Kitabı oku: «Das Tagebuch der Jenna Blue», sayfa 4
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Unser Kräutergarten liegt brach. Anna hat ihn vernachlässigt. Der Borretsch wuchert in den Wegen und sein typisches Gurkenaroma streift meine Nase, kaum dass die Stängel unter meinen Sohlen knicken, ebenso der Duft der Melisse, die ich auf der Suche nach dem Klinker der Werkstatt streife. Ich folge mit den Fingerspitzen den Rillen im Gemäuer bis zur Tür. Es riecht vertraut, kaum dass ich sie aufstoße, nach altem Holz und Leim und längst vergangenen Tagen, bittersüß, fast schon faulig. Der Kompost für die Gartenabfälle liegt direkt unter dem Fenster, das sich als einziges öffnen lässt. Ich taste die Wand neben der Tür ab, suche den Lichtschalter, finde und drehe ihn.
Die Glühbirne flammt knisternd auf. Ihr Glas ist so verstaubt wie die grau gepuderten Gerätschaften über der Werkbank, die nur der Form halber erinnern, wozu sie einst taugten. Ich stoße gegen einen Tontopf, er kippt von der Bank, schlägt auf und zerschellt in tausend Teile. Ich lausche atemlos in die Hütte hinein, doch nichts regt sich. Kein Laut, kein Geräusch, kein Rascheln, kein Wispern. Dennoch wirkt die Stille weniger tief; als wäre etwas in ihr erwacht und ich nicht länger mutterseelenallein.
Nervös halte ich nach der Leiter Ausschau, deshalb bin ich hier. Ich brauche sie, um auf die Mauer und in den Garten zu klettern. Dort hinten, halb verdeckt von Kisten und Säcken, ragen die Sprossen auf. Ich schiebe mich zwischen den Türmen aus Tontöpfen hindurch, sorgsam darauf bedacht, keinen weiteren zu zerbrechen. Jeder Laut, so fürchte ich, könnte die Toten auferstehen lassen aus ihren modrigen Gräbern.
Modrig riecht es auch hier.
Ich greife nach dem Hebel des Fensters; er lässt nur widerwillig zu, dass ich die Scheibe aufdrücke und die Nacht hineinlasse. Die Hütte ächzt im Windzug, als würde sie frösteln. Ich schlinge die Arme um mich, den Blick fest auf die Leiter gerichtet. Sie war einst blau, im Dämmerlicht wirkt sie vergilbt wie eine Sepiafotografie, ebenso die von der Decke baumelnden Gießkannen. Ich ziehe den Kopf ein, um mich nicht zu stoßen, und entdecke dabei ein Weinfass unter einer steifen Plastikplane. Es ist, als würde ich nicht nur das Fass, sondern auch die Erinnerung daran freilegen.
Wir kauften es an einem warmen Frühlingstag, hievten es in den Kofferraum und klappten die Rückbank um, damit es hineinpasste; ich durfte vorn neben Papa sitzen, das Fenster bis zum Anschlag hinabgekurbelt und das Radio voll aufgedreht, während der Wind an meinen Haaren zog und die Sonne mit uns um die Wette strahlte.
Ich strecke die Hand aus und berühre das Holz – da flackert das Licht. Es ist nur ein kurzer Moment, den die Dunkelheit nach mir greift, doch mein Herz explodiert.
Ich bin nicht allein.
Wie gelähmt stehe ich da, überwältigt von dem Gefühl, dass da jemand ist. Bei mir. Dabei ist es unmöglich. Die Hütte ist winzig und Menschen sind groß. Vorsichtshalber spähe ich unter die Werkbank und die Plane, doch dort liegen nur weitere Kisten und ein bis zur Unkenntlichkeit verstaubter Koffer nebst Säcken voll Blumenerde.
Kein Mensch.
Kein Landstreicher.
Kein Einbrecher.
Kein Mörder.
Kein Psychopath.
Wer sollte sich auch in einem alten, muffigen Werkzeugschuppen verstecken?
