Kitabı oku: «Das weibliche Genie. Hannah Arendt», sayfa 5
Sind wir fähig, uns andere Varianten des Diskurses und des Handelns vorzustellen – moderne Figuren der Wandelbarkeit, des ständigen Auftauchens von Sinn und Sinnlichem, das Arendt suchte?
Niemand hat in der Moderne so wie Arendt, als sie Augustin las, über die Geburt als ewigen Neuanfang einer singulären Geschichte, einer ungewöhnlichen Erzählung, einer Biographie nachgedacht.87 Wo Nietzsche auf einer »ewigen Wiederkunft« beharrt – keine ermüdende Wiederholung, sondern die »höchste […] Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann«88 –, hebt Arendt in der biblischen evangelischen und augustinischen Tradition hervor: Jede Geburt ist das »Wunder« dieser »ewigen Wiederkehr«, sie erneuert, ist gefährdet, verspricht. Auch auf die zyklische Beschwörung, die das Thema der Geburt in ihren Schriften begleitet, könnten wir ihren eigenen Kommentar des Gedankens der »ewigen Wiederkehr« bei Nietzsche anwenden: »Modern an ihm [dem Gedanken der ›ewigen Wiederkunft‹ bei Nietzsche und – könnte man hinzufügen – dem Gedanken der Geburt bei Arendt] ist das pathetische Gewand, in dem er auftritt; es zeigt, wieviel Anstrengung es den modernen Menschen kostet, wieder zu jenem bewundernden und bejahenden Staunen zurückzufinden, dem thaumazein, das einst für Platon der Anfang der Philosophie gewesen war.«89
Doch wenn es der Menschheit gelingt, Geburten zu programmieren und das genetische Erbe zu modifizieren, und dadurch das Risiko des Neuen in einen Automatismus zu verwandeln, stellt sich die Frage anders: Ist es noch möglich, den Blitz der Überraschung, die Gnade des Beginns offen zu halten? Ist es noch möglich, das »spezifisch menschliche« Leben zu lieben außerhalb des vitalistischen Wettlaufs um Fortschritt und Erfolg? Können wir noch die Flucht nach vorn skandieren durch das Erstaunen und die Sorge, durch das Glück und das Versprechen dieses »Wunders der Geburt«, das mitunter Gefahr läuft, ein mittelmäßiges oder unglückliches Ereignis zu sein (Krankheit, körperliche oder geistige Behinderung), das jedoch als Ereignis die letzte – die einzige? – Wiederbelebung des Fragens nach dem Sinn eines jeden Lebens ist? Oder ist das Leben als Ereignis und als Frage von nun an überholt, da es durch die Technik sichergestellt, uniformiert, banalisiert wurde?
Weil es Geburten gibt – Frucht dieser den Männern und Frauen eigenen Freiheit, sich zu lieben, zu denken und zu urteilen, bevor sie Produkte genetischer Kombinatorik sind –, existiert die Möglichkeit zu wollen und frei zu sein. Unsere Freiheit ist nicht (oder nicht nur) eine psychische Konstruktion; sie ist die Folge dieser Existenz, die unsere ist, nämlich geboren zu sein: initium. »Geworfen« zu sein, sagt Heidegger. Etwas völlig Neues zu beginnen, korrigiert Arendt, und zwar innerhalb der »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten«: »Die ganze Fähigkeit zum Anfangen wurzelt im Geborensein und gar nicht in der Kreativität, nicht in einer Gabe, sondern in der Tatsache, daß Menschenwesen, neue Menschen, wieder und wieder durch die Geburt in der Welt erscheinen. Ich sehe durchaus, daß das Argument auch in der Augustinischen Fassung etwas dunkel ist, daß es nur dies zu besagen scheint, wir seien zur Freiheit verurteilt, indem wir geboren seien…«90 Doch Arendt begnügt sich nicht damit, den Willen von jeder psychologischen Entscheidung loszulösen, indem sie ihn von der Geburt abhängig macht, die selbst jeder Willensprogrammierung entzogen ist, da sie im Spannungsfeld der Liebe entsteht. Sich an den späten Heidegger anlehnend, schreibt sie auch den Tod hier ein, nicht als Zukunft des Lebens, sondern als interne und intime Dimension seines Sichereignens, als »Heiligenschrein«, der in der bio-graphischen Erfahrung »eingefaßt« ist, verstanden als ein »Intervall«. In diesem Zusammenhang zitiert sie Goethe:
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.91
Am Kreuzweg dieser Anleihen und Umdeutungen entfaltet sich auf diese Weise die Arendtsche Auffassung vom Leben und von der Geburt – nicht als biologisches Experiment, sondern als höchste Erfahrung des erneuerbaren Sinns. Mit ihrem wiederholten Gesang vom »Wunder der Geburt«, bei dem sich der Zufall des Anfangs und die Freiheit der Menschen, sich zu lieben, zu denken und zu urteilen, miteinander verbinden, hinterläßt uns Arendt als kinderlose Frau eine moderne Version der jüdisch-christlichen Liebe zum Leben.
