Kitabı oku: «Geschichten aus dem Koffer», sayfa 9

Yazı tipi:

10. Dezember: Ein Koffer voller Wünsche (K)

Sie liebte die Ruhe, die von diesem Ort ausging, dem Ort, der ihr so viel bedeutete. Natürlich, die Holzbank war längst erneuert worden und der Baum hatte etliche Jahresringe hinzugewonnen, und doch sah sie sich noch als junge Frau unter seinen Zweigen sitzen. Damals war sie glücklich gewesen. Damals und die letzten Jahrzehnte ebenfalls, auch wenn es nicht immer einfach gewesen war. Doch sie hatten es geschafft. Gemeinsam. So, wie sie immer gemeinsam eine Lösung gefunden hatten. Aber jetzt war sie allein. Und sie fühlte sich alt. Deutlich älter, als sie es eigentlich war.

Der Pfarrer ging mit einem Mitarbeiter über den Hof und grüßte zu ihr herüber. Sie nickte ihm zu und nahm ihn doch kaum wahr.

Es wurde kälter. Die Sonne ging in diesen Monaten schon früh unter und konnte auch tagsüber kaum wärmen. Dabei hätte sie die Wärme gut gebrauchen können. In den Häusern wurden Laternen angezündet und leuchteten aus den Fenstern auf die Straße. Sie sahen hübsch aus, liebevoll gestaltete Windlichter, die dennoch nicht ihr Herz erreichten. Eigentlich hatte sie auch eine Laterne basteln wollen, zusammen mit ihrer kleinen Enkeltochter. Doch sie hatte keine Kraft dafür gehabt. Jetzt hatte ihre Schwiegertochter sich darum gekümmert, damit sie nicht ohne Licht zum Umzug gehen mussten.

Sie zog den Schal fester um den Hals und richtete sich auf. Als sie nach dem kleinen Kissen greifen wollte, das sie sich seit der Blasenentzündung mitnahm, weshalb sie zwei Wochen nicht zu ihrem Baum gehen konnte, zögerte sie. War da etwas in dem Astloch? Ein Stift? Ein Geschenk? Oder ein Schlüssel? Vom Boden aus konnte sie es nicht erkennen. Mühsam kniete sie sich auf die Sitzfläche, hielt sich mit beiden Händen an der Lehne fest, stellte einen Fuß auf und stemmte sich hoch. Mit einer Hand stützte sie sich am Stamm ab und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie erkennen, dass sich das Astloch jetzt fast auf Kopfhöhe befand.

Sie beugte sich vor und zog eine längliche Metallbox heraus. Als sie den Deckel öffnete, sah sie einen vergilbten Zettel. Er war zerknittert und mit einer gelben Schleife zusammengebunden. Im ersten Impuls wollte sie an einem Ende des Bandes ziehen, doch dann zögerte sie. Sorgfältig klopfte sie den Dreck ab und steckte die Box mit dem Zettel in ihre große Manteltasche.

---

„Habt ihr es schon gehört?“, fragte Christian und kickte einen Stein weg.

„Was denn?“ Michael sah zu seinem Freund. Wie kam es nur, dass er immer alle Gerüchte als erster kannte? Auch seine Schwester Luise sah von ihrem Zweig auf, den sie mit einem spitzen Stock abschabte. Eigentlich war er mit Christian am liebsten allein unterwegs. Aber heute hatte Mama sie wieder einmal gebeten, seine jüngere Schwester Luise mitzunehmen. Wenn er ehrlich war, störte sie meistens eigentlich gar nicht so doll. Beim Rennen war sie etwas langsamer, dafür unglaublich geschickt, wenn es darum ging, in hohe Bäume zu klettern. Und ihre Staudamm-Konstruktionen waren legendär. Aber ob sie auch Geheimnisse bewahren konnte? Egal, es war ja nicht sein Geheimnis.

Christian winkte sie zu sich und legte ihnen jeweils einen Arm auf die Schulter. „Habt ihr schon gehört, dass wir einen Engel im Dorf haben?“

„Einen Engel?“

„Pst, Luise! Nicht so laut!“, zischte ihr Bruder.

„Ja, einen Engel“, fuhr Christian fort.