Niemand, flüstere ich mir in Gedanken zu.
Es ist albern. Ich bin albern. Meine Angst ist irrational. Ich bin allein. Trotzdem schaudere ich, als der Windzug sich verstärkt und flüsternd um meine Schultern streicht. Die Tür im Blick schiebe ich mich rückwärts durch den Raum. Scarlett hätte ihre reinste Freude daran, mich so zu sehen. Paradoxerweise stärkt mich der Gedanke an sie. Er entflammt etwas in mir, das die Anspannung übertüncht.
Guter alter Zorn, mächtiger als Furcht.
Erneut flackert das Licht – und der Zorn erlischt wie das sepiagelbe Leuchten. Ich bin allein, da ist niemand, beruhige ich mich. Da rieche ich die Melisse. Kein Laut kommt über meine Lippen, als sich aus der Ahnung das Geräusch von Schritten schält. Ich halte die Luft an, als sich die Tür der Werkstatt verdunkelt – schwarz auf schwarz; ich sehe nichts, doch ich spüre die Anwesenheit des anderen mit jeder Faser meines Körpers. Ich weiß, er ist da.
Er oder sie oder Schlimmeres.
Es klickt, als der Lichtschalter betätigt wird; doch es bleibt dunkel. Die Zeit hat über den Draht gesiegt, wie sie auch mich zu besiegen droht. Ich stehe mucksmäuschenstill, die Tonscherben knirschen, die Folie knistert. Wer auch immer da ist, kommt auf mich zu; der Melissenduft verrät seine Nähe, er verrät – auch mich?
Meine Hände zittern so stark, dass ich sie balle.
Hört er das Knacken? Spürt er das Zucken?
Ein dumpfer Aufprall, ein tonloses Ächzen, die Gießkannen klirren. Er hat sich den Kopf gestoßen. Erneut die Folie, gefolgt von den Tonscherben, diesmal so laut, als spielte es keine Rolle, ob andere es hörten. Dann ist er fort, entweicht in die Nacht gleich einem lautlosen Seufzen. In Gedanken folge ich ihm durch den Borretsch und die Minze, vorbei an dem Steinhügel und durch die Pforte zwischen den Holundersträuchern, raus auf die sumpfige Wiese.
Fünf Schritte, sieben, dann zehn.
Ich ringe um Atem, verschlucke mich just am Staub und stürze auf die Knie. Wer zur Hölle war das?
Papa hat in den letzten Jahren kaum den Hof betreten und Anna fürchtet die Dunkelheit, weshalb sie stets eine Taschenlampe bei sich trägt. Doch wenn es weder Papa noch Anna war, wer dann? Scarlett ist fort, niemand sonst hat Zutritt zu unserem Grundstück.
Ein Landstreicher? Gibt es die hier überhaupt?
Ich kauere am Boden und lausche mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht hinaus, auf Schritte im Kies oder das verräterische Quietschen der Pforte. Doch es bleibt still – für Minuten oder gar Stunden. Dunkelheit besitzt eine eigenwillige Zeit, Furcht hingegen kennt gar keine. Ich bin hellwach, aber unfähig zu fliehen. Ich spüre den Raum, die Töpfe und Kisten, die Nähe der Wände und Decke über mir. Ich schmecke den Staub und die aufgewühlte Erde. Ich glaube sogar, den Duft des Weines zu riechen. Bloß meinen Körper spüre ich nicht, als hätte er mich abgestoßen.
Als ich es endlich schaffe, die Fäuste zu lösen, kribbelt meine Haut vor Hochspannung. Ich stütze mich am Weinfass ab und stemme mich hoch. Ich brauche die Leiter. Ohne sie war alles vergebens. Der erste Stab, den ich ertaste, gehört zu einem Rechen, der zweite einem Spaten; dann finde ich Sprossen. Die Leiter misst keine zwei Meter, trotzdem streift sie die Gießkannen. Ich bleibe in der Plastikfolie hängen und stürze. Die Tontöpfe ergießen sich lawinenartig über mich. Überall sind Splitter, die Luft ist staubdick. Doch ich gebe nicht auf, kämpfe mich vorwärts.