Dieses Denken wird uns angeboten, um geteilt zu werden, und wir können sicher sein, daß es geteilt wird: insbesondere von anderen Frauen, egal, ob »Philosophinnen«, »politische Theoretikerinnen« oder nicht. Tatsächlich bietet die relative Befreiung der Frauen in der Gegenwart diesen die Möglichkeit, ihre Mutterschaft besser zu denken, als sie es seit uralten Zeiten tun konnten. Die Bewährungsprobe der Mutterschaft in der realen Gegenwart des Neugeborenen, dem die Frau ihr Sein überträgt, erfüllt sie keineswegs, sondern macht sie verletzlich, verändert sie. Diese Bewährungsprobe verbindet die Mutter mit ihrem Kind durch eine einzigartige Bindung, die in der menschlichen Existenz nicht ihresgleichen kennt: Denn es handelt sich nicht um das Begehren eines Gegenstandes (oder eines Subjekts), sondern um eine Liebe für den anderen. Die mütterliche Liebe ist vielleicht die Morgenröte der Beziehung zum anderen, die der Liebende und der Mystiker später wiederentdecken. Die Mutter kann deren erste Erkunderin sein, wenn sie nicht den Abrechnungen mit ihrer eigenen Erzeugerin erliegt, vermittelt über ihren Sexualpartner. Außerdem ist dieser andere kein Erwählter, sondern ein »X-beliebiger«92: Keineswegs überlegen, sondern einfach nur neu, setzt sein Leben dramatisch und oft tragisch ein und enthält ein Moment unserer Begegnung mit dem Tod. Ließe sich diese Bewährungsprobe denken – wie Arendt uns auffordert –, könnte sie aus den Frauen der kommenden Jahrhunderte die Wächterinnen der Möglichkeit des Lebens selbst machen.
Versuchen wir also, den Begriff des Lebens im Arendtschen Sinn zu verstehen. Nicht als ein »Überleben der Gattung« (die man uns – mittels der Leistungen der Wissenschaften, die künstliche Mittel und diverse »Klonierungen« erfinden – mit zeugenden Frauen als ebenso möglich ankündigt wie ohne sie); verstehen wir es eher als Liebe für den Beliebigen, den Nächsten, der ebenso zerbrechlich ist wie ich angesichts des Todes und der durch meine Liebe als Frau und Mutter ständig den unerschöpflichen Sinn der vielfältigen Lebensweisen erfindet, die er mir als Gegenleistung zum Geschenk macht.