„Würde ja in die Zeit passen“, lachte Michael. „Wenn nicht jetzt in der Adventszeit, wann dann?“ Er sah seinen Freund an. „Ist er dir erschienen und hat dich ermahnt, immer brav zu sein?“

„Unterbrecht mich doch nicht immer“, beschwerte sich Christian. „Ihr wisst ja gar nicht, was ich erzählen will! Frau Sommer, die Tante von Alex, ihr wisst schon, dem Freund von meinem Bruder, also, die hat ein Geschenk vor ihrer Tür gefunden.“

„Ein Geschenk?“, wunderte sich Michael. „Was denn?“

„Irgendsoein besonderer Haarkamm. Sie hatte früher mal so einen, und dann hatte sie ihn verloren, oder er war kaputt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hatte sie ihn nicht mehr. Und dann hat sie es letzte Woche beim Kirchkaffee erzählt. Und ein paar Tage später hatte sie ein Päckchen im Blumenkasten neben der Tür.“

„Dann hat es wohl jemand gehört, wie sie es erzählt hat. Oder es gibt wirklich Wichtelmännchen.“ Michael lachte und dachte an die gestickten Figuren auf ihrem Adventskalender. „Wie kommst du darauf, dass es ein Engel sein könnte?“

„Weil das nicht das einzige ist. Meine Mutter hat dann erzählt, dass der Schuster Hans einen neuen Füller bekommen hat und die Liesl vom Bauer Schwarzer eine rosa Haarschleife. Und der Metzger hatte einen Zettel im Briefkasten mit einer Liste, wem er zu Weihnachten einen Braten liefern soll. Geld lag auch gleich mit dabei.“

„Das kann nur ein Engel gewesen sein!“ Luises Augen leuchteten. Sie liebte Sagen und Märchengeschichten.

Christian sah sie spöttisch an. „War ja klar, dass du das wieder glaubst. Dann kannst du ja auch zum Schuppen im Kirchgarten gehen. Dort hat der Pfarrer jetzt einen Koffer aufgestellt. Angeblich kann man dort einen Zettel mit einem Wunsch reintun. Und wenn es ein richtig großer und wichtiger Wunsch ist und man abends immer dafür betet, dass er sich erfüllt, dann geschieht das auch.“

Michael grinste und stieß seine Schwester in die Seite. „Na komm, lass dich doch nicht immer ärgern!“

Doch Luise hatte gar nicht ihre übliche Trauermiene aufgesetzt. Sie schüttelte den Kopf. „Also, wenn ihr euch die Chance entgehen lassen wollt … Ich werde es versuchen.“ Sie zog die Jungen mit sich. „Kommt, wir gehen nach Hause und schreiben unsere Wünsche auf. Und dann gehen wir zum Schuppen und legen sie in den Koffer.“

„Weißt du denn schon, was du dir wünschst?“, wunderte sich Michael.

„Na klar! Ein Schnitzmesser. Dann muss ich nicht mehr einen Stein oder einen Stock nehmen. Und bei deinem Messer ist ja schon eine Ecke abgebrochen. Und scharf ist es auch nicht mehr unbedingt. Mama und Papa haben schon gesagt, dass ich es nicht zu Weihnachten bekomme. Dabei wünsche ich es mir so sehr! Aber sie denken, ich bin noch zu klein dafür. Obwohl du ein Jahr jünger warst, als du dein Messer bekommen hast!“

„Du bist ja auch ein Mädchen!“

Empört wandte sich Luise an Christian. „Das ist doch kein Grund! Außerdem kann ich besser klettern als du.“

---

Es dämmerte schon, als die drei Kinder zum Kirchgarten kamen. Beinahe ehrfürchtig schlichen sie den Kiesweg entlang. Am Holzschuppen baumelte eine Laterne über der Tür, die mit einem Strick offen gehalten wurde. Auf einem Hocker lag ein Koffer, groß genug, dass eine ganze Familie damit verreisen könnte. Aber auch so schwer, dass er schon ohne Inhalt kaum zu tragen gewesen wäre.

Michael kniete sich hin und hob den Deckel hoch. Im Laternenlicht konnten sie mehrere gefaltete Zettel erkennen.

„Wir sind nicht die einzigen“, wisperte Luise.

Vorsichtig legte sie ihren Zettel dazu, den sie ordentlich gerollt und mit einer Schleife verziert hatte. Michael holte sein geknicktes Blatt aus der Hosentasche und legte es daneben. Doch er zögerte noch, den Deckel wieder zu schließen.