Am Ende stehe ich schweißgebadet in der Melisse; meine Haut brennt, als wäre ich durch Berge aus Kämmen und Bürsten und Spiegelscherben gewatet. Die Leiter presse ich an mich wie einen teuer errungenen Schatz. Bis zur Mauer ist es nicht weit. Viel zu schnell steht die Leiter fest im Gestrüpp und ich auf der obersten Sprosse.
Der Moment der Wahrheit naht.
Traue ich mich hinüber?
Vertraue ich darauf, dass es keinen Fluch gibt?
Dass ich es überlebe?
Ich kralle mich in den Efeu und überwinde den letzten Abstand. Schon sitze ich auf der Krone, ein Bein auf jeder Seite. Bin ich bereit? Der Wind streicht durch die Holunderbüsche, ich kann sie nicht sehen, nur hören. Alles ist schwarz, der Garten der Villa genauso wie mein Zuhause. Einzig in der Küche brennt Licht. Anna sitzt mit einer Tasse Tee am Tisch und liest. Wie leicht es ist, in hell erleuchtete Fenster zu blicken, sicher verborgen im Mantel der Nacht. Ich frage mich, wie viele Menschen es mir gerade gleichtun und dieses Ziehen ganz tief in der Brust spüren, diese Sehnsucht nach etwas, das zum Greifen nah und doch in unerreichbarer Ferne liegt. Eine Scheibe und tausend Welten liegen dazwischen.
Anna trinkt einen Schluck.
Ich wende mich ab und ziehe das zweite Bein hinüber. Unter mir liegt der verbotene toxische Garten der Spukvilla. Nur einen Sprung entfernt. Kein Grund, kein Strauch ist zu erkennen. Ich greife mir ein Bündel Efeuranken und schiebe mich über den Rand. Der Efeu ächzt, meine Füße finden keinen Halt. Statt zu springen, wollte ich hinabklettern, jetzt hänge ich da wie ein nasser Sack. Zu allem Überfluss höre ich Stimmen. Innerhalb des Gartens. Sie nähern sich rasch.
»Du hast was gehört?«
»Alter! Verarschst du mich?«
»Zwei Mädchen, die über Selbstbefriedigung reden? Come on! Das ist so hart an den Haaren herbeigezogen, wie kann ich das glauben?«
»Wenn ich es doch sage! Ich bin die verkackte Mauer abgelaufen, um den Weg zu finden, da hab ich sie ganz deutlich gehört.«
»Wohl eher halluziniert.«
Ein Schlag erklingt, als würde einer dem anderen eine verpassen. Es sind männliche Stimmen, die genau unter mir zum Stillstand kommen. Ich erstarre zur Salzsäule – darin habe ich Übung – und lausche ihnen mit pochendem Herzen.
»Es war irgendwo hier.«
»Ich hör nix.«
»War es doch weiter hinten?«
»Oder eine Wahnvorstellung«, beharrt der eine, den ich in Gedanken den Zweifler nenne.
Der andere – der Lauscher – schnaubt: »Das hab ich dann auch halluziniert, hm?«
»Ein Buch?«
Mein Herz setzt aus.
»Es kam über die Mauer geflogen.«
Scheiße, scheiße, scheiße!
»Ohne Witz?«
»Alter!«
»Schon gut, schon gut. Was steht drin?«
Ich sterbe!