Dank Empfängnisverhütung, Abtreibung und Techniken künstlicher Zeugung schützen sich die Frauen heute gegen das Schicksalhafte von Fruchtbarkeit oder Sterilität; sie können ihre persönliche Entwicklung verwirklichen und ganz teilhaben an der modernen Zeit, in der die conditio humana von der Wissenschaft beherrscht und den transzendentalen Gesetzen entzogen ist. Dennoch verhindert dieses Eintauchen in das wissenschaftliche Zeitalter nicht – ganz im Gegenteil – das Begehren nach Zeugung und Mutterschaft. Selbst wenn es mitunter den Aspekt eines Willens nach Besitz annimmt, so bleibt dieses übertriebene, ja übersteigerte Begehren nach Mutterschaft analysierbar und in der Lage, in den nunmehr entsakralisierten menschlichen Angelegenheiten die Sorge um den Anderen in der Liebe zum anderen zu verkörpern. Eine Liebe, die mit jeder Geburt neu beginnt und durch den Vater hindurch in der mütterlichen Angst ihren Sinn des ständigen Fragens wiederfindet. Diese zielt nicht auf eine Ewigkeit im Jenseits, auf ein transzendentes summum esse; sondern auf den un-endlichen Sinn des Nächsten hierselbst, mein ganz anderer, mein völlig Gleicher, der Beliebige. In diesen psychischen Winkeln der mütterlichen Liebe glänzen noch die letzten Schimmer des Heiligen, das der homo religiosus dem homo laborans zu übermitteln vermag, der ihn allerdings mehr und mehr verschlingt. Damit das zur Welt kommende Sein ein sprechendes und denkendes Sein werden kann, macht sich die mütterliche Psyche zum Übergangsort von zoe zu bios, von der Physiologie zur Biographie, von der Natur zum Geist. Gelänge es den Frauen, das vom Judeo-Christentum hinterlassene Testament zu leben und zu denken, könnte dieses gerettet, singularisiert und modernisiert werden.
In dem Maße, wie die Psychoanalyse ein heterogenes Subjekt befragt – Trieb und Sinn, Unbewußtes und Bewußtes, Somatisches und Symbolisches –, befindet sie sich an der gleichen Grenze und trägt dazu bei, gemeinsam mit der mütterlichen Begleitung und anders als sie, die Frage des Lebens als Sinn, des Sinns als Leben offen zu halten. Indem sie die psychischen Funktionen eines jeden Individuums angesichts von Geburt und Tod entfalten, indem sie die Strukturen und Dramen des Familiendreiecks analysieren und seine Konsequenzen für die psychische Sexualität und die singulären Denkstrategien eines jeden Subjekts kennen, bewahren die Analytiker in der Fortdauer der menschlichen Gattung die Bestimmung des Individuums, sinnbildend zu sein.
Die mütterliche Liebe für das beliebige Leben – und nicht die Fortschritte der vitalistischen Technik, mit denen diese Liebe sich umgeben kann, noch umgekehrt die vergangenheitszugewandte Ablehnung dieser Fortschritte durch den Konservatismus jener Religionen, die geradezu wild auf Geburtenförderung sind – ist in der Lage, unsere conditio humana als Wesen zu garantieren, die sich Sorgen machen um den Sinn, da zu sein. Unter diesem Blickwinkel und unter Berücksichtigung der Bedrohung, die auf ihm lastet (ein Leben, das manche in »aller Freiheit« technisch reproduzieren möchten, während andere es aus religiösen Gründen ohne jedwede Freiheit aufzwingen wollen), könnte man vorhersagen, daß das Leben im Arendtschen Sinn weiblich oder gar nicht sein wird. Selbstverständlich erlaubt die psychische Bisexualität, wie die Psychoanalyse sie in jeder Person entdeckt, anzunehmen, daß ein Mann diese Weiblichkeit auf sich nehmen, ja sogar die als Spannung der Liebe zwischen zoe und bios definierte Mutterschaft erfahren kann. Und dies wird so lange möglich sein, bis die Technik die Drohung des Todes beseitigt haben wird: Doch wird das je möglich sein?
Es ist bezeichnend, daß eine Frau, eine jüdische Frau, Hannah Arendt, im Schatten der Shoah die Initiative ergriffen hat, die Frage der Geburt neu zu stellen, indem sie der Freiheit zu sein einen neuen Sinn gegeben hat. Dies ist der größte Glanz ihres Genies, das die Krise der modernen Kultur in ihrer Mitte trifft, dort, wo sich ihr Schicksal auf Leben und Tod entscheidet.
59Handschriftl. Gutachten zur Dissertation von Hannah Arendt (1928) aus dem Nachlaß von Karl Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung.
60Brief Nr. 389 vom 16. Januar 1966, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 657-658
61Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin – Versuch einer philosophischen Interpretation. Philosophische Forschungen, hg. v. Karl Jaspers, 9. Heft, Berlin 1929, S. 20
62Ebd., S. 11-12
63Zum Beispiel in Vita activa, a. a. O., S. 309-310
64Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 32
65»Transibo ergo et istam vim naturae meae gradibus ascendens ad eum qui fecit me; et venio in campos et lata praetoria memoriae.« Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 33
66Ebd., S. 35
67Ebd., S. 42
68Ebd., S. 46
69Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 290 ff.
70Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 52
71Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 43: »Dasein, Weltlichkeit und Realität«.
72So im Text von 1942 über »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹«: »Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. Anfängliches ist unzerstörbar. […] Der verborgene Geist des Anfänglichen im Abendland wird für diesen Prozeß der Selbstverwüstung des Anfanglosen nicht einmal den Blick der Verachtung übrig haben, sondern aus der Gelassenheit der Ruhe des Anfänglichen auf seine Sternstunde warten.« (Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt am Main 1984, S. 68)
73Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 63 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
74Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Zweiter Teil: Das Wollen, a. a. O.
75Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 75
76In Ioan. Ep. Tr. VIII, 10: »Non enim amas in illo quod est; sed quod vis ut sit.«
77Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 86
78Brief von Martin Heidegger an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 31; für den Brief an Elisabeth Blochmann vgl. Elzbieta Ettinger, a. a. O., S. 35.
79Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O.
80Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 83
81Ebd., S. 147 ff.
82Brief von Marx an Kugelmann vom Juli 1868, zit. nach: ebd., S. 409
83Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 116
84Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O.
85Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 413-414
86Vgl. Julia Kristeva, Sens et non-sens de la révolte, Bd. 1: Pouvoirs et limites de la psychanalyse, Paris 1966, S. 243-255
87Siehe über Hannah Arendt und die Geburt die Pionierarbeit von Françoise Collin, »Du privé et du public«, in: Les Cahiers du Grif, Nr. 33, 1985, S. 47-67 u. »Agir et dormir«, in: Hannah Arendt et la modernité, Paris 1992, S. 27-46.
88Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Ecce homo, Abschnitt 1, 2. Satz, zit. nach: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 260
89Ebd.
90Ebd., S. 442-443
91Johann Wolfgang von Goethe, »Eins und alles« (1821), zit. nach: ebd., S. 421
92Das kommende Wesen ist das beliebige Wesen. In der scholastischen Aufzählung der Transzendentale (quolibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum – der beliebig Seiende ist eins, wahr, gut oder vollkommen) ist der Begriff, der in jedem ungedacht bleibt und die Bedeutung aller anderen bedingt, das Adjektiv quolibet […]; quolibet ens ist nicht »das Wesen, gleich welches«, sondern »das Wesen, wie es in jedem Fall von Bedeutung ist«; es setzt anders gesagt bereits einen Verweis auf den Willen voraus (libet): Das beliebige Wesen unterhält eine ursprüngliche Beziehung zum Begehren« (vgl. Giorgio Agamben, La Communauté qui vient. Théorie de la singularité quelconque, Paris 1990, S. 9).
3. Der Sinn eines Beispiels: Rahel Varnhagen
Obwohl glühende Anhängerin des »erzählten Lebens«, der Bios-graphie, hat Hannah Arendt weder eine Autobiographie noch einen Roman geschrieben. Ein einziger Jugendtext, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik93, nähert sich der Art Erzählung, der die Philosophin und Politologin mit Aristoteles das Privileg einräumt, das »Leben« in seiner Würde als »Handeln« zu vollenden. Die Arbeit wird 1933, nach der Dissertation über Augustin und bevor Arendt im gleichen Jahr Berlin verläßt, mit Ausnahme der letzten zwei Kapitel abgeschlossen, die später, 1938, hinzugefügt werden. Sie wird jedoch erst 1958 veröffentlicht, mit einer Widmung – Für Anne seit 192194– und einem Vorwort, das die Absichten der Autorin erhellt, ohne den wirklichen Umfang zu offenbaren. »Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.«95 Diese anspielungsreiche Erklärung führt in ein überraschend dichtes Werk ein, mit zahlreichen Details, die Rahel ihren Briefen und intimen Tagebüchern anvertraut hatte. Zwischen philosophischen Reflexionen über das Gefühlsleben einer Frau, die Schwierigkeit, Jude, und noch mehr, Jüdin zu sein, die geistige Berufung, die Zwänge und politischen oder sozialen Entscheidungen zitiert die Autorin Rahel oft ohne Anführungsstriche. Weit davon entfernt, eine Osmose mit ihrer Heldin einzugehen, scheint Arendt eher mit ihr abzurechnen: Ein nahestehendes Wesen, ein alter ego, das Hannah ohne Zweifel niemals sein konnte, doch dessen Bedrohung sie fühlt und in bestimmten vertrauten Tiefen aufspürt, mit einer ebenso unbarmherzigen wie komplizenhaften Strenge und Hartnäckigkeit.