„Sollen wir einmal nachschauen, was sich die anderen so gewünscht haben?“

Christian nickte und griff in den Koffer. „Was haben wir denn da?“

Lieber Engel!

Bitte mach, dass Papa nicht mehr so traurig ist und Mama nicht mehr so doll schimpft. Ich habe doch beide lieb!

Deine Katharina

„Da steht ja gar keine Adresse dabei“, wunderte sich Michael. „Wie soll der Engel denn dann wissen, wem er helfen soll?“

„Also, ich bitte dich“, lästerte Christian. „Wie kannst du nur glauben, dass ein Engel das nicht wüsste …“

„Oder hier.“ Christian warf den ersten Zettel wieder in den Koffer und griff nach dem nächsten. In wackeliger Schrift stand nur eine Bitte:

Ein Bund Tannenzweige, damit mein Herrmann im Winter gut bedeckt ist.

„Ich finde nicht richtig, was wir hier machen!“, meldete sich Luise. „Das sind Wünsche, die nicht für uns bestimmt sind. Die hier, das könnte die alte Gruber sein. Ihr Mann ist doch schon lange tot und sie kümmert sich immer um sein Grab. Dabei sieht sie doch fast nichts mehr. Wir sollten das nicht lesen.“ Entschlossen nahm sie Christian den Zettel aus der Hand.

„Ich habe eine andere Idee.“ Michael machte den Deckel zu und griff nach dem Zettel in Luises Hand. „Wir erfüllen der Gruberin ihren Wunsch. Tannenzweige finden wir doch genug im Wald. Und dann könnten wir sie auch gleich aufs Grab legen.“ Er steckte den Zettel in seine Hosentasche, stand auf und klopfte sich die Hose ab. „Es wird dunkel. Wir sollten nach Hause gehen.“

Die anderen beiden nickten und folgten ihm über den Kirchhof. Nur Christian blickte immer wieder zweifelnd zurück.

---

Der große Baum warf lange Schatten auf den Hof. Die Zweige ächzten, und irgendwo rief ein Käuzchen. Christian atmete tief ein und ging dann zügig weiter. Er brauchte einfach nur auf die Laterne zu schauen. Nur noch fünf Schritte, höchstens sieben, dann hätte er den Schuppen erreicht. Warum hatte er auch vorhin nicht einfach zugeben können, dass er die Wunschidee eigentlich gar nicht so schlecht fand? Dann wäre ihm dieser Ausflug im Dunkeln erspart geblieben.

„Guten Abend!“

Mit einem Aufschrei sprang Christian zur Seite. Dann atmete er erleichtert auf. Auf der Bank unter dem Baum saß eine Frau. Er kannte sie und wusste doch nicht, wie sie hieß. Sie nannten sie die Baumfrau, da sie in den letzten Monaten fast immer auf der Bank zu sitzen schien. Jetzt erhob sie sich lächelnd, nickte noch einmal zu ihm herüber.

„Du solltest auch bald nach Hause gehen. Es ist schon spät!“ Sie lächelte und schien zu überlegen, ob sie noch etwas sagen sollte. Doch dann steckte sie die Hände in die Manteltaschen, die merkwürdig ausgebeult wirkten, drehte sich um und ging davon.

Christian wartete, bis sie durch das Hoftor verschwunden war. Dann rannte er zum Schuppen, nestelte das kleine Blatt aus seiner Hosentasche und hob den Deckel. Der Koffer war leer.

---

Ein paar Tage später legte der Vater ein Päckchen vor Luise auf den Frühstückstisch und setzte sich mit der Zeitung auf seinen Stuhl. In ordentlicher Schrift stand „Luise“ auf dem Packpapier. „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“

„Vielleicht hat der Nikolaus gestern noch ein Geschenk vergessen“, kam Michael seiner Schwester zur Hilfe.

„Oder ein Engel hat es zu uns gebracht.“ Die Mutter zwinkerte ihrer Tochter zu.

Luise schluckte. Wusste ihre Mutter Bescheid? Vorsichtig befingerte sie das Päckchen. Könnte es sein ...?

„Darf ich aufstehen?“

„Und ich auch?“

Die Geschwister gingen ins Kinderzimmer. Sorgfältig wickelte Luise ihr Geschenk aus. Zum Vorschein kam das schönste Schnitzmesser, das sie jemals gesehen hatte.