»Keine Ahnung. Ich hab nicht nachgesehen.«
Fieberhaft suche ich einen Ausweg. Ich schaffe es niemals zurück auf die Mauer, ich kann mich ja kaum noch halten. Lasse ich mich fallen, verrate ich meine Anwesenheit. Die Lage ist aussichtslos, bis –
»Da kommt wer«, warnt der Lauscher. Ich höre es auch. Jemand nähert sich. So viel Pech kann ein Mensch unmöglich haben. Ich verfluche Scarlett und mobilisiere meine letzten Kraftreserven. Nur noch ein wenig länger …
Da spüre ich eine Bewegung. Einer der beiden presst sich an die Mauer. Sein Arm streift mich, der Efeu gibt unter ihm nach. Er ist viel zu nah, wenn er sich nur ein wenig in meine Richtung dreht, stößt er wortwörtlich auf mich. Jetzt hält er den Atem an.
Das schwache Licht einer Laterne nähert sich, mit ihm schälen sich Umrisse aus dem Dunkel. Büsche, Blätter und das Gesicht des Mannes neben mir. Ich erkenne zweierlei. Erstens ist er etwa in meinem Alter und zweitens auf einer Höhe mit mir, was bedeutet, dass ich mich wenige Zentimeter über dem Boden an die Mauer klammere. Der Grund auf dieser Seite muss höher liegen, was prima wäre, wäre ich allein. So bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter den Affen zu mimen, während der Laternenschein vorüberzieht.
Da dreht er den Kopf und erblickt mich; er zuckt nicht einmal zurück, wohingegen ich vor Schreck beinahe loslasse. Ein flüchtiges Blinzeln ist die einzige Reaktion auf mein panisches Zucken, als wäre es für ihn vollkommen normal, fremde Mädchen an Mauern hängen zu sehen.
»Du kannst loslassen«, lässt er mich wissen, kaum dass der Laternenschein verblasst. Es ist der Zweifler.
»Loslassen? Wovon redest du?« Der andere pirscht durchs Unterholz. »Alter, das war knapp! Nichts wie ab über die Mauer, bevor er zurückkommt.«
»Ich hab dein Mädchen gefunden.«
»Mein was?« Da entdeckt mich auch der Lauscher. Im Gegensatz zu seinem Freund springt er drei Schritte zurück. »Holy Shit! Kannst du mich nicht vorwarnen?«
»Hab ich doch.«
»Was macht sie da? Kann sie sprechen?«
»Wir sollten ihr von der Mauer helfen –«
Da lasse ich los und plumpse mitten hinein in üppig wuchernde Brennnesseln. Einer hilft mir hinaus, der andere hält mein Buch in den Händen. Ich will danach greifen, da hebt er es aus meiner Reichweite. Es ist der Lauscher.
»Das gehört mir«, lasse ich ihn wissen.
»Offensichtlich wolltest du es nicht mehr.«
»Es gehört mir!«, beharre ich.
»Da könnte ja jede kommen.«
»Still!«, warnt der Zweifler. »Er kommt zurück.«
Anna hat Scarlett ein Tagebuch gekauft. Jetzt haben wir beide eines. Nur dass ich meines sicher verwahre, während sie ihres offen liegen lässt. Ich warf einen Blick hinein, als sie unter der Dusche war. Sie nutzt es weniger zum Schreiben, sondern vielmehr zum Zeichnen. Die flüchtig skizzierten Gestalten verraten mindestens so viel über ihr Innerstes wie die Worte in meinem über mich.
In uns beiden ist etwas zerbrochen.
Wir sind beschädigt.
Vielleicht sind wir das alle.
Ich habe mir Landstreicher stets alt und verwahrlost vorgestellt, doch vielleicht sind sie eher wie diese beiden. Höchst arrogant von mir, zu denken, es gäbe nur eine Art Mensch, die auf der Straße lebt. Ich selbst habe darüber nachgedacht abzuhauen und würde, käme es je dazu, von heute auf morgen auf der Straße leben. Sind sie genauso?
Vor uns öffnet sich die Rasenfläche mit dem Schachbrett. Geisterhaft ragen die Statuen auf. Der Mond steht tief. Er ist eine Sichel, sein Licht fahl und kalt, doch es reicht, die Umrisse zu skizzieren. Ich höre Schritte. Wer auch immer mit der Laterne durch den Garten streift, ist uns auf den Fersen.