Das Kaleidoskop dieser Schreibweise ist gewiß weder eine Beichte noch eine »romanhafte Autobiographie« – so frei auch heute die Varianten dieser formenreichen Gattung sein mögen –, sondern viel eher ein handelndes Beispiel: Der »besondere Fall« Rahels wird von der Autorin behandelt, ja manipuliert in einer Art Inszenierung oder Szenario, das die Verbundenheit ebenso wie die Trennungen zwischen Heldin und Dramaturgin zu sehen gibt.
Ein Beispiel im Kantischen Sinne des Begriffs, auf den Arendt in ihren späteren Arbeiten zurückkommt: nicht ein »Fall«, der einen abstrakten Begriff veranschaulicht, sondern ein Individuum oder ein Ereignis, das die Phantasie anregt. »Das Beispiel ist das Besondere, das einen Begriff oder eine allgemeine Regel in sich enthält oder von dem angenommen wird, daß es sie enthält [so der heilige Franziskus, Jesus von Nazareth oder Napoleon]. […] Die Gültigkeit dieses Beispiels wird auf diejenigen beschränkt bleiben, die die besondere Erfahrung ›Napoleon‹ besitzen, entweder als seine Zeitgenossen oder als Erben dieser besonderen historischen Tradition. Die meisten Begriffe in den historischen und politischen Wissenschaften sind von solch eingeschränkter Art; sie haben ihren Ursprung in einem besonderen historischen Vorfall, und wir gehen hin und machen diesen dann ›exemplarisch‹ – um in dem Besonderen das zu sehen, was für mehr als einen Fall gültig ist.«96 Das Leben Rahels wurde in diesem Sinne ein »Beispiel« und verwandelte sich in ein echtes Laboratorium des politischen Denkens Arendts, die im Kontakt mit diesem »Besonderen«, dessen »historische Tradition« sie teilt, ihre künftigen Begriffe schmiedet.
Das Laboratorium ist nichtsdestoweniger ein Schauspiel, bei dem die Drahtzieherin Arendt die Strippen zieht, ohne sich zu verheddern, wie sie es als Sechsjährige tat. Als vorzügliche Schauspielerin erinnerte Arendt ihre Zeitgenossen an die berühmte Sarah Bernhardt oder die Berma von Proust, »eine herrliche Diva der Bühne«, eine »Erd- oder Flammengöttin eher als eine Luftgöttin«, die in ihren Vorträgen das Drama des Geistes und die Dynamik des Denkens sehen ließ: »Ihr zuschauen, wie sie sich an ein Publikum wandte, hieß die Bewegung des sichtbar gewordenen Geistes in den Handlungen und Gesten wahrnehmen«.97 Das Schauspiel war Hannah Arendt im Grunde wesentlich, aber mehr noch war seine Heldin dafür geeignet, besessen wie sie war nach sozialer Sichtbarkeit und Zeichen der Anerkennung: »Sie [Rahel] trägt mit sich die ungeheuerliche Prätention herum, das ›Schlachtfeld‹ selbst zu sein, das stumm ist, nichts als Schauplatz, und darum der eigentliche Zusammenhang. […] Sie will sich nicht mehr verstricken lassen, will selbst der Grund und Boden sein, der unwandelbar alles in sich aufsaugt…«98
Abgesehen von diesem Charakterzug hat Arendt gute intellektuelle Gründe, die Bühne zu lieben: Für sie ist das »Erscheinen« nicht nur die Art und Weise des Handelns par excellence, sondern auch der beste Raum, um jenen eine Möglichkeit wahrhaftigen Urteils zu bieten, die an der Handlung nicht teilnehmen, sondern sich damit begnügen, sie zu beobachten. So teilt sie auch die Meinung von Kant, der im französischen Volk den Zuschauer der Revolutionäre mehr als die Revolutionäre selbst bewunderte und dessen beobachtende Sympathie aus der Revolution ein »›Phänomen‹ machte, das ›unvergeßlich‹ war oder, mit anderen Worten, die sie zu einem öffentlichen Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung machte. Was also den zu diesem besonderen Ereignis gehörenden öffentlichen Bereich bildete, waren nicht die Akteure, sondern die Beifall spendenden Zuschauer.«99
Eben in dieser Mischung von Zu-Sehen-Geben und teilnehmender Distanz entwickelt die Biographin Arendt ihr Urteil. Obwohl die psychologische Erkundung real und beharrlich ist, wird sie ständig zugunsten des politischen Essays zurückgenommen: Die Autorin verleugnet die Identifizierung mit ihrer Heldin, von der sie sichtlich geleitet wird, und diskreditiert die Introspektion (die mit oder ohne Anführungsstriche allein Rahel zugeordnet wird), um den ausschließlich interpretierenden Stil einer um eine Soziologin verdoppelten Psychologin anzunehmen.