„Oh, ist das toll! Wunderschön!“ Ehrfürchtig strich Luise über den Knauf und die fein gearbeitete Ledertasche. „Dann war es ja gut, dass ich unsere Adresse dazu geschrieben habe.“

Michael nickte. „So hast du es dem Engel leichter gemacht.“

„Was hast du dir eigentlich gewünscht?“, fragte Luise ihren Bruder.

Michael lächelte verträumt und sah das Messer an. „Mein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen.“


10. Dezember: Ihr Kriegerlein kommet (J&E)

Ein Drama in drei Akten

Dramatis personae

Kalchas (Seher der Griechen)

Agamemnon (Anführer der Griechen)

Menelaos (dessen Bruder)

Achilles (größter Held der Griechen)

Aiax (zweitgrößter Held der Griechen)

Odysseus (listigster Held der Griechen)

Priamos (König von Troja)

Kassandra (seine Tochter, Seherin der Trojaner)

Hektor (größter Held der Trojaner)

Aeneas (zweitgrößter Held der Trojaner)

Laokoon (Trojanischer Priester)

Penthesilea (Königin der Amazonen)

Paris (Bruder von Hektor)

Helena (Menelaos’ Frau, Geliebte des Paris)

Zeitpunkt der Handlung: Zehntes Jahr des Trojanischen Krieges

Erster Akt

Ort der Handlung: Lager der Griechen

Die Heerführer der Griechen stehen um einen Tisch herum, auf dem ein Modell Trojas steht.

(Kalchas betritt die Szene und reckt die Arme gen Himmel.)

Kalchas Ein Wunder! Ich kann sehen!

Aiax Bitte nicht schon wieder.

Kalchas Ich sehe! Ich sehe!

Menelaos Klar, wenn man die Augen offen hat, klappt das auch.

Kalchas (mit dem Finger auf Menelaos zeigend) Du! Du solltest ganz still sein. Hättest du dir nicht die Frau, die schöne Helena, rauben lassen, wären wir nicht hier.

Agamemnon Und hätten wir auf dich gehört, als wir hierher segelten und in die Windstille gerieten, hätte ich meine Tochter Iphigenie geopfert.

Achilles Mir ist langweilig. Jeden Tag Schädel einschlagen wird auf Dauer echt langweilig.

Kalchas Ich sehe die Lösung aller unserer Probleme! Die Götter haben zu mir gesprochen!

Odysseus (atmet tief in Kalchas’ Richtung ein und wedelt dann die Luft angewidert mit einer Hand fort) Du meinst, der Gott des Weines hat zu dir gesprochen?

Kalchas (mit dem Finger auf Odysseus zeigend, laut) Wage nicht, die Weissagungen des Willens der Götter zu verspotten! Viele meiner Voraussagen sind eingetroffen!

(Kurze Ruhe. Die anderen blicken sich an.)

Aiax (vorsichtig) Welche denn?

Kalchas (mit sehr lauter Stimme) Zweifler! Spötter! Ihr seid verantwortlich dafür, dass wir alle immer noch hier sind. Eure Kämpfer da draußen, sie sind es leid. Sie vertrauen mir. Ich werde zu ihnen gehen und von den Botschaften der Götter berichten.

Agamemnon (seufzend) Bevor du wieder mal alle aufwiegelst, was ist es denn diesmal?

Kalchas Der Winter ist gekommen!

(Die anderen schauen sich erneut an, sehr skeptisch, ziehen ihre Umhänge enger um sich)

Odysseus Das haben wir auch schon bemerkt. Ehrlich.

Kalchas Es wird kälter werden. Es wird schneien wie auf dem Olymp!

Aiax Zugegeben, ungewöhnlich, kommt aber ab und zu vor. Ich kann mich erinnern, wie ich als kleiner Junge …

Kalchas Und wir werden frieren. Aber die Götter haben mir Bilder geschickt. Bilder von Wärme!

Odysseus Von Feuer?

Kalchas Spötter! Götter reden nicht direkt. Sie reden in Bildern. Wir, die Seher, haben die Aufgabe, diese Visionen für euch, die Nichtsehenden, verständlich zu machen.

Menelaos (zu Agamemnon) Ja genau, wie bei Kroisos von Lydien und der Pythia von Delphi.

Agamemnon (lacht) Der, dem geweissagt wurde, wenn er den Fluss Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören?