»Wohin?«, flüstert der Lauscher.
Sie wollen weiter durchs Unterholz, doch ich erinnere mich, dass hier Bärenklau wuchert; ich sah es vom Dach aus.
Ich zerre sie in die entgegengesetzte Richtung.
»Er wird uns sehen«, beschwört mich der Zweifler, da erreichen wir das Schachfeld. Rasch presse ich mich gegen eine der Figuren; die beiden tun es mir gleich. So stehen wir da, unterdrückt schnaufend und lauschend. Der Laternenschein naht. Es ist der Gärtner, der aus dem Gebüsch tritt. Die Furchen in seinem Gesicht wirken tiefer, die Augen dunkler, sie spiegeln den Widerschein der Kerze, die in der Laterne brennt. Unser Glück, dass er keine Taschenlampe nutzt. Sein Weg führt ihn an uns vorbei, ich höre ihn husten und etwas von Strolchen fluchen. Ob er die beiden meint? Dann verschwindet er zwischen den Bäumen auf der anderen Seite. Der Lauscher atmet hörbar aus.
Der andere spottet: »Der ist schlimmer als deine Ma.«
»Ihr kennt ihn?«
»Den Alten?« Der Lauscher schnaubt. »Klar doch. Ist besessen davon, dass wir seine Pflanzen zertrampeln. Wenn es nach ihm ginge, dürften wir keinen Schritt tun.«
»Wer seid ihr?«, frage ich.
Die zwei werfen sich einen Blick zu. »Die Frage ist eher: Wer bist du? Nicht wir sind hier eingebrochen.«
»Ich will mein Buch zurück.«
»Beweis, dass es deins ist, und es gehört ganz dir.«
»Es gehört bereits mir.«
»Mag sein, doch so macht das keinen Spaß.«
In Gedanken jage ich ihn ums Schachfeld, in Wirklichkeit stehe ich bloß da und starre ihn finster an, was er in der Dunkelheit natürlich nicht erkennen kann.
Feige, feige Jenna.
»Lasst uns woanders reden«, schlägt der Zweifler vor und wartet gar nicht erst auf Zustimmung. Schon dirigiert er uns durch den nächtlichen Garten. Scarlett würde das nie mit sich machen lassen. Sie würde ihr Haar zurückwerfen und das Buch verlangen, das man ihr sofort gäbe. Scarlett ist Furcht einflößend in ihrer Schönheit und ihrem Zorn.
»Ist das der richtige Weg?«, höre ich den Lauscher fragen. »Das Tor war eben noch nicht da.«
Das Tor sind zwei Silberregen, deren Äste einen natürlichen Bogen bilden. Ich erkenne sie an den herabhängenden Zweigen und Dornen.
»Autsch«, flucht da der Lauscher. »Das pikst!«
Stufen führen zu einem Grund, der so schwarz ist, als würde er Licht trinken, dabei sind es gewiss die Bäume, die den Mondschein für sich selbst beanspruchen.
»Daran erinnere ich mich auch nicht«, sagt der Zweifler. War ich eben noch genervt von seiner bestimmenden Art, taste ich jetzt nach seinem Arm. Er lässt es zu.
»Ich dachte, ihr kennt euch aus.«
»Dieser Garten ist ein wahres Labyrinth.«
»Er ist toxisch«, stimme ich zu, in Gedanken bei der Geschichte, die Scarlett vorlas. Es ist nicht die meine, ich habe sie bloß niedergeschrieben, Wort für Wort aus meinen Erinnerungen. Es war unser Gutenachtritual: die Geschichte der Zauberin und ihrer drei Töchter, danach ein Kuss, gefolgt vom Feststecken der Decke. Mutter ging, bevor ich schlief – und ich lag da, starrte zum nachtblinden Fenster und dachte über die verfluchten Kinder nach. Schon damals wusste ich, dass sie uns meinte.