Eine ungewöhnlich Gattung, diese Lebensgeschichte. Arendt wird sich nicht nochmals an sie wagen, von Anfang an kennzeichnet sie jedoch ihre ungewöhnliche Fähigkeit als Theoretikerin. Im Gegensatz zu der von Heidegger zu Beginn einer Aristoteles-Vorlesung formulierten Idealvorstellung des Denkers – »Er wurde geboren, arbeitete und starb«, womit er nahelegte, daß die Person des Philosophen zugunsten seiner Philosophie zurücktreten müsse –, skizziert Arendt in diesem Rahel entliehenen »Beispiel«, in dem sie ihr persönliches Urteil ausagiert, ein in ihren späteren Schriften unsichtbares Theater des Denkens. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin offenbart jedoch die prägnante Logik, die in den künftigen Texten erkennbar wird. Schreibt sie nicht anderswo, in Vita activa, zu dieser Gattung, die sie mehr als alle anderen liebte: »So ist das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence: nur in ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, daß sie sich der Kunst eignet. Zugleich ist das Schauspiel die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet.«100
Aber warum Rahel?
Tochter eines Juweliers aus wohlhabendem, jedoch nicht wirklich reichem jüdischen Milieu, war Rahel Levin (1771–1833) weder schön noch attraktiv. Sie lebte angenehm und kam in den Genuß des Philosemitismus Friedrich II. von Preußen, bevor sie unter der Feindseligkeit der Bourgeoisie und des Adels litt. Mit der Änderung des Regimes 1810 entfachten die Gedanken der Aufklärung, die bestimmte Forderungen nach Gleichheit propagierten, aber auch der Nationalismus einen latenten Antisemitismus. An Literatur und Philosophie sehr interessiert, ohne selbst Autorin zu sein, war es Rahel gelungen, in ihrer Mansarde in der Jägerstraße in Berlin zwischen 1790 und 1806 einen der glänzendsten romantischen Salons zu gründen. Ihn besuchten die Brüder Humboldt sowie Friedrich Schlegel, Friedrich Gentz, der Pastor Schleiermacher, Prinz Louis-Ferdinand von Preußen und seine Geliebte, Pauline Wiesel, der Hellenist Friedrich August Wolf, Jean Paul, Brentano, die Brüder Ludwig und Friedrich Tieck, Chamisso, Fouqué und andere … Sie empfing Goethe, nachdem es ihr gelungen war, einen Brief vom großen Dichter zu erhalten, der bereit war, sie zu besuchen. Außer ihrem Salon verdankte sie ihren Briefen und Tagebüchern eine gewisse Bekanntheit, die teilweise von ihrem Gatten August Varnhagen unter dem Titel Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde in drei Bänden veröffentlicht wurden (1834).