Menelaos Genau. Und am Ende war es sein eigenes Reich, das zerstört wurde.

Kalchas (mit großer Geste) Die Pythia von Delphi pflegt ein anderes Image, ein anderes Dienstleistungsbranding, und betrügt damit die Leute. Ich hingegen …

Agamemnon (leise zu Menelaos) Konkurrenzkampf auf dem Sehermarkt.

Kalchas … ich hingegen beschreibe den Leuten, was ich sehe.

Achilles Mir ist langweilig. Ich gehe gleich mal vor die Tore von Troja und frage, ob da jemand Lust hat, sich von mir den Schädel einschlagen zu lassen. (beginnt, mit seinem Schwert zu spielen)

Aiax Und was hast du nun gesehen, Kalchas?

Kalchas Ich sehe den Sieg! Das Ende des Krieges! Und wie ich schon sagte, er wird somit im zehnten Jahr enden.

Aiax Kannst du vielleicht ein bisschen deutlicher werden? Warum wird der Krieg enden?

Odysseus (murmelnd zu Agamemnon) Könnte er nicht mal sein eigenes Ableben weissagen? Dann hätten wir Ruhe, um unseren Plan umzusetzen. (deutet auf ein großes hölzernes Pferd auf dem Tisch vor dem Troja-Modell)

Kalchas (triumphierend) Es ist kein Pferd! Es ist kein Pferd, Odysseus. Wie so oft irrst du!

Odysseus Kein Pferd?

Kalchas Den Sieg bringt ein Baum!

(Grenzenloses Erstaunen aller anderen. Sogar Achilles blickt kurz von seinem Schwert auf)

Agamemnon (sehr vorsichtig) Ein Baum bringt den Sieg?

Kalchas Jawohl. Ein Baum wird triumphieren über Priamos und seine Brut.

Menelaos (überaus zurückhaltend, beinahe mitleidig) Kannst du uns vielleicht mehr über diesen Baum erzählen?

Kalchas Wir bieten den Baum den Trojanern zum Geschenk! Und sie werden ihn in ihre Stadt bringen. Und so obsiegen wir.

Aiax Das wollen wir ja mit Odysseus’ Pferd machen.

Odysseus Du willst unsere Kämpfer in einem Baum verstecken, Kalchas? Echt jetzt?

Kalchas Nein.

Agamemnon Er soll, wenn er in der Stadt ist, durch Griechisches Feuer entzündet werden und Troja niederbrennen?

Kalchas Nein. Kerzen wird er tragen, aber sie entzünden nicht die Stadt.

Odysseus Keine Krieger, kein Feuer, kein Pferd … Wie soll das den Sieg bringen?

Kalchas Pferde sind dabei.

Achilles (strahlt) Aaaaah, sie ziehen den Baum in die Stadt, und dann kippt der Baum um und schlägt den Trojanern die Schädel ein?

Kalchas Die Pferde hängen am Baum.

Menelaos Pferde hängen am Baum?

Agamemnon (lacht) und noch was anderes?

Kalchas Ja. Mit geschmolzenem Zucker überzogene Äpfel beispielsweise. Und Sterne aus Stroh. Und bunte Kugeln aus geschmolzenem Sand.

(Alle treten ein wenig von Kalchas fort, als sei er ansteckend)

Odysseus Und dann reiten die Sterne auf den Pferden weiter in die Stadt und bringen den Sieg? (muss lachen)

Kalchas Lästere nicht! (er deutet auf Odysseus) Deine Aufgabe wird es sein, den Baum zu finden und hierher zu bringen.

Odysseus Und was, bitte, ist das für ein Baum?

Kalchas Eine Tanne.

Odysseus Eine Tanne? Hier gibt’s aber keine Tannen. Wo soll ich denn jetzt eine Tanne herbekommen?

Kalchas Dann solltest du dich mal auf die Suche danach machen. Nicht dass deine Reise ein langer Irrweg wird und wir auf dich warten müssen.

Aiax Und wie gewinnen wir jetzt mit dem Baum?

Kalchas Die Götter sagen mir, dass die Trojaner ihre Waffen fallen lassen werden.

Zweiter Akt

Ort der Handlung: Thronsaal Trojas

Der Kriegsrat von König Priamos ist zusammengetreten. Paris und Helena sind weniger am Gespräch als vielmehr an sich interessiert.

