst und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Es muss kurz nach Mutters Verschwinden gewesen sein. Damals, bar aller Worte, waren wir auch still gewesen; ich hatte sie für die Flugblätter verbraucht, Scarlett ihre an Anna. In den ersten Nächten war ich noch durch den klammen Flur zu ihnen hinübergetapst. Da mich Anna jedoch unnachgiebig in mein Zimmer zurückbrachte, gab ich es bald auf und lauschte ihnen stattdessen von meinem Bett aus, ein Ohr an die Wand gepresst, die Knie eng umschlungen. Ich weiß nicht, worüber sie sprachen, doch Annas gedämpfte Stimme trug mich in den Schlaf. Sie half mir durch die Dunkelheit.
»Erinnerst du dich an das erste Mal, als wir hier oben saßen?« Scarletts Gedanken haben sie weit tiefer in die Vergangenheit getragen, hinein in eine Zeit, an die ich mich weigere zu denken. »Ich glaube, dass Mutter mich schon als Säugling mitnahm. Wie sie es geliebt hat, auf dem Dach zu sitzen und zum Spukhaus zu blicken – und erst die Geschichten, die sie darüber erzählt hat! Über den Zauberer und seine Sammlung schrecklich schöner Insekten. Erinnerst du dich? Ich war fasziniert davon, dass er sie aufspießte, diese zarten, wehrlosen Geschöpfe, nur um sie auf ewig zu besitzen. All die Motten und Käfer und Falter. Er hat sie getötet und in Glaskästen gesperrt. Tödliche Liebe – wie in dem Märchen. Du weißt, welches ich meine? In dem die Mutter ihre Tochter vergiftet und in einen gläsernen Sarg bettet, um sie für immer zu behalten.«
Ich bin versucht, sie darauf hinzuweisen, dass die Geschichte anders geht; doch wer wäre ich, sie dafür zu tadeln? Neige nicht auch ich dazu, die Welt und die Geschichten um mich herum so zu interpretieren, dass sie in meine Perspektive passen?
»Ich verstehe den Gedanken dahinter«, fährt Scarlett fort, den Blick auf das Spukhaus jenseits unseres Gartens gerichtet. »Die Zeit lässt alles verkommen. Blumen welken, Schönheit vergeht, selbst Zuneigung schwindet. Wie viel tröstlicher ist da der Anblick eines auf ewig gebannten Glücksmoments? Der Falter in seiner ganzen Pracht, die Tochter in der Blüte ihrer Jugend. Wie eine Fotografie, die niemals vergilbt. Eine Erinnerung, unangetastet durch die Zerstörung der fortschreitenden Realität.«
Unwillkürlich denke ich an die Bücher, die sich in Scarletts Zimmer türmen, uralte Wälzer mit abgegriffenen Umschlägen und verblichenen Lettern. Sie hortet sie nicht aufgrund ihrer Geschichten, sondern wegen dem, was zwischen den Seiten steckt. Getrocknete Blüten, brüchiges Weidenlaub und pastellgelber Löwenzahn, Vergissmeinnichtstängel und Rosenknospen. Scarlett sammelt Blüten. Sie bricht, trocknet und presst sie. Sie besitzt ganze Alben voll davon, sicher verwahrt vor dem Zerfall.
»Fürchtest du den Tod?«, frage ich in die Stille.
»Ich fürchte das Danach.« Eine Antwort, wie sie nur Scarlett geben kann. »Unsere Körper zergehen, zerfallen, zersetzen sich. Doch was dann? Sind wir dann fort oder existieren wir weiter? Womöglich durch Blumen, die sich von uns nähren; doch was, wenn auch sie vergehen? Was bleibt dann noch?«
»Honig«, rate ich.
Scarlett sieht mich lange an, dann schlägt sie die Beine auf eine Art übereinander, die mich vermuten lässt, dass sie weit öfter hier oben sitzt und über das Leben nach dem Tod sinniert; mir wird allein vom Zusehen schlecht. Wie wir es als Kinder aushielten, auf den Schindeln Fangen zu spielen, ist mir ein Rätsel. Nicht dass ich die Höhe fürchten gelernt hätte, es ist mehr das Bewusstsein darüber, was ein Sturz alles anrichten kann. Kein Kind denkt darüber nach, das Leben ist ein Abenteuer und der Himmel zum Greifen nah.
Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, erscheinen mir die violetten Zuckerwattewolken so fern wie die Zeit, da Scarlett und ich sie zu kosten versuchten und Mutter uns aufforderte, höher zu springen …
Wind kommt auf, fröstelnd ziehe ich die Knie an. Da entgleitet mir das Buch. Es schlittert die Schindeln hinab, stolpert über die Rinne, ehe es die Schwerkraft gen Tiefe zieht. Der Aufprall klingt dumpf. Er weckt etwas in mir.
»Ist dir schlecht?« Scarlett betrachtet mich argwöhnisch.
Ihre Worte – und der Klang des Buches – haben eine Tür aufgestoßen, die ich all die Jahre sorgsam verriegelt hielt. Nur ein Abend, ein verfluchter Abend und wenige Momente mit ihr genügen, um sie aus den Angeln zu heben.
Die Erinnerungen stürzen auf mich ein. Mutter am Fenster, wie sie uns über den Sims hebt; wie sie lacht und uns auffordert, es ihr gleichzutun; wie sie die Arme über den Kopf streckt und auf die Zehenspitzen steigt; wie Scarlett es ihr spielerisch gleichtut; und ich selbst wankend im Wind, die Schindeln rau und kalt unter meinen Zehen – und seltsam lebendig, als sie sich in Bewegung setzen. Ich spüre noch den Sog der Tiefe, den Ruck an meinem Arm, als Mutters Finger sich darum schließen.
Jetzt ist es Scarletts Hand. »Jenna, alles in Ordnung?«
Nein. »Ja.«
»Keine Sorge, Papier ist widerstandsfähig.«
»Mir geht’s gut«, würge ich hervor. Dabei wäre es der perfekte Vorwand, diese Scharade abzusagen, ich bräuchte die Übelkeit nicht einmal vortäuschen. Alles dreht sich. Der Himmel, das Dach, die Spukvilla. Ich zwinge den Blick dorthin, zähle meine Atemzüge und kralle mich an die Schindeln. Sie sind warm, ein letzter Gruß der Sonne, bevor die Nacht hereinbrechen und ihre Wärme sich verflüchtigen wird; wie die Erinnerungen. Die Bilder verlieren bereits an Kontur.
Scarlett hält mich fest, als fürchte sie, ich könnte dem Buch folgen. Ihre Berührung überlagert sich mit der von Mutter. Zitternd entwinde ich ihr den Arm.
»Es geht mir gut.« Selbst wiederholt klingt es nicht wahrer, meine Stimme bebt, ich habe einen Kloß im Hals.
Scarlett zündet eine neue Zigarette an, sie mustert mich nachdenklich. »Es gibt einen Spalt, aber er ist zu eng, als dass eine erwachsene Person hindurchpassen könnte. Selbst die meisten Kinder würden stecken bleiben.«
Warum sie jetzt davon anfängt, obwohl ich noch absagen könnte – und kurz davor bin –, erschließt sich mir nur unter der Prämisse, als dass sie darum weiß, oder es zumindest ahnt, und nun ihren Teil der Abmachung erfüllt, ehe ich von meinem zurücktreten kann.
»Warst du im Garten?«, höre ich mich fragen.
Alles ist besser, als an früher zu denken.
Alles ist besser, als zuzugeben, dass ich kaum noch meine Beine spüre. Ich bin wie erstarrt, fürchtend, dass jede Bewegung, und sei sie noch so klein, mich direkt in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu ihr.
Scarlett lässt sich Zeit mit der Antwort. »Nein.«
»Du hast gelogen.« Ich ahnte es bereits.
»Erinnerst du dich an Alice? Ich habe ihr von dem Spalt erzählt; sie hat sich hindurchgezwängt.« Die Zigarette verglimmt ungenutzt, ihr Blick ruht auf der Villa.
Ich stutze. »Alice? Ist die nicht … tot?«
Scarlett nickt auf eine Art, die mich irritiert. Sie waren Freunde, damals, bevor Mutter verschwand. Scarlett jedoch wirkt distanziert, als ginge es um den Charakter eines Buches. »Sie starb ein Jahr später an Leukämie. Niemand weiß, dass sie durch das Loch in den Garten schlüpfte; ich habe es nie erzählt.«
»Du glaubst doch nicht an den Fluch?« Zumindest tat sie es früher nicht, stattdessen verspottete sie all jene, deren Furcht zu offensichtlich war.
»Natürlich nicht«, lässt sie mich abschätzig wissen. »Alice war krank. Deshalb starb sie.«
Weshalb hat sie es dann erwähnt? Scarlett sagt niemals etwas leichthin. Ihre Worte sind von einer Präzision, um die ein Chirurg sie beneiden würde. Jeder Spott trifft sein Ziel, keine unbedacht geäußerte Nebensächlichkeit verfehlt ihre Wirkung. Scarlett spielt mit Worten, sie sind ihr Schild und Klinge in einem.
»Hör auf zu grübeln, Jenna. Das steht dir nicht.«
Einer der Gründe, warum ich selten etwas erwidere. Ich denke mir meinen Teil und hasse sie in Gedanken. Hass. Ein starkes Wort. Eines, das positioniert. Scarlett würde es nie benutzen, es wäre zu direkt, zu konfrontativ; sie bewegt sich lieber in den Grauzonen und nutzt das Ungesagte ebenso wie das wohlplatzierte Wort.
»Was fasziniert dich daran?«, fragt Scarlett und nickt hinüber zum Grundstück der Spukvilla. Vom Dach aus können wir den Teil des Gartens überblicken, auf dem sich im Zentrum einer gewaltigen Wiese ein noch gewaltigeres Schachfeld erhebt. Steinquader neben Rasenflächen, die Figuren mannshoch und elbisch anmutend, als wären sie geradewegs aus Lothlórien in diese Welt gestolpert und dabei zu Stein erstarrt. Was mich an mein Buch erinnert. Ich beuge versuchsweise die Knie; das Gefühl kehrt nur partiell zurück. Wackelige Beine, der Schreck fährt in die Glieder – alles Redewendungen, die mein Körper inhaliert hat. Er ist wachsweich, unfähig, meinen Befehlen zu gehorchen.
Gleich, denke ich, gleich hole ich mein Buch.
»Springer auf G5«, ruft Scarlett.
Die Asche ihrer Zigarette rieselt zu Boden. Ich verfolge atemlos, wie sie die Schindeln hinabtanzt und in der Regenrinne unter uns zum Stillstand kommt. Die Sorge, sie könnte das Buch treffen und entflammen, ist übermächtig.
»Irgendwann fackelst du das Haus ab«, fauche ich.
»Wäre kein Verlust.«
»Es ist alles, was wir haben!«
»Ein zerfallender Resthof. Was sind wir gesegnet.«
»Spotte nicht.«
»Selbst ohne die hochherrschaftliche Nachbarschaft der Spukvilla wäre unser Hof eine Zumutung. Kein Wunder, dass Mama es vorzog, auf dem Dach zu sitzen und die Villa zu malen, täte ich auch, besäße ich ihr künstlerisches Talent; aber das hat sie ja dir vererbt, genau wie ihre Pinsel und Farben.« Verbitterung schwingt in ihrer Stimme mit.
Ich bin überrascht, denn sie zeichnet gut. »Du hast nie etwas gesagt.«
Sie hebt eine Braue. »Hättest du mit mir geteilt?«
Nein. Hätte ich nicht. Sie weiß das.
»Manchmal ist die Antwort so naheliegend«, murmelt sie.
Ich könnte mir auf die Zunge beißen.
»Ich kann zeichnen, verstehe aber nichts von Farben oder Texturen.« Ihr Lächeln reicht kaum bis zu den Augen, als würde sie eine Maske tragen, die nur ihr halbes Gesicht bedeckt. »Du hingegen kannst es, verschwendest dein Talent jedoch an Tapeten, die irgendwann abgerissen und entsorgt werden, was jammerschade ist. Du solltest lieber Mamas Werk vollenden.«