Faszinierend und enervierend gibt sich Rahel Levin zunächst einer Leidenschaft des Lebens hin, das sie als eine Art weltliche Mystik empfindet. Sie wechselt zwischen pathetischer Sensibilität und Selbstvergessenheit in verliebter Hingabe, sie preist den Schmerz oder auch die Natur, und schließlich patriotische Engagements. Schließlich kehrt sie gegen Ende ihres Lebens zu ihren zuvor abgewerteten jüdischen Ursprüngen zurück. »Worauf es ihr [Rahel] ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es sie treffen konnte ›wie Wetter ohne Schirm‹ (›Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.‹) […] Was ihr zu tun verblieb, war ein ›Sprachrohr‹ des Geschehenen zu werden, das Geschehene in ein Gesagtes umzuwandeln. Dies gelingt, indem man in der Reflexion sich selbst und anderen die eigene Geschichte immer wieder vor- und nacherzählt; […] ›Mir aber war das Leben angewiesen.‹ Das Leben so zu leben, als sei es ein Kunstwerk…«101
Das war nach Arendt das Credo Rahels, die den Kult der außergewöhnlichen, vollkommenen und androgynen romantischen Persönlichkeit erfüllen wollte, eine Absicht, die Hannah Arendt für den »großen Irrtum« hält, »den Rahel mit ihren Zeitgenossen teilte«102. Obwohl sie ihr Buch als einen Beitrag zur Geschichte der deutschen Juden in der Perspektive der Vernichtung der Judenheit kurz vor Hitlers Machtergreifung beschreibt, greift Arendt die Akzente des Plädoyers für ein schicksalhaftes Leben auf, das in ihrer Dissertation über die Liebe bei Augustin erkennbar geworden ist. Gegen Rahel betont sie die Notwendigkeit, »die eigene Person wichtiger und ernster zu nehmen« als »das Leben und die Geschichte, die es den Lebendigen diktiert«, und versucht, das Schicksal einer Person am Kreuzweg des »menschlichen Lebens« und des »geistigen und weltlichen Lebens« herauszuarbeiten: »Ich habe […] hier nur einen Aspekt der Problematik der Assimilation behandelt, nämlich die Art und Weise, in der das Sich-Assimilieren an das geistige und gesellschaftliche Leben der Umwelt sich konkret in einer Lebensgeschichte auswirkte und so zu einem persönlichen Schicksal werden konnte.«103
Obwohl sie die psychologischen Einzelheiten der verschiedenen Leidenschaften ihrer Heldin herausstellt, beschreibt Arendt das Pathetische, das sie zugleich fasziniert und abstößt, nicht als individuelle Pathologie: keinerlei Anspielung auf Hysterie, Depression oder Paranoia. Arendt nimmt die Klage Rahels zur Kenntnis, die oft »meine infame Geburt«104 beklagt, und interpretiert dieses Schicksal, das von der Romantik und der deutschen Geschichte geprägt ist, unter dem Blickwinkel der Tragödie der Assimilation.
Sie benutzt die Begriffe des Paria105 und des Parvenü ebenso wie die des bewußten Paria und des unbewußten Paria106, die Kurt Blumenfeld entliehen sind, jedoch von Bernard Lazare (1865–1903) stammen. Der Rechtsberater der Familie Dreyfus, Freund von Péguy und Autor von L’Antisémitisme, son histoire et ses causes (1894), erklärte die Zunahme des französischen Antisemitismus durch »den Sieg des weltlichen über den christlichen Staat. Die Kirche machte die Juden und die Häretiker verantwortlich für ihre Niederlage […] und begann Israel anzugreifen […]. Die Demokratie ließ den Antisemitismus anwachsen, ohne gegen ihn zu protestieren.«107 Er verwarf kategorisch die Assimilierung (»Für sie, für die Völker, in deren Mitte sie leben, müssen die Juden Juden bleiben«, um am »menschliche[n] Werk teilzunehmen und sie selbst zu bleiben, die eigene Persönlichkeit zu bewahren und ihre edlen Fähigkeiten zu entwickeln«. »Welche Lösung? Zionismus? Aufrechterhaltung des intellektuellen Typus.«108). Dabei grenzte er sich vom offiziellen Zionismus Herzls ab. Später wird Arendt in einer bezeichnenden Studie, »Herzl und Lazare«, Partei für Lazare ergreifen.109 Der bewußte Paria, nach Bernard Lazare »Träger einer verborgenen Tradition, genährt vom Ehrgeiz und der Größe der Verfolgten«, muß die Vorrechte des Schlemihls110, der sich in die Natur und die Kunst flüchtet, aber auch den »Parvenu« als eine »Fäulnis«111 verwerfen, die uns »vergiftet«, und durch die Revolte ein unterdrücktes Volk und seine Nation verteidigen. Mit diesem Schlüssel ausgestattet, entreißt sich Arendt dem Psychologismus und gelangt, gleichwohl ohne die Fallen der Verleugnung, der Projektionen und der mehr oder weniger unfreiwilligen oder unbewußten Geständnisse zu vermeiden, durch die Vermittlung Rahels zur Überwindung ihrer eigenen psychischen Qualen und zur Erarbeitung eines politischen Denkens, das in der Erfahrung verwurzelt ist. So erscheint das Buch letztlich als wahre Geschichte ihres politischen Denkens, im etymologischen Sinn, an den sie gern erinnerte – vom griechischen Wort histor: jener, der urteilt, sofern er sich als sensibler Zuschauer an exemplarische Ereignisse hält.