(Kassandra betritt die Szene und reckt die Arme gen Himmel.)

Kassandra Ein Wunder! Ich kann sehen!

Priamos (verdreht die Augen)

Hektor (mitleidig) Was ist denn jetzt schon wieder?

Kassandra Die Götter sprechen zu mir.

Aeneas Das wissen wir. Die Frage wäre eher: Wann schläfst du überhaupt mal? Die Götter scheinen ja ein Dauergespräch mit dir zu führen.

Kassandra (naserümpfend) Die Frage wäre eher: Wann glaubt ihr mir endlich mal? Ich rede mir den Mund fusselig, und ihr macht es immer anders, als ich empfehle. Und deshalb haben wir hier schon im zehnten Jahr den Krieg.

Penthesilea Da muss ich aber ausnahmsweise mal Kassandra recht geben. Ein wenig mehr Frauenquote wäre schon angebracht bei den Entscheidungen hier.

Hektor Frauenquote? Dass ich nicht lache. Die habt ihr Amazonen doch mit 100% übererfüllt.

Penthesilea Hat sich ja auch bewährt.

Hektor (abschätzig Penthesilea von oben bis unten betrachtend) Na, ich weiß nicht. (dann zu Helena zeigend, die immer noch mit Paris herumknutscht) Oder möchtest du ihr auch eine Führungsrolle geben?

Penthesilea Also, so weit möchte ich dann doch nicht gehen.

Priamos Kinder, es ist wie immer mit euch. Alles wird zerredet, und wir fällen keine Beschlüsse. Wir müssen uns jetzt mal um den Krieg kümmern.

Kassandra Oh Vater, das möchte ich doch gerne. Ich weiß, wie wir den Krieg beenden können! (tanzt um Priamos herum)

Laokoon (skeptisch) Aha.

Aeneas Und was schwebt dir - Verzeihung - was schwebt den Göttern da so vor?

Kassandra Ich sehe einen Stall.

(Ungläubiges Erstaunen aller anderen. Selbst Helena und Paris lassen kurz voneinander ab)

Helena Stall ist nicht gut. Das verdirbt meine Fingernägel. Der ganze Dreck da und so.

Priamos (traurig) Und sperren wir dann die Griechen einfach in einem Stall ein?

Kassandra Nein! Ich sehe ein Paar im Stall und ein Kind in einer Krippe.

Aeneas (schaut zu Hektor und dreht mit einem Finger neben seiner Schläfe)

Penthesilea Und wieso ist das Kind in der Krippe? Haben die kein Bett, oder was?

Kassandra Der Junge und seine Eltern …

Penthesilea Ach so, ein Junge! Na, dann ist eine Krippe ja eher noch gut für ihn. Für uns Amazonen sind nur Mädchen nützliche Kinder.

Priamos (versucht, das Gespräch wieder zu fokussieren) Wie gewinnen wir den Krieg mit einem Kind in einer Krippe?

Kassandra Der Junge und seine Eltern sind nicht alleine. Ein Ochse und ein Esel sind bei ihnen.

Aeneas Na, dann kann uns ja nichts mehr passieren. Da rennen die Griechen sofort davon. Vielleicht können wir den Ochsen als Minotauros verkleiden? (hält die Hand vor den Mund, da er lachen muss)

Kassandra Du bist ein unwürdiger Ignorant. Ein Stern leuchtet über dem Stall, und es kommen Könige. Drei Könige.

Hektor Wer denn? Bekommen wir Verstärkung?

Kassandra Ich kann sie nicht genau erkennen, aber es könnten Agamemnon, Menelaos und Odysseus sein. Und sie reiten auf Kamelen.

(Die anderen starren sich mit aufgerissenen Augen an)

Helena Ich will nicht, dass Menelaos kommt. Paris, sag du doch auch mal was.

Paris Muss Menelaos einer von den drei Königen sein?

Kassandra Nein, muss nicht. Vielleicht ist es auch Achilles. Entscheidend ist aber, dass meine Vision zeigt, dass sie vor dem Kind niederknien und Geschenke überreichen. Gold bringt der eine, …

Priamos (zu sich) Na, wenn das mal Agamemnon wäre, der alte Knauser. Dem würde ich das aber gönnen, dass er was abgeben muss.

Kassandra … die anderen Geschenke kann ich nicht erkennen. Aber ich habe heute einen merkwürdigen Weihrauchduft in der Nase, und meine Hände sind ölig.