Anna, Jenna und Scarlett.
Drei Kinder. Ein Fluch.
»Scheiße, was ist …«
Da platscht es. Der Lauscher verschwindet so plötzlich vor uns und ich bin zu tief in Gedanken, als dass ich noch bremsen könnte. Ich folge ihm auf dem Fuß und reiße den Zweifler mit hinein ins nasskalte Reich.
»Ein Teich«, prustet der Lauscher.
»Mein Buch!«, kreische ich und schlucke Wasser, huste und schlucke noch mehr. »Es darf nicht … nass werden!«
Etwas berührt mich an der Wade, ich schreie auf, meine Muskeln verkrampfen. Ich drohe schon wieder zu erstarren. Jemand schiebt mich gen Ufer. Der Teich ist nicht tief, aber sumpfig. Ich glitsche ab.
»Zieh dich hoch!«
»Mein Buch«, protestiere ich.
»Erst raus«, befiehlt der Zweifler und zwingt mich vorwärts. Mit zitternden Fingern finde ich Halt im Röhricht, dann knie ich da, auf allen vieren im flachen Ufer. Er greift mir unter die Arme und hievt mich hoch. Erst als ich auf dem Rücken im Gras liege, gewinne ich die Kontrolle über meine Glieder zurück. Ich zittere erbärmlich.
»Yakup?«, ruft der Zweifler.
»Scheiße, wo seid ihr?«, erklingt es von jenseits des Teiches. »Du hast uns in einen verdammten Tümpel geführt! Hörst du, Lee? Von wegen bester Orientierungssinn, du bist aufgeschmissen ohne dein Navi! Mist, er kommt zurück.«
Und weg ist er.
Lee – der Zweifler – greift nach meiner Hand. »Jetzt nicht erstarren, Mauermädchen, wir müssen weiter.«
Ich stolpere ihm blind hinterher. Wüsste Anna davon, würde sie einen Herzschlag erleiden. Ich bin die vernünftige Schwester, diejenige, die niemals Schwierigkeiten hat, auf Partys geht oder fremden Männern in dunkle Gefilde folgt.
Lee, der Name passt zu ihm.
Er lotst mich zur Rückwand eines Schuppens und an schwach erleuchteten Sprossenfenstern vorbei. Ich spähe hinein. Es ist eine Werkstatt, in der ein abgedecktes Auto steht. Lee schiebt mich hinter ein Regenfass und zwängt sich hintendrein. Dort harren wir aus, Brust an Brust und klatschnass. Dass er noch meine Hand hält, scheint er vergessen zu haben – mir gefällt es überraschend.
Die Dunkelheit ist eine seltsam eigenwillige Sache. In ihr fühle ich mich normalerweise allein und verloren – Anna und Scarlett stets eine Wandbreit entfernt –, doch hier und jetzt schafft sie eine Nähe, die neu und aufregend ist. Sie spinnt ihre Fäden, lässt mich sein, wer immer ich sein möchte. Dieses wagemutige Ich kann nur hier und jetzt existieren, da Lee nicht um meine Makel weiß und ich nichts von ihm. Vielleicht ist genau das der Grund, warum es Menschen nachts auf die Straßen und in überfüllte Clubs zieht. Sie können sein, wer immer sie sein wollen.
Wagemutig, kühn, lustig, frei.
»Bist du in Ordnung?«, fragt Lee und ich nicke.
Wie schnell ich mein Herz verliere.
»Hast du dich verletzt? Du atmest flach.«
»Ich bin nervös«, gestehe ich.
Sein Gesicht liegt im Schatten. Zu gern würde ich den Ausdruck sehen, denn seine Stimme lässt sich schlecht deuten. Ist er neugierig? Bloß höflich?
»Warum?«, fragt er.
»Der Garten«, sage ich, verliere jedoch den Faden, als es ganz in der Nähe knackt. Lichtschein dringt durchs Geäst, trifft auf das Fass und streift über unsere Köpfe hinweg. Lee duckt sich, doch das Licht berührt seine Haarspitzen; ich greife in seinen Nacken und ziehe ihn zu mir. Sein Haar ist feucht, das Shirt klebt an ihm, es klebt auch an mir.
Sein Herz rast. Oder ist es meines?
»Er ist weg«, sagt Lee Sekunden – oder Minuten? – später. »Du kannst mich loslassen.« Ich tue es sofort. »Danke«, er klingt, als würde er lächeln, »für die heldenhafte Rettung.«
»Stets zu Diensten«, murmele ich.
Jetzt lächelt er definitiv. »Ich nehm dich beim Wort.«
Es ist der Fluch der Nacht, dass alles, was in ihr erblüht, mit dem ersten Sonnenstrahl vergeht und wir zu unserem wahren Ich schrumpfen. Ich weiß das und er auch.
»Die Luft ist rein.«
Lee führt mich zu einem Seitentrakt der Villa und öffnet dort eine schwere Eichentür. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich nicht nur den verbotenen Garten betreten habe, sondern kurz davor bin, das Allerheiligste zu entweihen. Es kommt mir so ungeheuerlich, ja geradezu gefährlich absurd vor, dass ich auf der Stelle umdrehen und fliehen möchte. Lee hat feine Antennen, denn der Druck seiner Hand schwindet. Nur keine Angst, versichert er wortlos. Er lässt mir die Wahl. Ich kann gehen, zurück über die Mauer und in den Schatten von Scarlett, oder ich folge ihm.
»Spukt es hier?«
Lee lächelt. »Vielleicht.«
»Ich meine es ernst!«
»Ich auch.«
Eine zweite Tür öffnet sich. Warmes Licht fällt in den schmalen Gang. Er wirkt im Vergleich zum äußeren Erscheinungsbild der Villa beinahe vulgär schlicht. Der Glanz ist mit den Jahren verblasst, vernachlässigt oder verkauft worden.
»Da seid ihr ja.« Yakup winkt uns eilig rein. Er wirkt nervös. »Hat er euch gesehen?«
Lee verneint. Jetzt, da ich sein Gesicht betrachten kann, fühle ich mich bestätigt. Alles an ihm stimmt. Dabei ist er nicht im klassischen Sinne hübsch, ich fürchte gar, die meisten würden ihn übersehen, aber mir gefällt er gerade deswegen. Weil ich wie er bin.
Yakup räuspert sich. »Ich schlage vor, ihr schließt die Tür und fallt dann übereinander her.«
Prompt lässt Lee meine Hand los. »Das Buch?«, fragt er und tritt zu Yakup in den Raum jenseits des Ganges.
Vorsichtig folge ich, der Boden knarrt, die Tür ächzt, als ich sie mit sanfter Gewalt schließe. Der Rahmen hat sich verzogen, er ist alt und reich verziert. Ein Relikt längst vergangener Zeiten, ein Überbleibsel, das womöglich zu schwer zu entfernen war. Ob es im restlichen Haus ebenso karg ist? Yakup und Lee stehen am Fenster und unterhalten sich murmelnd. Eine Stehlampe brennt, zwei Sessel, zwei Betten und zwei Stühle stehen da, als wären sie kürzlich verwaist. Die Decken sind zerwühlt, das Geschirr ist benutzt, daneben liegen Spielkarten und ein aufgeschlagenes Buch. Die Dielen verraten meine Neugier, Yakup dreht sich um. Im Gegensatz zu Lee ist er jemand, der gewiss sämtliche Blicke auf sich zieht. Ob er Scarlett gefallen würde? Sie mag große, sportliche Typen und Yakup wirkt, als würde er niemals still sitzen.
Er grinst. »Soll ich mich ausziehen?«
Ich nicke, schließlich ist er klatschnass. Er lacht, Lee hebt eine Braue. »Du auch«, lasse ich ihn wissen und sehe mich um. »Habt ihr ein Handtuch für mich?«
»Ein Mädchen nach meinem Geschmack!«
»Ein Handtuch«, wiederhole ich. Lee reicht mir eines, das sie bereits benutzt haben. Das ganze Zimmer sieht aus, als wären sie vor Wochen eingezogen. Offensichtlich bemerken sie meine Irritation, denn Yakup schiebt rasch die Wäsche zusammen, ehe er sich das nasse Shirt über den Kopf zerrt. Wahrhaftig, er ist Sportler. Oder Dauergast im Fitnessstudio. Daneben fühle ich mich geradezu peinlich unfit. Ich fahre Rad, möchte ich sagen, jeden Tag zur Schule und zurück. Stattdessen ziehe ich, mir meiner erbärmlichen Gestalt plötzlich allzu bewusst, das Handtuch enger um die Schultern. Mein Haar hängt herab, das Kleid offenbart jede Delle und jeden Makel. Ich tropfe auch noch.
»Mit wem hast du gestritten?« Auf meinen fragenden Blick hin führt Yakup näher aus: »Ihr wart verflucht laut. Erst ging es um irgendein Märchen, dann darum, dass ihr einander beim Masturbieren beobachtet.«
»Nicht einander«, korrigiere ich.
Er neigt sich interessiert vor. »Watcher oder Player?«
Lee wirft ihm ein Shirt zu. »Zieh dich an.«
Während sie sich abtrocknen, trete ich zum Tisch; das Buch, das dort liegt, ist ein Bildband Australiens. Ich blättere wahllos ein paar Seiten vor, verliere das Interesse und suche nach meinem eigenen Buch. Ich finde es auf der Heizung liegend. Ein Entsetzenslaut entschlüpft mir. Der Einband trieft, die Seiten sind wachsweich, aber die Tinte, die Tinte ist stur. Ich hebe es vorsichtig an meine Brust.
»Habt ihr ein Eisfach?«
»Wozu?«
»Habt ihr oder nicht?«
»In der Küche«, sagt Lee und tritt in trockenen Shorts neben mich. »Funktioniert das wirklich?«
»Ich hoffe es.«
Yakup ist verwirrt. »Wovon zum Henker sprecht ihr?«
»Folge mir.« Lee tritt zur Tür.
»Alter, du willst da rein?«
»Er wird uns schon nicht köpfen.«
Yakup blickt von Lee zu mir. »Hör mal, Miss Ich-will-mein-Buch-Zurück, wohnst du in der Nähe? Gibt es keine Eisfächer da, wo du herkommst? Wir helfen dir zurück über die Mauer, das Buch hast du ja jetzt.«
Ich könnte zurückkehren. Doch was würde Anna sagen, wenn ich triefend und ohne Scarlett in der Tür stünde? Wäre sie enttäuscht? Sauer? Ihr Ton war seltsam, als sie mit Vater sprach, ebenso ihr Blick, als wir uns verabschiedeten.
Alles ist seltsam heute. Anna, Scarlett, sogar ich.
»Sie wird mich umbringen«, höre ich mich sagen, was eine glatte Lüge ist. Ich will nur nicht heim.
»Besser, als wenn der Alte seinen Frust an mir auslässt«, sagt Yakup im Brustton der Überzeugung, legt aber zugleich eine Hand auf meine Schulter, es ist eine seltsam süße und ambivalente Geste. »Wer ist sie?«, fügt er hinzu, als müsste er abwägen, wer von uns in größerer Gefahr schwebt.
»Meine große Schwester. Ich habe ihr versprochen, Scarlett zu begleiten.«
»Und das ist …?«
»Meine kleine Schwester.«
»Klein im Sinne von wie klein?«, fragt Lee.
Ich ziehe eine Grimasse.
»Mit ihr hast du dich gestritten«, schlussfolgert er.
Ich nicke. Yakup flucht, er tut das oft. »Alles klar, ich geb auf, ab in Teufels Küche. Nach dir, heldenhafter Lee!«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.