Dieser Ursprung des Werkes erklärt die Hartnäckigkeit, mit der sich Arendt noch lange nach dem Krieg bemühte, durch deutsche Gerichte die Lebensgeschichte einer deutscher Jüdin aus der Romantik als Habilitationsarbeit anerkennen zu lassen. Sie führte einen Schadensersatzprozeß gegen die Regierung Westdeutschlands und machte dabei die Tatsache geltend, daß sie ihre Habilitationsarbeit fast abgeschlossen hatte, bevor sie Deutschland 1933 verließ, diese allerdings auf Grund der ablehnenden Haltung der damaligen akademischen Kreise gegenüber Frauen, zumal Jüdinnen, nicht verteidigen konnte. Obwohl sie von Jaspers – der allerdings in seinen vorangegangenen Briefen das Buch streng beurteilte und sogar von seiner Veröffentlichung auf Deutsch abriet112 – ebenso wie durch Benno von Wiese unterstützt wurde und sich darauf berief, daß ihr Text von Heidegger und Dibelius gewürdigt worden war, stieß Arendt 1967 auf eine erste Ablehnung; doch schließlich gelang es ihr, im November 1971 ein positives Urteil des Gerichtes zu erwirken. Unter dem Datum vom 1. Juli 1933 als habilitiert anerkannt, erhielt sie eine Ausgleichszahlung und ein seit 1933 anwachsendes Gehalt.113 Ein derartiges Verfahren betont den symptomatischen Aspekt des Werkes und verwurzelt es noch leidenschaftlicher in der Biographie Arendts.
Die jüngste amerikanische Ausgabe des Buches zeigt, daß Arendt ihre Heldin einigen Korrekturen unterworfen hat: Sie berichtigt die Irrtümer von August Varnhagen, der Sätze strich oder jüdische Namen der Korrespondentinnen seiner Frau beseitigte, um ihre Schriften »respektierlicher« zu machen, doch weist sich Arendt selbst eine Art »Gattenrolle« zu, indem sie andere Streichungen durchführt.114 Sie verschweigt insbesondere die Tatsache, daß Rahel, obwohl sie ihre jüdische Herkunft kurz vor ihrem Tod annahm, ihrem neuen christlichen Glauben jüngeren Datums treu blieb. Hannah Arendt selbst wird ihre ursprüngliche Bindung an die christliche Theologie, von der sie sich in den Kriegsjahren entfernt hatte, erst in den eindringlichen Seiten des zweiten Bandes vom Leben des Geistes, das Wollen115, neu bewerten. Gemeinsam mit Rahel geht es unter dem Druck der Ereignisse darum, die Assimilierung unter dem Aspekt zweier Versuchungen zu brandmarken: des Katholizismus und des Universalismus der Aufklärung. Wie kann man als Staatsbürgerin handeln, ohne das Judentum zu verraten? Frau und Jüdin sein: sich nicht selbst verlieren, aber auch nicht die Seinen verlieren? Sich der Kultur der Aufklärung, der Philosophie romantischer Inspiration, der deutschen Anziehungskraft, sich selbst entreißen? Diese Wiedergeburt vollzieht Hannah Arendt, indem sie liebevoll ins Fleisch … einer anderen schneidet.
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