Hektor Fassen wir mal zusammen: Ein Kind in einer Krippe in einem Stall samt Ochs’ und Esel und einem Stern darüber bringen Agamemnon, Odysseus und Achilles dazu, Geschenke zu überreichen und niederzuknien? Na, das wär’ doch mal was! Und wo finden wir so ein Zauberkind?

Kassandra Ich weiß es nicht. Ich muss ja nicht alles machen. (blickt zu Laokoon) Vielleicht findest du den Ort, wo ...

Laokoon Ich? Wieso ich jetzt? Nein, ich mache so etwas nicht mehr. Wenn ich Visionen habe, tauchen immer Schlangen auf. Ich habe Familie.

Hektor (folgt offenbar dem Zeichen einer Wache und geht ab)

Penthesilea Mir ist alles recht, was diesen Krieg beendet. Langsam habe sogar ich meine Rüstung satt. Aber ein Kind als Friedensbringer? Und dann auch noch ein Junge? Das ist doch albern, Kassandra!

Kassandra Das ist doch mal wieder typisch. Nur weil ich von den Göttern mit dieser Gabe beschenkt bin, seid ihr eifersüchtig und glaubt mir aus Prinzip nicht.

Aeneas Vielleicht liegt es auch daran, dass du ständig etwas Merkwürdiges von dir gibst? Demnächst erzählst du uns auch noch, Tote könnten wiederauferstehen.

Hektor (kehrt zurück) Mir wurde soeben von unseren Spionen bei den Griechen Erstaunliches gemeldet.

Priamos Was denn? Bauen die jetzt das Pferd, von dem sie glauben, dass wir so blöd seien, es in unsere Stadt zu ziehen, während sich dort Griechen im Inneren verstecken?

(Alle lachen boshaft)

Hektor Nein. Odysseus ist abgereist.

Penthesilea Na, um den ist’s auch nicht schade.

Helena Vielleicht hat er auch nur Sehnsucht nach seiner Frau?

Hektor Er ist auf der Suche nach einem Tannenbaum.

(Alle schauen sich an und schütteln amüsiert die Köpfe)

Hektor Außerdem ist der tägliche Nachmittagskampf mit den Griechen ausgefallen.

Priamos Deswegen ist das so ruhig hier. Was haben die vor?

Hektor Das wissen unsere Spione nicht. Aber die Griechen basteln jetzt alle Strohsterne, schnitzen Holzpferdchen und schmelzen Sand ein, um ihn danach bunt anzumalen.

Aeneas Ein Sonnenstich kann das nicht sein. Schließlich wird es Winter.

Laokoon (mehr zu sich) Die führen Übles im Schilde, diese Schurken! Die basteln doch Strohsterne nicht ohne Grund!

Helena Ob die mir auch so ein Holzpferdchen machen könnten?

Kassandra (tanzt wieder um ihren Vater herum) Das ist ein Zeichen, ein Zeichen der Götter! Die Griechen werden dem Kind huldigen!

Aeneas Mit Holzpferdchen?

Priamos Wie soll daraus Gutes entstehen?

Paris Wir könnten auch etwas schnitzen. Vielleicht die Krippe? Samt Kind. Und Ochse und Esel, das kann ich gut.

Helena Oh, du Großartiger. Das würdest du für mich machen? (sie umarmt und küsst Paris)

Paris Ich baue eine ganz tolle Krippe für dich. Da können sich die Griechen anstrengen, wie sie wollen. Diesen Kampf verlieren sie!

Helena Und vergiss den Stern nicht!

Kassandra Da sind auch Musiker auf dem Dach.

Laokoon Auf dem Dach? Aber klar doch!

Kassandra Und die Musiker haben Flügel, und die singen irgendwas, aber das verstehe ich nicht, weil es die Sprache, die die singen, noch gar nicht so richtig gibt. Außerdem kommen ganz viele Hirten mit ihren Schafen. Das ist ein riesiges Hallo da am Stall.

Aeneas Und wir machen die Griechen dann mit geflügelten Musikern und einer Armee von Schafen unter dem Befehl eines unbekannten Kindes in einer Krippe platt? Kassandra, ich habe schon Vieles gehört, aber heute übertriffst du dich selbst.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
660 s. 51 illüstrasyon
ISBN:
9783754923153
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: